Alarm für Orangener Oktober

Benjamin Wahlen
08. Oktober 201512:01
Erik Meijer (l.) ist ein ehemaliger Profi und heutiger Fußball-Experte spox
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Vor den Spielen gegen Kasachstan (Sa., 18 Uhr im LIVETICKER) und Tschechien hat die Niederlande die Qualifikation für die Europameisterschaft nicht mehr in der eigenen Hand und ist auf einen Patzer der Türkei angewiesen. Die Probleme im niederländischen Fußball sind vielschichtig, eine schnelle Lösung nicht in Sicht. SPOX analysiert fünf Fragen mit Elftal-Experte Erik Meijer.

Welche Rolle spielen die Trainerwechsel?

Kurzsichtige Planungen kann man dem niederländischen Fußballverband nicht vorwerfen, im Gegenteil. Schon Anfang 2014 wurde bekannt gegeben, dass Louis van Gaal das Amt des Bondscoachs nach der WM an Guus Hiddink übergeben würde - unabhängig vom Abschneiden in Brasilien. Hiddink, der bereits zwischen 1995 und 1998 an der Seitenlinie stand und Oranje 1996 ins EM-Viertel- und 1998 ins WM-Halbfinale führte, bezeichnete es "als große Ehre, zur niederländischen Nationalmannschaft zurückkehren zu können".

Schon damals vermeldete der Verband darüber hinaus, dass Hiddink den orangefarbenen Staffelstab nur für zwei Jahre tragen würde, um ihn nach der EM 2016 in Frankreich an Assistenz-Trainer Danny Blind weiterzugeben.

Anders als van Gaal, der das Team in Brasilien in einem 5-3-2 auflaufen ließ, kehrte Hiddink wieder zum traditionellen 4-3-3 zurück, vermochte es aber nicht, die Mannschaft in dieser Formation defensiv so zu stabilisieren, wie es seinem Vorgänger gelang.

Aus den zwei geplanten Jahren wurden 11 Monate, nach fünf Niederlagen in zehn Spielen übergab Hiddink bereits im Juni 2015 an Blind, dem man zusätzlich Marco van Basten zur Seite stellte. Das Resultat ist eine verunsicherte Mannschaft, die sich in keinem System mehr zu Hause fühlt, der es neben einer Grundordnung auch an jeglichem Selbstvertrauen fehlt.

Einschätzung Erik Meijer: Van Gaals Idee, bei der WM eine Fünferkette aufzubieten, wurde aus der Not geboren. Er hat frühzeitig erkannt, dass er die fehlende Qualität in der Hintermannschaft nur so abfangen konnte und hervorragend reagiert. Sieben Wochen lang hat er das System mit drei gelernten Innenverteidigern im Zentrum und zwei sehr offensiven Außenverteidigern einstudiert und etabliert. Spätestens nach dem Spiel gegen Spanien war klar, dass er die richtige Entscheidung getroffen hat.

Nachdem Hiddink übernommen hat, wollte dieser die vermeintlich leichte Qualifikations-Gruppe nutzen, um wieder zum 4-3-3 zurückzukehren. Das ist ihm nicht gelungen. Die Mannschaft spielte schlecht, die Resultate waren entsprechend. Dass Blind schon eher als geplant das Amt übernommen hat, war folgerichtig, obwohl ich sehr überrascht war, dass überhaupt so früh feststand, dass er spätestens 2016 hochrücken würde. Wir sind das einzige Land, das sich jemals so früh festgelegt hat, glaube ich.

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Seite 2: Blockieren die Altstars den Umbruch der Mannschaft?

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Seite 4: Spiegelt die Situation der Elftal die Entwicklung der Eredivisie wieder?

Seite 5: Wie ist die Stimmung im Land und innerhalb der Mannschaft?

Blockieren die Alt-Stars den Umbruch der Mannschaft?

Kaum eine Nation steht so sehr für die Entwicklung von Talenten wie die Niederlande. Die Jugend-Akademie von Ajax Amsterdam gilt als weltweit einzigartig. In der Champions-League-Saison 2005/2006 stellten die Spieler, die eine Ausbildung bei Ajax genossen hatten, den größten Anteil. Profis wie Dennis Bergkamp, Edgar Davis, Clarence Seedorf und Patrick Kluivert stehen sinnbildlich für die Ausnahme-Kicker aus den Niederlanden.

Zehn Jahre später muss man sich eingestehen, dass diese Entwicklung rückläufig ist. Drei der letzten vier Europameisterschaften verpasste Oranjes U21. Die Folge: Seit sechs bis acht Jahren geben die gleichen Gesichter den Ton in der Elftal an. Die Mannschaft ist abhängig von Altstars wie Robin van Persie und Wesley Sneijder, auch wenn diese ihren Zenit überschritten haben und das Team nicht mehr so tragen können, wie noch vor einigen Jahren. Ein Verjüngungs-Prozess findet aufgrund fehlender Alternativen allerdings nur sehr langsam und behäbig statt.

Zumindest in der Defensive ist dieser Schritt bereits in Ansätzen vollzogen worden, allerdings fehlt es schlichtweg an der Qualität. Jasper Cillessen ist ein durchschnittlicher Torhüter, vor dem eine junge und unerfahrene Viererkette agiert, die sich zu viele individuelle Fehler erlaubt. Daley Blind und Davy Klaassen sind im defensiven Mittelfeld nicht präsent genug und tauchen vor allem in engen Spielen unter.

Einschätzung Erik Meijer: Wenn van Persie und Sneijder ehrlich zu sich selber sind, müssen sie sich eingestehen, dass sie zwar noch gut sind, aber nicht mehr das Weltklasse-Niveau von vor vier oder fünf Jahren abrufen können. Das eigentliche Problem ist: Wir haben keine Jungs in der Hinterhand, um das aufzufangen.

Von Blockieren kann man also nicht sprechen. Gute, junge Spieler müssen die älteren zur Seite drängen - aber nicht umgekehrt. Es darf nicht sein, dass die etablierten Spieler die Jungs freiwillig vorbeilassen.

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Wie schwer wiegt der Ausfall Arjen Robbens?

Während Sneijder, van Persie und auch Klaas-Jan Huntelaar es nicht vermochten, ihre Klasse regelmäßig und vor allem in den entscheidenden Situationen abzurufen, ist Arjen Robben die einzige Konstante der letzten Jahre in der Nationalmannschaft. Bei der WM noch Führungsfigur, Antreiber und Topscorer der Elftal, stand er in der Qualifikation zur EM nur viermal auf dem Platz, beim 0:1 gegen Island musste er allerdings schon nach 31. Minuten verletzt ausgewechselt werden.

Auch wenn ein gleichwertiger Ersatz für einen Spieler wie Robben ohnehin nicht zu finden ist, fehlt es den Niederlanden schon an den Ansätzen. Zuletzt probierte Blind den jungen Luciano Narsingh auf dem rechten Flügel, der nach wirkungslosen 69 Minuten schon wieder Platz machen musste. Ohne Robben fehlt es Oranje an Durchschlagskraft, an Torgefährlichkeit und vor allem an Tempo.

Einschätzung Erik Meijer: Robben war für mich der beste Mann des Turniers in Brasilien. Wenn so ein Mann fehlt, tut das jeder Mannschaft weh. Wenn man ehrlich ist, hat er in der Qualifikation kaum stattgefunden. Das erste Spiel gegen Tschechien hat er verletzungsbedingt verpasst, am 5., 6. und 8. Spieltag war er dann wieder nicht dabei - genau wie jetzt in der entscheidenden Phase. SPOX

Es ist peinlich, das sagen zu müssen, aber aktuell hat die niederländische Nationalmannschaft überhaupt keine Möglichkeit, diesen Ausfall auch nur annährend abfangen zu können. Und dann stehst du eben da, wo Du jetzt stehst: Wir sind nicht gut genug, um gegen Mannschaften wie Island, Tschechien oder die Türkei zu gewinnen.

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Spiegelt die Situation der Elftal die Entwicklung der Eredivisie wieder?

Die Eredivisie ist im Vergleich zur Konkurrenz aus Spanien, Deutschland, Italien, England und Frankreich nur zweitklassig. Seit der Saison 2006/07 überstand kein niederländischer Verein mehr die Gruppenphase der Champions League, der letzte Titel in der Königsklasse (Ajax Amsterdam) liegt 20 Jahre zurück. Sogar in der Europa League, ehemals UEFA Cup, resultiert der letzte Erfolg aus dem Jahr 2002 (Feyenoord Rotterdam).

Der besondere Charme, den die Eredivisie einst verkörperte, ist Erfolglosigkeit und Existenz-Not gewichen. Die niederländischen Klubs sind nicht mehr in der Lage, das europäische Wettbieten von Etats und Spielergehältern mitzugehen. Zu gering ist das Potential von TV- und Vermarktungs-Einnahmen, manche Stadien fassen nicht mal 10.000 Zuschauer. Die Kluft zwischen den vier Top-Vereinen und dem Rest der Liga ist immens. Im vergangenen Jahr hatte Meister PSV Eindhoven 29 Punkte Vorsprung auf Rang vier.

Einschätzung Erik Meijer: Die niederländische Liga hat enorm an Qualität eingebüßt. Früher sahen Talente die Eredivisie noch als perfekte Entwicklungsmöglichkeit und gingen erst ab Anfang/Mitte 20 ins Ausland. Heute verlassen sie die Niederlande meist schon in jüngeren Jahren. Beim Kampf um ausländische Stars ist man zudem fast chancenlos.

Meist bleiben den Klubs nur die Spieler, die nicht gut genug für die Vereine in Deutschland, Spanien oder England sind. Aber "Best of the Rest" reicht heute einfach nicht mehr.

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Wie ist die Stimmung im Land und innerhalb der Mannschaft?

Die Niederlande sind eine stolze Fußballnation mit einer erfolgreichen Geschichte. Nicht viele Länder verfügen über ähnlich frenetische Fans, die ihrer Mannschaft in orangenen Scharen über den kompletten Globus folgen. Umso mehr rumort es nun ob der aktuellen Situation.

Nach der 0:3-Pleite gegen die Türkei schrieben die niederländischen Zeitungen vom "Witz Europas", von einer "ekelhaften Nationalmannschaft" und von "Versagern in orange". Im Land, das den Hohn der verpassten WM 2002 noch immer im Hinterkopf hat, hat sich eine Trotz-Stimmung breit gemacht.

Diese überträgt sich auf die Mannschaft. Ein Blick in die Gesichter der Spieler, die nach der Blamage in der Türkei auf dem Platz zusammensanken, sprach Bände: Ratlosigkeit, Leere, Verzweiflung, fehlender Teamgeist, die letzte Chance auf eine Qualifikation aus eigener Kraft verpasst. Auch wenn sowohl Blind als auch die Spieler vor der Partie gegen Kasachstan nicht um Kampfansagen verlegen waren, fehlte es vor allem auf dem Platz an Führung, an einem Leader. Daran, dass Oranje den Oktober 2015 als den Monat in Erinnerung behält, in dem sich die Elftal mit dem Rücken zur Wand doch noch in die Playoffs fightete, glauben in den Niederlanden derzeit die Wenigsten.

Einschätzung Erik Meijer: Die Stimmung ist zweifellos am Tiefpunkt angelangt. Dass wir den letzten Strohhalm in der Türkei auf so eine Art und Weise weggeworfen haben, ist einfach unglaublich und wird im Land nicht akzeptiert. Die Aufstockung von 16 auf 24 Mannschaften sollte die Qualifikation für die großen Teams zum Selbstläufer machen.

Heute müssen wir uns eingestehen, dass wir da aktuell nicht zugehören. So eine Situation sind wir Niederländer nicht gewöhnt. Nichtsdestotrotz muss jetzt jeder Vollgas geben. Wir haben die Schlinge schon um den Hals, sind aber noch nicht tot. Ich glaube nicht, dass die Türkei beide Spiele gewinnt - und dann müssen wir da sein.

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