Englands WM-Hoffnung Ivan Toney: Seine Karriere begann am Bahnhof

Fatih Demireli
21. September 202216:53
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Ivan Toney wurde einst sechsmal in drei Jahren verliehen und von einem Champions-League-Sieger komplett ignoriert. Ein Treffen an einem Bahnhof und ein Anruf aus Dänemark retteten nicht nur die Karriere des 26-Jährigen, über Umwegen könnte er als Neu-Nationalspieler nun sogar auf den WM-Zug aufspringen.

Es gibt Wendepunkte im Leben jedes Menschen, an die man sich zurückerinnert und sich sagt: "Ja, hier hat sich alles verändert." Der Selbsttest ist gratis. Mal sind es mehr, mal weniger Wendepunkte. Fragt man Ivan Toney, 26 Jahre alter Fußballer vom FC Brentford, wird er nicht die eine Geschichte erzählen können.

Der Stürmer erlebte in seiner inzwischen im Mittelstadium angekommenen Karriere sehr viel, was man als Wendepunkt bezeichnen kann. Oftmals gab es Dinge, die seinen Traum von einer Karriere als Profifußballer zerstört haben, gefolgt von vielen Wendungen, die ihm dann doch Hoffnung machten.

Nun steht Toney an der Spitze aller Wendungen. Vorerst. Zwei Monate vor dem Start der Weltmeisterschaft in Katar wurde er erstmals in den Kader der Nationalmannschaft Englands berufen. Bedenkt man, dass es nach den beiden Nations-League-Spielen gegen Italien und Deutschland keine weiteren Proben vor der WM gibt, stehen die Chancen gut, dass Toney bald den Status eines WM-Fahrers hat.

Gar nicht so übel für einen Spieler, der sich vor fünf Jahren an einem Bahnhof in Newcastle mit einem Drittliga-Trainer traf und auslotete, ob er dort bei Scunthorpe United spielen kann. "Er wollte sich in die Mannschaft einfügen, Tore schießen und gewinnen", erinnert sich Graham Alexander an einen jungen Mann, den er zufälligerweise entdeckte.

Ivan Toney spielte viermal für Newcastle United - ganze 41 Minuten.getty

Als Ivan Toney vier Verteidiger niederkämpfte

"Ivan hat für Shrewsbury in der EFL Trophy gegen uns gespielt", erzählt er: "Ich konzentriere mich sehr auf meine Mannschaft, wenn wir spielen, dass mir nur selten ein Spieler des Gegners auffällt, aber er war ganz allein vorne und war eine brutale Herausforderung für unsere vier Verteidiger. Er hat um alles gekämpft."

Was der Junge in Shrewsbury kann, sollte er auch in Scunthorpe können, dachte sich Alexander und holte Toney auf Leihbasis. Doch weil der Aufstieg in die Championship misslang, weil man in den Playoffs an Millwall scheiterte, wollte Toney sein Glück woanders versuchen.

Aber diese ständige Suche nach Glück war von vielen Rückschlägen geprägt. Wie auch damals, als er nach Wigan ging und auch dort nicht glücklich wurde. Er war es gewohnt: Schon mit 14 Jahren gab es den ersten Weckruf der Realität. Er war in der Akademie von Leicester City, hoffte auf eine Art Stipendium. Dass er keines bekommen hat, erfuhr er zufällig von einem Assistenztrainer.

Er versuchte sich in seiner Heimatstadt bei Northampton Town, wurde dort mit 16 der jüngste Spieler, der je für die erste Mannschaft spielte. Er war groß, wuchtig und hatte eine große Portion Selbstvertrauen, was sich herumsprach. Als die Wolverhampton Wanderers ihn verpflichten wollten, rasselte er durch den Medizincheck. Ein Rückschlag? Ja, aber nur kurz, denn der nächste Wendepunkt folgte: 2015 verpflichtete Newcastle United den jungen Stürmer, wollte ihn behutsam für die erste Mannschaft aufbauen.

Ivan Toney und die Begegnung mit Cheik Tioté

Bis es zu einer Begegnung mit der leider viel zu jung verstorbenen Newcastle-Legende Cheik Tioté in einer Trainingseinheit kam. Der Rammbock aus der Elfenbeinküste brachte Toney mehrmals hart zu Fall, aber Toney stand immer wieder auf und dribbelte den Newcastle-Star aus. Tioté soll damals Newcastle-Coach Steve McClaren aufgefordert haben, dem Jungen eine Chance zu geben.

Aber Newcastle war damals notorisch im Abstiegskampf, es war nicht der Ort, um jungen Spielern eine Chance zu geben und Toney wurde in drei Jahren ganze sechsmal verliehen. Jedes Mal kam Toney mit der Hoffnung zurück, diesmal bleiben zu dürfen, aber weder McClaren noch Rafael Benitez gaben ihm eine echte Chance.

Als Toney später durchstartete, fühlte sich Benitez, der 2005 immerhin mit dem FC Liverpool die Champions League gewann, gar genötigt, sich öffentlich zu verteidigen. "Ich habe ihn nie trainiert", sagte der Spanier in englischen Medien. "Ich habe nicht mit ihm gesprochen, als ich dort war, weil er ausgeliehen war. In allen Berichten, die mir vorlagen, als ich nach Spielern für die erste Mannschaft fragte, hat mir niemand gesagt, dass er eine Option ist."

2019, noch offiziell als Spieler von Newcastle United, wollte Toney das so nicht stehen lassen. In einem Interview sagte er: "Ich habe mein Niveau nie sinken lassen. Ich habe mich verbessert und Tore geschossen, aber egal, was ich gemacht habe, die Chancen in der ersten Mannschaft waren nie da. Ich hatte nicht das Gefühl, dass man mir eine richtige Chance gab. Ich bin mir nicht sicher, ob der Trainer (Benitez, Anm. d. Red.) mir eine richtige Chance gegeben hat. Das ist seine Entscheidung. Er hat Spieler geholt, mit denen er arbeiten wollte, anstatt der Jugend eine Chance zu geben."

Ivan Toney: Mit Wut im Bauch in der Championship

Sein Hilfeschrei blieb unerhört: 41 Minuten in drei Jahren - mit dieser Bilanz wurde er 2018 an den Drittligisten Peterborough verscherbelt. Ein Rückschritt auf dem Papier, aber in Wirklichkeit der Startschuss zum Guten. 23 Pflichtspiel-Tore schoss er in seiner ersten Saison, wurde bester Torschütze. Eine Saison später waren es gar 26 - und die Saison wurde wegen der Pandemie nicht mal zu Ende gespielt.

Die Wut im Bauch war ein Antreiber. "Um auf höchstem Niveau zu spielen, muss man diesen Biss und dieses Selbstvertrauen haben und Ivan hatte das von Anfang an. Er hatte in seiner Karriere einige Rückschläge erlitten, aber er hatte den Hunger, sich zu beweisen", erinnert sich sein ehemaliger Teamkollege George Boyd. Schon damals gab es wieder einige Interessenten, was bei 49 Toren und 16 Vorlagen in 94 Pflichtspielen nicht verwundert.

Tottenham Hotspur soll damals überlegt haben, Toney als Ersatz für Harry Kane zu holen, weil sie in ihrer Spielanlage ziemlich ähnlich sind. So richtig konkret wurde das Interesse aber offenbar nie. Und Toney wollte auch kein Abenteuer mehr, er wollte spielen und Tore erzielen und nicht wieder gegen einen Rückschlag kämpfen. Daher ging er auch nicht auf jedes Angebot sofort ein. Schon gar nicht, wenn es kein Premier-League-Klub war.

Als der FC Brentford erstmals anfragte, lehnten sowohl Klub als auch Spieler ab, aber Brentford blieb hartnäckig. "Er hatte seine Zweifel", erzählte Trainer Thomas Frank neulich in einer Presserunde und vermutete, dass "er direkt in die Premier League" wollte.

Der Anruf vom Haus der Schwägerin

Als der Brentford-Trainer mitbekam, dass sich die Gespräche schwierig gestalten, griff er selbst zum Hörer: "Ich rief Ivan an, als ich in Dänemark vor dem Haus meiner Schwägerin stand, und sagte: 'Woran zweifelst du? Ich verspreche dir eines: Mit deiner Qualität und der Art, wie wir spielen, wirst du mindestens 25 Tore schießen. Es gibt also zwei Möglichkeiten: Entweder wir steigen auf und alle sind glücklich, oder wir verkaufen dich."

Frank hatte Unrecht. Es waren nicht 25, sondern 33 Tore, die Toney in der Championship erzielte. Die knapp sieben Millionen Euro, die Brentford in den Stürmer investierte und vom ein oder anderen damals als Risikogeschäft eingestuft wurden, waren jeden Penny wert. Der Anruf aus Dänemark veränderte das Leben des Ivan Toney nachhaltig.

Das, was ihm einst in Newcastle verwehrt blieb, gelang ihm in Brentford. Er wurde Stammspieler eines Premier-League-Klubs. Zwölf Liga-Tore waren es im Vorjahr, allein fünf Tore in sieben Liga-Spielen sind es schon in dieser Saison. Spätestens seit der Berufung Toneys in die Nationalmannschaft meldet sich jeden Tag ein neuer Entdecker und jeden Tag erzählt jemand anderes, dass er das schon immer wusste, dass Toney hier ankommt.

In Wirklichkeit traute man ihm oberhalb der League One keine Karriere zu. Bis auf Brentford und Trainer Frank, die sich heute für Toney freuen und auch davon ausgehen, dass er bei der WM in Katar dabei sein wird. Als Vertreter von Harry Kane - nicht bei den Spurs, aber bei den Three Lions. "Wer sonst? Er ist der Beste nach Kane", sagte Frank neulich.

Auch ohne WM und Nationalmannschaft hat sich Toney inzwischen einen Markt geschaffen - sollten WM-Einsätze hinzukommen, könnte im Sommer ein Toptransfer bevorstehen.

Schon im Sommer soll Manchester United interessiert gewesen sein. Das gilt auch für den FC Chelsea. Auch Tottenham könnte wieder zum Zuge kommen, wenn Kane seinen Vertrag über den Sommer hinaus nicht verlängert und vielleicht zum FC Bayern wechselt. Oder Kane bleibt und dann könnte Toney ja vielleicht einer für die Münchener werden, die sich im Sommer 2023 wieder einen Mittelstürmer genehmigen könnten.

Für Ivan Toney wäre das - genau - ein Wendepunkt.