Rolf Bantle ging 2004 bei einem Duell seines FC Basel bei Inter Mailand verloren und tauchte erst 2015 wieder auf.
Im Stadion noch schnell auf die Toilette und dann seine Freunde nicht gleich wieder finden - welcher Stadiongänger kennt diese Situation nicht? Was sich aber normalerweise binnen Sekunden oder Minuten wieder einrenkt, dauerte beim Schweizer Fußball-Fan Rolf Bantle etwas länger.
Nach dem Spiel seines FC Basel in der Qualifikationsrunde zur Champions League bei Inter Mailand am 24. August 2004 verlor sich die Spur des damals 60-Jährigen. 2015 tauchte er nach mehr als elf Jahren mit einer kuriosen und zugleich beeindruckenden Geschichte wieder in seiner Heimatstadt auf.
"Ich war plötzlich in einem ganz anderen Sektor" erklärte Bantle der Schweiz am Sonntag die Situation nach Spielende, bei der er mehr oder weniger verlorenging. Kurz vor dem Abpfiff machte er sich im San Siro auf dem Weg zur Toilette und verlor in den zu tausenden aus der Arena strömenden Menschenmassen die Orientierung. Da er seine Freunde nicht mehr auffinden konnte, beschloss er, sich auf eigene Faust in Richtung des Autos zu machen, mit dem die Gruppe angereist war.
Doch auch dieser Versuch scheiterte in den dicht bebauten Straßenschluchten im Westen der norditalienischen Großstadt. Da er auch nicht im Besitz eines Mobiltelefones war, blieb er mit 20 Euro und 15 Franken in seinem Portemonnaie zurück. "Das würde für ein paar Tage reichen", gab Bantle Einblick in seine Gedanken von damals.
Nur blieb es nicht bei ein paar wenigen Tagen. Die Zeit verstrich, Bantle blieb in der Stadt: Aus Tagen wurden Wochen, Monate, Jahre, ja am Ende gar ein Jahrzehnt. Der Bezirk Baggio, wie San Siro auch im Westen der Stadt gelegen, wurde zu seinem Zuhause.
Verkorkste Kindheit und schwieriges späteres Leben
Doch warum versuchte er nicht alles Menschenmögliche, um in seine Heimat zurückzukehren? Die Antwort suchte Bantle in seinem Lebenslauf: Seinen Vater hat der in Basel geborene Fußballfan nie gekannt. Seine alleinerziehende Mutter war mit ihm als Einzelkind und ihrer Arbeit schlicht überfordert. Nachdem er kurz die Primarschule besuchte, wurde er von den Behörden von seiner Mutter getrennt und einer Pflegefamilie zugewiesen. "Die Behörden bestimmten das", sagte er: "Meine Mutter musste arbeiten und hatte keine Zeit für mich."
Die Zeit in der Pflegefamilie muss nicht ganz einfach gewesen sein, eine Ausbildung machte er nicht, stattdessen versuchte er sich als Tagelöhner im Gartenbau. Da er in dieser Phase seines Lebens immer mehr in die Alkoholsucht abdriftete, stellte ihn die Stadt Basel unter Vormundschaft. Bantle hatte seinen Platz in der sozialen Gesellschaft nie finden können und lebte fortan in verschiedenen Heimen. "Damals hatte ich in meinem Leben eigentlich gar nichts zu sagen, das hat jeweils alles der Vormund befohlen. Ganz frei war ich eigentlich nie", verriet Bantle im Interview mit dem Schweizer Onlineportal watson.ch.
"In den Heimen fühlte ich mich eingeengt"
So klingt sein Verschwinden an eben jenem 24. August 2004 vielleicht auch etwas weniger wundersam. "In den Heimen fühlte ich mich eingeengt", so Bantle weiter, der gesteht: "Die plötzliche Freiheit gefiel mir."
In Baggio wurde er schnell eine lokale Bekanntheit: "Rudi" riefen ihn die dort lebenden Menschen schnell. Freundschaften und soziale Kontakte schloss er in den örtlichen Bibliotheken. Dass er so gut wie nicht auf betteln angewiesen war, verdankte er der Hilfsbereitschaft der Einwohner Baggios, die ihm Zigaretten, Kaffee, Wein und Essen vorbeibrachte.
Während dieser Zeit war er schon längst als vermisst gemeldet. Bereits wenige Wochen nach seinem Verschwinden waren die Behörden in der Schweiz auf der Suche nach ihm, stellten die Fahndung im Laufe der Jahre wegen Erfolglosigkeit ein. Offiziell als verschollen wurde Bantle am 29. September 2011, über sieben Jahre nach seinem Verschwinden gemeldet.
gettyLa Dolce Vita in Bella Italia
Bantle lebte währenddessen in der Metropole seine ganz eigene Interpretation von "La Dolce Vita". Hart wären lediglich die Winter gewesen, erinnert sich der lang Verschollene heute. "Doch dann schenkte mir eine Student einen Schlafsack. Das war die Rettung." Geduscht hat er während dieser Zeit mindestens einmal in der Woche in einer öffentlichen Sanitäreinrichtung.
Wie stark Bantle gesucht wurde, ist nicht ganz klar. "Interpol jedenfalls hat mich nicht gesucht", sagte der 71-Jährige watson.ch: "Ein einziges Mal bin ich von einer Polizistin kontrolliert worden an dem Platz in Baggio, wo ich immer gesessen habe. Der habe ich die ganze Geschichte erzählt und auch gesagt, wie lange ich schon in Italien sei und dass ich keinen Ausweis habe. Dann hat sie ein bisschen telefoniert, ist wieder aus dem Auto ausgestiegen und hat gesagt: 'Va bene, arrivederci!'
Dass die Polizistin nichts weiter unternommen hat, lag wohl auch daran, dass Bantle nie straffällig wurde, wie er gegenüber der Schweiz am Sonntag beteuert: "Ich bin ein friedlicher Mensch, habe nie Seich gemacht."
Ein Unfall und die Rückkehr
Dass er schließlich nach über zehn Jahren aufgefunden wurde und sein Leben als "Lonesome Rider" ein Ende nahm, wurde durch einen kleinen Unfall ausgelöst. Im April 2015 verlor er auf einem Bürgersteig das Gleichgewicht, rutschte aus und brach sich den Oberschenkel.
Von der Ambulanz in ein Krankenhaus gefahren, stellte sich raus, dass der Mann nicht versichert war und so organisierte das Schweizer Konsulat in Mailand einen Krankentransport ins Universitätskrankenhaus in Basel. Dort wurde schließlich auch seine Identität festgestellt. Zurück in der Schweiz lebte der Rentner in einem Altenheim, wo es ihm auch gefällt. "Zehn Jahre sind genug", sagt er bei watson.ch abschließend über sein Leben in Bella Italia.
Am 15. September 2015 wurde seine Verschollenenerklärung endgültig aufgehoben.