Gonzalo Castro ist das Urgestein bei Bayer Leverkusen. 264 Bundesligaspiele hat der 27-Jährige schon auf dem Buckel - das ist in diesem Alter Rekord in der Bundesliga. Im Interview spricht Castro über den neuen Fußball der Werkself unter Trainer Roger Schmidt, Vor- und Nachteile seiner Flexibilität und seine Lust aufs Ausland.
SPOX: Herr Castro, Sie spielen jetzt schon seit 1999 bei Bayer Leverkusen und gehen bald in Ihre zehnte Saison als Profi. Wie empfinden Sie das als mittlerweile 27-Jähriger?
Gonzalo Castro: Die Belastung während der Vorbereitungszeit fühlt sich schon noch ähnlich an. Der Status ist mittlerweile natürlich ein anderer. Als ich mit 17 mein erstes Trainingslager bei den Profis absolvierte, wusste ich nicht, was auf mich zukommen wird. Damals habe ich mir eigentlich nur Gedanken darüber gemacht, wie ich beim Trainer einen guten Eindruck hinterlassen kann. Jetzt bin ich fast einer der Ältesten. Die Verantwortung ist eine andere, die Wahrnehmung innerhalb der Mannschaft auch. Ich bin jetzt selbstbewusster, aber selbstbewusst zu sein, muss man lernen.
SPOX: Zur neuen Saison gibt es bei Bayer einige Umwälzungen: Michael Schade ist der neue Klub-Boss, Roger Schmidt der neue Chefcoach, man hat neue Athletiktrainer verpflichtet. Wie wichtig war es nach dem letzten Jahr, dass nun ein neuer Geist in Leverkusen weht?
Castro: Der frische Wind tut uns gut, das ist für alle ein Vorteil. Man ist ja in den meisten Fällen gespannt auf etwas Neues und nimmt das dann anders wahr als zuvor. Wir haben diese Saison etwas anders eingekauft als zuletzt und uns gut verstärkt - auch außerhalb der Mannschaft. Die neuen Athletiktrainer sind dafür da, uns körperlich auf die neue Art des Fußballs, wie wir ihn künftig spielen wollen, vorzubereiten.
spoxSPOX: Roger Schmidt hat letztes Jahr bei Red Bull Salzburg mit einem Fußball aufhorchen lassen, der auf einer hohen Intensität und extremen Pressingverhalten fußt. Wie wird die Leverkusener Spielidee in der kommenden Saison aussehen?
Castro: Wir werden schon früh vorne anlaufen und Pressing spielen. Der Plan ist, fast nach jedem Ballverlust sofort ins Gegenpressing zu kommen und dem Gegner schon in dessen Hälfte Probleme zu bereiten. Dazu werden wir unser Tempo gerade bei den Läufen in die Offensive und Defensive um zwei Stufen erhöhen müssen. Das wird eine anspruchsvolle Aufgabe. Ich glaube aber, dass jeder Spieler besser konzentriert ist, wenn er mehrere Aufgabengebiete hat.
SPOX: Einen Fußball in dieser Ausprägung hat Leverkusen noch nie gespielt. Wie weit ist man momentan?
Castro: Klar, das ist für uns in jedem Fall eine ganz andere Herangehensweise als bislang und eine komplette Umstellung - vor allem, was die Intensität angeht. Da werden wir nochmal eine Schippe drauflegen müssen. Deshalb haben wir zuletzt sehr intensiv gearbeitet und fast jeden Tag zwei Mal trainiert. Die Mannschaft steht den Vorgaben des neuen Trainers aber sehr offen gegenüber. Ich denke auch, dass wir für diesen Fußball die richtigen Spieler in unseren Reihen haben.
SPOX: Wie geht der Trainer vor, um der Mannschaft seine Philosophie zu verinnerlichen: Läuft das meistens über Gespräche in Theoriesitzungen oder reicht es, wenn man auf dem Platz übt und wiederholt?
Castro: Theorie und Praxis sind dabei ausgewogen. Wenn man aber auf dem Platz steht, ist es etwas anderes als beim Gespräch. Die gegnerischen Spieler laufen unterschiedlicher als die eigenen Teamkollegen, die im Training ja auch gewisse Anweisungen bekommen, was die Laufwege angeht. Wir haben die Pressing-Bewegungen im Training zuletzt extrem oft eingeübt, damit wir ein Gefühl dafür bekommen, wann wir draufgehen müssen und wann nicht. Hingabe ist jetzt gefordert, der neue Fußball wird nur so funktionieren. Ich bin zuversichtlich, dass wir das bald automatisiert drin haben.
SPOX: Auch für Sie persönlich ist dies wieder etwas Neues, obwohl Sie schon so lange im Klub sind. Diese Vereinstreue, die Sie vorleben, gibt es heutzutage immer seltener. Entspricht das Ihrem Naturell oder hat sich dies auch einfach so ergeben?
Castro: Schwer zu sagen. Ich hatte schon immer den Plan, irgendwann einmal ins Ausland zu wechseln - vor allem nach Spanien. Ich würde gerne einmal etwas Neues sehen. Dass es bisher nicht dazu gekommen ist, liegt an Bayer Leverkusen. Ich fühle mich hier brutal wohl, meine Familie und ich sind mit der Stadt verwurzelt. Dazu spiele ich hier in einem richtig guten Verein, den ich sehr schätze. Und so sind bislang eben die ganzen Jahre zusammengekommen (lacht).
SPOX: Sie haben bereits über 250 Bundesligaspiele für Bayer absolviert, das hat in Deutschland in diesem Alter niemand geschafft. Dazu hat man Sie die Jahre über sehr flexibel eingesetzt, bis auf Torhüter und Innenverteidiger haben Sie eigentlich schon jede Position gespielt. Waren Sie immer glücklich mit Ihrer Variabilität?
Castro: Bis zu einem gewissen Punkt schon. Als junger Spieler nimmt man natürlich alles mit. Mir war jede Position recht, ich war froh, überhaupt im Kader zu stehen. Ab einem bestimmten Alter kam ich aber dazu zu sagen, dass mir die Verantwortung und um ehrlich zu sein auch der Spaß auf der Außenverteidigerposition zu wenig wurde. Seit längerer Zeit spiele ich jetzt regelmäßig im Mittelfeld und muss nicht mehr auf eine andere Position ausweichen. Dadurch wurde mein Spiel variabler, ich nehme aktiver am Geschehen teil und habe mehr Ballbesitz.
SPOX: Wird das unter dem neuen Trainer so bleiben?
Castro: Wir hatten gleich in der ersten Woche ein Gespräch. Er kam von sich selbst auf mich zu und meinte, dass er mich auch weiterhin im Mittelfeld sehen würde.
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SPOX: Ist es als Außenverteidiger grundsätzlich gar nicht möglich, eine größere Verantwortung für das Spiel seiner Mannschaft zu tragen?
Castro: Doch, das schon. Aber man ist eben in erster Linie an seine Defensivaufgaben gebunden. Man muss seine Seite dicht machen, das ist das oberste Gebot. Wenn man dann einen starken Gegenspieler hat, der einen defensiv bindet, wird es immer schwieriger, hoch zu stehen und die Bälle zu fordern. Ich bin von meinem Naturell her eher ein Spieler, der gerne jeden Ball haben möchte.
SPOX: Die vielen Spiele wurden für Sie auch deshalb möglich, weil Sie nie schwer verletzt waren. Welche Rolle spielt der Faktor Glück in der Karriere eines Profifußballers?
Castro: Eine sehr große. Der eine Spieler hat Pech, ein anderer ersetzt ihn. Das kann sehr schnell und unvorhergesehen passieren. Mit dieser Tatsache muss man sich im Fußball leider einfach abfinden. Als ich 17 Jahre alt war, hatte ich das Glück, dass der Trainer meinen Spielstil gemocht hat und sich zeitgleich ein paar Spieler verletzt hatten. Dann stand die Tür für mich offen.
SPOX: Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, ob Sie in Ihrer Karriere bislang mehr Glück oder mehr Pech hatten, beschäftigt das einen?
Castro: Nicht wirklich. Das bleibt ja unter dem Strich sowieso immer hypothetisch. Die Karrieren von Fußballern laufen immer sehr individuell ab. Man trifft zahlreiche Entscheidungen und weiß nie, ob man damit einen Volltreffer landet oder nicht. Der Umgang damit macht einen erfahrener, aber sich wegen irgendetwas zu grämen bringt einfach nichts. Es kann sein, dass ich mir am Ende meiner Karriere mal Zeit nehmen und darüber nachdenke werde, wann ich klügere Entscheidungen hätte treffen sollen. Wenn man noch aktiv spielt, fehlt einem dazu auch irgendwie die Zeit (lacht).
SPOX: Würden Sie sich wünschen, als Fußballer mehr Zeit zu haben, um Erfahrungen intensiver zu erleben und besser zu verarbeiten?
Castro: Klar. Die zehn Jahre, die ich jetzt schon bei Bayer Profi bin, sind wie im Flug vergangen. Schauen Sie sich die deutschen Weltmeister an: Der Erfolg steht jetzt zwar für immer auf deren Visitenkarte, aber vier Wochen nach dem Finale geht schon wieder das Tagesgeschäft los und man muss sich neu beweisen. Da hilft einem der WM-Gewinn nicht mehr weiter.
SPOX: Als es in der vergangenen Saison bei Bayer nicht mehr richtig rund lief, standen auch Sie am Pranger. Wieso ist das so, dass man in Krisenzeiten mit Spielern, die scheinbar zum Inventar des Klubs gehören, besonders hart ins Gericht geht?
Castro: Das ist eine Frage der Identifikation. In jedem Verein gibt es Spieler, die schon lange für den Klub spielen oder wie ich sogar aus der eigenen Jugend kommen. Mit ihnen identifizieren sich die Fans leichter und daher sollen diese Spieler auch Verantwortung übernehmen. Alle Spieler tragen in Zeiten, es denen es nicht laufen will, die Schuld. Aber man kann nicht 25 Spieler rausschmeißen. Daher konzentriert sich die Kritik eher auf die Erfahrenen, die bereits viele Jahre mit dem Verein auf dem Buckel haben. Das ist nicht immer total gerecht, aber dennoch irgendwo auch nachvollziehbar.
SPOX: Am Ende der letzten Spielzeit sagten Sie, Ihr Verbleib in Leverkusen hinge von einem Gespräch nach Saisonschluss ab. Wie kann man sich so etwas vorstellen?
Castro: Wir sind erst einmal alle in den Urlaub gefahren und haben die vergangene Saison abkühlen lassen. Danach habe ich Gespräche geführt, immer im Guten. Das läuft sehr freundschaftlich ab und hört sich für Außenstehende vielleicht dramatischer an, als es in Wirklichkeit ist. Ich sprach mit dem neuen Trainer, um zu erfahren, ob er mit mir plant und welche Vorstellungen er von mir hat. Ich habe mich auch mit Rudi Voller zusammengesetzt, den ich ja nun schon seit Jahren kenne und zu dem ich ein sehr gutes Verhältnis pflege.
SPOX: Verlassen haben Sie den Verein nicht. Was waren die Gründe dafür?
Castro: Der Trainer hat mich als Persönlichkeit und mit seiner Spielidee schon sehr positiv überrascht. Dass er dann noch auf mich setzt, macht die Sache natürlich rund. Hinzu kommen die Gründe, von denen ich vorhin schon sprach: Ich fühle mich bei Bayer nicht unwohl.
SPOX: Hätte es Optionen für einen Wechsel gegeben?
Castro: Ja. Die Messlatte in Leverkusen ist aber sehr hoch, wir spielen sehr häufig international. So einen Verein verlässt man nicht beim ersten Gegenwind.
SPOX: Wenn Ihr aktueller Vertrag endet, werden Sie 29 Jahre alt sein. Könnte dies das Alter sein, in dem Sie überlegen, ob ein fußballerischer Auslandsaufenthalt sinnvoll wäre?
Castro: Das könnte sein, auch wenn es schwer fällt, in die Zukunft zu blicken. Irgendwann verlasse ich Bayer, diese Zeit wird sicherlich kommen. Das Ausland reizt mich. Ich bin in dieser Hinsicht offen für jede neue Erfahrung. Aber wann, wie und wo - das kann ich Ihnen nicht beantworten. Ich bin ja noch jung und habe Zeit (lacht).
SPOX: Ist es für Sie nach all den Jahren überhaupt vorstellbar, was passiert, wenn der bekannte Leverkusen-Alltag auf einmal wegfallen würde?
Castro: Sollte es soweit kommen, denke ich, dass es einfach völlig anders sein wird als das, woran ich mich jetzt gewöhnt habe. Ich glaube, dass es für einen Menschen durchaus interessant sein kann, wenn er mal eine neue Umgebung, neue Menschen oder eine neue Sprache kennenlernt. Dadurch entwickelt man sich als Persönlichkeit weiter. Dieser Aspekt gehört ja auch zum Leben, ganz egal, ob man von Beruf Fußballprofi ist oder nicht.
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