Atalanta Bergamo, die Überraschungsmannschaft in der Champions League, muss ihr bedeutendstes Spiel ohne ihren wichtigsten Spieler bestreiten. Josip Ilicic weilt aus persönlichen Gründen in seiner Heimat Slowenien, lässt sein Verein ausrichten. Was harmlos klingt, ist ernst und traurig: Die Corona-Pandemie und ihre Begleitumstände haben den 32-Jährigen offensichtlich in dunkle Zeiten zurückbefördert.
Bloß keine Schwäche zeigen, bloß nicht zerbrechlich wirken, es ist ein Geschäft und ein Geschäft muss immer laufen. Josip Ilicic kennt solche Sprüche, er zählt mit 32 ja schon zu den älteren Hasen und weiß, dass Tausende auf ihn schauen, die erwarten, dass er Woche für Woche liefert.
Ilicic aber befindet sich an einem Punkt, an dem er nicht mehr liefern kann. Aller Wahrscheinlichkeit auch nicht im Champions-League-Viertelfinale am 12. August, wenn das kleine Atalanta Bergamo das große Paris Saint-Germain (Anstoß 21 Uhr) fordert. "Wir müssen die restliche Saison ohne ihn planen", sagt Gian Piero Gasperini, der Trainer der italienischen Überraschungsmannschaft. "Josip ist in einer sehr schwierigen Lage."
In ganz Italien machen sie sich große Sorgen um Ilicic, der sich seinem Verein zufolge in seiner slowenischen Heimat aufhält. Zuletzt stand er am 11. Juli auf dem Rasen, beim 2:2 gegen Juventus. Die restlichen sechs Spiele in der Serie A verpasste er. Warum genau, ist nicht bekannt. Gasperini sagt nur: "Wir stehen ihm bei." Es wanderten zunächst Gerüchte durch die italienische Klatschpresse, der Stürmer habe seine Frau "in flagranti" mit einem anderen Mann erwischt und sei daraufhin wutentbrannt aus Bergamo abgereist, um nachzudenken über den Sinn seines Lebens, das mit so vielen Reisen und so wenig Zeit für die Familie verbunden ist.
Josip Ilicic verachtet das Trara rund um das Spiel
Diese Gerüchte wurden inzwischen von slowenischen Medien dementiert, wären aber wohl ohnehin zu simpel gewesen, um einen wirklichen Erklärungsansatz für Ilicics rätselhaften Rückzug zu formulieren. Wer ihn schon einmal reden gehört hat, der weiß, was er für ein Mensch ist: ein leiser, in sich gekehrter, nur ungerne im Mittelpunkt stehender. Ein Anti-Star, wenn man so will, dem es nur um das Spiel geht, ohne all das Trara rundherum.
"Es gibt zwei Dinge, die mich an diesem Sport nerven: Aufwärmen und Managerspiele wie Fantasy Football. Wir spielen Fußball, für die Fans, für das Team, für uns. Das muss doch reichen", sagte er einmal. Wegen seines launischen, altmodischen, laut Gasperini teils schläfrigen Gemüts nennen sie ihn bei Atalanta "la nonna", die Großmutter.
Ohne Josip Ilicic stünde Atalanta nicht im Viertelfinale
"Er wirkt oft geschlaucht, wenn er ins Training kommt", sagte Gasperini vor knapp drei Jahren, als der damals vom AC Florenz verpflichtete Ilicic seine erste Saison in Bergamo spielte. "Wenn man ihn dann fragt, wie es ihm gehe, antwortet er immer mit 'schlecht, schlecht' und schaut verdrossen drein."
Sein Gemütszustand besserte sich fortan mit seinen Leistungen auf dem Platz. Spätestens seit der Saison 2018/19 ist er einer der, wenn nicht sogar der Fixpunkt in Atalantas offensivfreudiger Elf. Allein in dieser Spielzeit war er an 30 Pflichtspieltreffern beteiligt, vier davon erzielte er beim furiosen 4:3-Sieg im Champions-League-Achtelfinale gegen den FC Valencia Mitte März, womit er Atalanta überhaupt erst den historischen Einzug in die Runde der letzten Acht ermöglichte. Dann aber brach die Corona-Pandemie über Italien herein und das hamsterradähnliche Fußballgeschäft rückte auf einen Schlag in den Hintergrund.
Ilicic verbrachte im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen den Lockdown mit seiner Frau Tina und seinen Töchtern Sofia und Victoria in Bergamo, eine der am schlimmsten vom Virus heimgesuchten Städte des Landes und ist seitdem nicht mehr der von Sorgen befreite Torjäger, der er zuvor zu sein schien. La Gazzetta dello Sport schreibt, er habe einen "psychologischen Kurzschluss" erlitten, LaReppublica berichtet von einem "Rückfall in dunkle Zeiten".
Atalantas Held ist offensichtlich wieder der Junge, der in seinem Leben durch zahlreiche Tiefen gehen musste, ehe er die Möglichkeit bekam, ein Teil dieser Millionenindustrie zu werden. Der Junge, der in der vom Krieg heimgesuchten Stadt Prijedor in Bosnien-Herzegowina groß wurde und seinen Vater verlor, als er sieben Monate alt war.
Kriegsflucht und Selbstzweifel: Die harte Jugend von Josip Ilicic
Etwas mehr als drei Jahre später, 1992, kam es durch serbische Milizen dann auch noch zu einem grausamen Massaker in Prijedor, bei dem hunderte Kroaten und Bosnier starben. Ilicic floh mit seiner Mutter Ana und seinem älteren Bruder Igor nach Slowenien, wo er fortan seine restliche Jugend verbrachte. In Frieden und mit der Gelegenheit, sein fußballerisches Talent zu entfalten, ja. Aber auch mit Problemen.
Sein zweiter Profiverein, Interblock Ljubljana, deklarierte ihn nach einem Abstieg in die zweite slowenische Liga zu einem der Sündenböcke und verbannte ihn in die Reservemannschaft. Ein schwerer Rückschlag mit Anfang 20. Ilicic dachte, geplagt von Selbstzweifeln, sogar über ein frühes Karriereende nach. Dazu kam es nicht, weil andere den Glauben an ihn nicht verloren hatten.
Ein Angebot von NK Maribor, dem bekanntesten Verein Sloweniens, veranlasste ihn dazu, sich eine zweite Chance zu geben. Eine Chance, die er innerhalb von nur elf Spielen nutzte, um in Europas Elite und zu unerwartetem Wohlstand zu gelangen. Ilicic überzeugte in der Europa-League-Qualifikation gegen US Palermo nämlich so sehr, dass die Italiener ihn Ende August 2010 kurzerhand für 2,3 Millionen Euro unter Vertrag nahmen. Maribor hatte Anfang Juli gerade einmal 80.000 Euro für ihn bezahlt. Es war der Beginn einer Erfolgsgeschichte.
imago images / Gribaudi/ImagePhoto"Unersetzlich": Josip Ilicics Ausfall trifft Atalanta ins Mark
Bei Palermo musste Ilicic zunächst auf dem rechten Flügel ran, blühte aber erst auf, als Javier Pastore den Verein verließ und ihm die Position des klassischen Spielmachers überließ. Eine ähnliche Rolle bekleidete er auch bei der Fiorentina, seiner zweiten von drei Stationen in Italien.
Im Team von Atalanta ist er meist neben Papu Gomez und/oder Duvan Zapata in der Spitze zu finden. Ilicic gehört aber nicht der Sorte Stürmer an, die man als "gewöhnlich" definieren würden. Seine Statur ermöglicht es ihm, den Ball problemlos festzumachen und zu verteilen. Er ist für seine Größe von 1,90 Metern aber erstaunlich trickreich, sein Spiel steht für Unvorhergesehenes.
"La nonna" versucht es aus allen Lagen, außer Cristiano Ronaldo gibt kein Spieler in der Serie A im Schnitt so viele Schüsse ab wie er. Zur Not trifft er, wie beim 7:0 gegen den FC Turin Ende Januar, auch von der Mittellinie aus. "Seine Kreativität", meint Trainer Gasperini, "kennt keine Grenzen". Ilicic sei "unersetzlich", so wie Ciro Immobile für Lazio, Paulo Dybala für Juventus oder Romelu Lukaku für Inter.
"Was, wenn ich morgen meine Familie nicht mehr sehe?"
Umso bitterer ist sein Ausfall im Champions-League-Viertelfinale gegen PSG. Im Leben dreht sich aber nun einmal nicht alles um Fußball. Das merkte Ilicic schon im Sommer 2018, als ihn eine Lymphknotenentzündung im Hals heimsuchte und zu einem einwöchigen Aufenthalt im Krankenhaus zwang.
"Andere Menschen lagen deshalb schon im Koma. Mir ging es schrecklich und ich kam wirklich an einen Punkt, an dem ich Angst bekam", berichtete er hinterher. "Ich dachte mir vor dem Einschlafen: Was, wenn ich morgen nicht mehr da bin? Was, wenn ich morgen meine Familie nicht mehr sehe?"
Fragen, die ihn womöglich auch während des Lockdowns beschäftigten, als er täglich mit dem Leid in Norditalien konfrontiert wurde - und seitdem nicht mehr losließen. "Wir umarmen Josip", sagt Gasperini. In der Hoffnung, dass er überhaupt noch einmal nach Bergamo zurückkehrt.
Josip Ilicic im Steckbrief
geboren | 29. Januar 1988 in Prijedor, Bosnien-Herzegowina |
Größe | 1,90 m |
Gewicht | 79 kg |
Position | Sturm (hängende Spitze, rechte Außenbahn) |
starker Fuß | links |
Profistationen | NK Bonifika, NK Interblock, NK Maribor, US Palermo, AC Florenz, Atalanta Bergamo |
Pflichtspiele/-tore/-vorlagen | 423/129/70 |