Jan Kirchhoff vom KFC Uerdingen im Interview: "Ich war sehr egoistisch und kein guter Teamkollege"

Jochen Tittmar
25. Dezember 202010:46
SPOXChristian Kaspar-Bartke/Getty Images for DFB
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Seine guten Leistungen beim 1. FSV Mainz 05 unter Thomas Tuchel beförderten Jan Kirchhoff 2013 zum FC Bayern München. Doch bald brach eine Verletzungsmisere über den Defensivspieler herein, die kein Ende zu finden schien. 2016 wagte Kirchhoff in England den Neustart, am Ende war er vereinslos. Seit 2019 ist der ehemalige U21-Nationalspieler zurück in Deutschland, im Sommer wechselte er zum KFC Uerdingen in die 3. Liga.

Dieser Artikel wurde im März 2020 veröffentlicht.

Im ausführlichen Interview mit SPOX und Goal blickt der heute 29-Jährige auf all diese Episoden zurück. Kirchhoff spricht über die Verletzungsseuche, den England-Aufenthalt und die Zeit der Vereinslosigkeit - erklärt aber auch, wie er seit seiner Genesung Kapitän beim KFC geworden ist.

Kirchhoff äußert sich zudem zu eigenen Fehlern, einem möglichen Karriereende, zur Arbeit unter Thomas Tuchel und Pep Guardiola sowie zu seiner Zukunft als Trainer.

Herr Kirchhoff, Sie sind im Laufe Ihrer Karriere immer wieder von Verletzungen geplagt worden, haben aber dennoch nie aufgegeben. Mittlerweile sind Sie Kapitän und Leistungsträger beim KFC Uerdingen in der 3. Liga und kommen dort auf die meisten Einsätze seit Jahren. Haben Sie gesundheitlich gesehen jetzt Ihren persönlichen Weg gefunden?

Jan Kirchhoff: Ja, auch wenn es etwas sehr Individuelles und nur zum Teil reproduzierbar für andere Sportler ist. Im Nachhinein gesehen habe ich ihn leider zu spät gefunden. Hätte ich mich früher so intensiv damit beschäftigt und über meine Karriere hinweg gesünder gelebt, wäre ich hundertprozentig häufiger fit gewesen. Meine Schädigungen an Achillessehne und Knie kann ich damit nicht mehr rückgängig machen. Rein muskulär fühle ich mich nun aber deutlich besser.

Was hat Ihnen am meisten geholfen?

Kirchhoff: Vor allem die Umstellung der Ernährung. Ich war oft übersäuert, weil ich zu viel Fleisch gegessen, falsche Sachen getrunken und mich nicht wirklich damit beschäftigt habe. Beispielsweise auch mit meiner Magen-Darm-Gesundheit, die nach hohen Belastungen immer etwas gestreikt hat. Ich habe viele Dinge als normal hingenommen, die aber eigentlich nicht normal sind. Gerade in meiner vereinslosen Zeit habe ich mich diesen Themen gewidmet und gemerkt, dass vieles nicht so sein muss, wie es bei mir war. Seitdem ich mich anders ernähre und supplementiere, habe ich gewisse Probleme wie Muskelkater nicht mehr.

SPOX-Redakteur Jochen Tittmar traf sich in Düsseldorf zum Gespräch mit Jan Kirchhoff.spox

Haben Sie da externe Hilfe herangezogen oder sind Sie von allein auf diese Veränderung gekommen?

Kirchhoff: Bei mir hat es meinen ehemaligen Mitspieler Dennis Aogo gebraucht, der sich wie ich mit Achillessehnenproblemen herumplagte. Er rief mich an und fragte, welche Erfahrungen ich mit Achillessehnen-Operationen gemacht habe. Ich riet ihm, eine OP zu machen, weil es einem danach gut geht. Ein halbes Jahr später habe ich ihn getroffen und er meinte, er hat die OP doch nicht gemacht, sondern seine Ernährung umgestellt und den Säure-Basen-Haushalt in den Griff bekommen. Dadurch ist die Entzündung verschwunden.

Und Sie dachten: Das versuche ich jetzt auch einmal.

Kirchhoff: Genau - und plötzlich waren auch meine Schmerzen weg. Bald konnte ich härter trainieren und auch der Muskelkater kam nicht mehr. Ich habe mich schließlich immer mehr in das Thema vertieft, mich bei jeder Gelegenheit umgehört und mit Fitnesstrainern oder Chiropraktikern zusammengearbeitet. In der vereinslosen Zeit hatte ich zum Beispiel viel mit MMA-Kämpfern oder Crossfittern zu tun, die extrem hart trainieren. Ich habe all diese Einflüsse gebündelt und nach dem Trial-and-Error-Prinzip geschaut, was davon für mich passt.

Ginge es überhaupt, den Spieler und Menschen Jan Kirchhoff, der er heute ist, ohne seine Verletzungshistorie zu verstehen?

Kirchhoff: Nein. Das ist ein Teil von mir und es wäre schlimm, würde ich noch derselbe sein wie vor den Verletzungen. Ich habe daraus Lehren gezogen und bin als Mensch gereift. Aber natürlich hätte ich am liebsten darauf verzichtet und meine Karriere hätte einen steilen Weg nach oben genommen.

Was genau haben Sie daraus gelernt?

Kirchhoff: Rein von der Persönlichkeitsstruktur her ist man als junger Mensch in diesem Fußball-Geschäft sehr von sich überzeugt und glaubt, man wüsste bereits alles. Ich dagegen war in den letzten zehn Jahren gezwungen, mich selbst zu hinterfragen, weil ich echt oft auf die Schnauze gefallen bin und es häufig einen Schritt zurückging. Ich habe teils auch nicht verstanden, warum das so ist. Ich musste mich dann immer wieder neu reflektieren und ordnen, mir Gedanken machen, was ich möchte und wie ich mich motiviere, damit ich mein nächstes Ziel auch erreiche.

Haben Sie sich bei diesem Reflexionsprozess auch bei anderen Disziplinen bedient?

Kirchhoff: Ich lese generell viel. Mich begeistern vor allem japanische Autoren. Dort hat man eine andere Herangehensweise an die Begriffe Glück und Zufriedenheit als bei uns Europäern. Ich habe das Gefühl, dass es in Deutschland viel um materielle Dinge geht: wie viel Geld man verdient oder wie erfolgreich man im Beruf ist. In Japan steht eher im Vordergrund, im Einklang mit sich selbst zu sein, sich Auszeiten zu nehmen oder die Natur zu spüren. Mir ist wichtig, eine innere Zufriedenheit zu erreichen. Dafür ist Literatur hilfreich, aber auch Gespräche mit Eltern, Freunden und all denen, die das eigene Sichtfeld erweitern können.

Welche Rolle spielte die Auslandserfahrung?

Kirchhoff: England war die tollste Erfahrung, die ich im Fußball gemacht habe. Es war richtig schön, in ein anderes Land zu kommen, die Sprache zu perfektionieren und neuen kulturellen Input zu bekommen. Ich habe das extrem genossen. Ich muss auch sagen, dass mich die in Deutschland teils hohen Erwartungshaltungen oder die Suche nach dem berühmten Haar in der Suppe ein Stück weit belastet haben. Die Engländer sind entspannter, fröhlicher und respektieren den Sportler deutlich mehr. Gerade das erste halbe Jahr beim AFC Sunderland habe ich sehr genossen, anschließend suchten mich wieder die Verletzungen heim.

Wie schwierig war es zwischenzeitlich, sich mit Ihrem Schicksal anzufreunden?

Kirchhoff: Sehr. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man als Fußballprofi viele Dinge als Selbstverständlichkeit ansieht. Man denkt nicht jeden Tag daran, wie glücklich man sich eigentlich schätzen müsste, dass man Teil dieses Geschäfts ist. Ich hatte ehrlich gesagt auch eine Zeit lang keinen Bock mehr darauf und keine Motivation. Ich habe dann nicht mehr so viel in meinen Beruf investiert, um erfolgreich zu sein, sondern habe es als reinen Beruf und nicht mehr als echten Leistungssport gesehen. Es war damals Normalität, dass ich Teil davon bin.

Haben Sie nie gehadert oder gesagt: Diese Quälerei macht keinen Spaß mehr?

Kirchhoff: Ich musste schon immer und auch früh Widerstände überwinden. Mit 13 hatte ich chronisches Asthma, mit 14 musste ich ein Jahr lang wegen Schmerzen an der Patellasehne aussetzen. Mir war daher von Anfang an klar, dass es immer nur an mir liegt und ich die Fehler nicht bei anderen suche. Ich habe von mir stets das Höchste erwartet, aber auch daran geglaubt, dass ich es zu leisten imstande bin. Ich käme nie auf den Gedanken, dass Vereine falsche Entscheidungen getroffen haben oder irgendwelche Trainer doof waren.

Hätten Sie sich damals vorstellen können, wie zuletzt in Liga zwei oder drei zu spielen?

Kirchhoff: Nein. Ich hatte Angebote aus diesen Ligen, lehnte aber ab, weil ich dachte, dass ich das nicht machen müsste. Das hat sich in dem Moment gedreht, als ich das erste Mal ein halbes Jahr komplett raus war und tun und lassen konnte, was ich wollte. So musste die Motivation aus mir selbst entstehen: Will ich überhaupt noch Teil davon sein und mich zurückkämpfen oder nicht? Irgendwann entschied ich, dass ich diese Frage bejahe, weil ich einfach Leistungssportler bin.

Nach Ihren Stationen bei Sunderland und den Bolton Wanderers waren Sie 2017 und 2018 jeweils für ein halbes Jahr ohne Verein. Wie froh waren Sie, auch einmal aus dem Hamsterrad des Profifußballs herausgekommen zu sein?

Kirchhoff: Total. Ich habe diese Zeit unfassbar genossen. Im ersten Moment habe ich gar nichts vermisst. Ich konnte trainieren wie, wann und wo ich wollte und war nicht in diesem 24/7-Job gefangen, der selbst am Wochenende nicht pausiert. Ich bin mit meinen Freunden um die Häuser gezogen und konnte zu Geburtstagen an den Tagen gehen, an denen sie auch wirklich waren. (lacht) Trotzdem fehlte mit der Zeit etwas. Es war schlicht eine ganz andere Motivation. Zuvor, gerade am Ende von Sunderland, war es fast so, als in Anführungszeichen musste ich den Job sozusagen machen. Nun aber war ich aus mir selbst heraus motiviert und nicht deshalb, um mehr Geld zu verdienen oder in der Bundesliga zu spielen.

Wie haben Sie in dieser Zeit auf das Geschäft geblickt?

Kirchhoff: Wenn man drinsteckt, ist ein großer Teil des Daseins als Fußballprofi mentaler Stress: sich gegen öffentliche Wahrnehmungen zu wehren, die große Erwartungshaltung innerhalb des Vereins, der Druck, jeden Tag Leistung bringen zu müssen. Mentale Kraft und Ausgeglichenheit werden von vielen vergessen, gehören aber unbedingt zum Berufsbild. Als ich von außen draufblickte, habe ich vieles davon nicht mehr so ernst genommen - und das hat mir langfristig geholfen.

Gibt es Dinge, bei denen der heutige Jan Kirchhoff über die Naivität des jungen Jan Kirchhoff lachen könnte?

Kirchhoff: Natürlich. Ich schüttle auch teilweise den Kopf vor meinem früheren Ich, wie ich damals aufgetreten bin oder wie engstirnig ich war. Letztlich ist das aber auch normal, dass man sich manchmal erwischt und denkt: Mein Gott, was habe ich mir denn dabei gedacht?

Welche Fehler haben Sie als junger Spieler und Mensch gemacht?

Kirchhoff: Gerade im Fußballbereich wird man als junger Spieler mit vielen Sachen teils überfrachtet. Wenn man Glück hat, hat man ein geordnetes Elternhaus und einen anständigen Berater, die auf einen achtgeben. Doch welcher 20-Jährige ist denn bereit, Millionen zu verdienen und damit richtig umzugehen? Da kann schnell das Familiengefüge auseinanderfallen, wenn der Sohn plötzlich der Meistverdienende ist. Natürlich habe ich auch mal zu viel Geld ausgegeben oder falsche Freunde gehabt. Es bringt aber nichts, zurückzublicken und kostet nur Energie. Deshalb lasse ich es lieber. (lacht)

Waren Sie damals leicht im Umgang?

Kirchhoff: Ich war sehr meinungsstark und verkopft, was nicht immer von Vorteil war. Wenn ich jemanden vor mir hatte, von dem ich dachte, er weiß, wovon er redet, dann war ich sehr folgewillig und habe das gerne angenommen. Ich hatte aber immer meine eigene Meinung und bin deshalb auch mit mehreren Trainern aneinandergeraten. Ich war generell sehr fordernd, auch zu Mitspielern. Wenn ein 23-Jähriger seine Mitspieler anbrüllt, dann kann das auch Probleme geben und einen nicht nur auszeichnen.

Jan Kirchhoff als Kapitän im Trikot des KFC Uerdingen.getty

Nach dem zweiten halben Jahr ohne Klub wechselten Sie im Januar 2019 zum 1. FC Magdeburg in die 2. Liga. Der FCM stieg ab und Sie konnten sich nicht auf eine Weiterbeschäftigung einigen. Hatten Sie die Befürchtung, dass es anschließend wieder so kommen könnte wie zuvor und Sie keinen Verein finden?

Kirchhoff: Der Kontakt nach Uerdingen war schon relativ früh da. Mir lag ein Angebot vor und ich wusste, dass ich das machen kann, wenn ich möchte. Ich bin heute sehr glücklich beim KFC, habe damals aber erst einmal darauf gehofft, einen Verein in der 2. Liga zu finden. Es gab auch Kontakte, aber es wurde nichts spruchreich. Ich bekam dann tatsächlich Angst, dass ich zu lange warte und mich plötzlich in derselben Situation wiederfinde. Hier habe ich jetzt Planungssicherheit und fühle mich auch außerhalb des Fußballs einfach wohl.

Wie gut fühlt es sich an, dort wieder richtig gebraucht zu werden?

Kirchhoff: Anerkennung und - vielleicht noch etwas übergeordneter - Liebe braucht jeder Mensch. Ich habe mich durch meine Karriere hinweg immer gebraucht gefühlt, weil ich auch regelmäßig gespielt habe, wenn ich gesund war. Ich fühlte mich nie ungerecht behandelt oder außen vor. Für mich ist es momentan toll, gesund zu sein und Fußball spielen zu können, aber auch andere Interessen zu verfolgen und den Weitblick zu haben, was nach der Karriere kommen soll. Ich habe aktuell das Gefühl, mein Leben in der Hand zu halten und es so steuern zu können, wie ich es möchte - ohne Opfer der Umstände zu sein.

War die zweite vereinslose Zeit schwerer oder einfacher für Sie?

Kirchhoff: Einfacher, denn ich wusste ja, was auf mich zukommen und wie es sich anfühlen würde. Natürlich war damals das Karriereende ein Thema, weil ich mich mit der Frage auseinandersetzen musste, ob ich überhaupt noch einmal etwas finde. Es war eine Option, in die USA zu gehen. Dort hatte ich schon Probetrainings absolviert und mir die Vereinsgelände angeschaut. Ich habe mir dann eine Deadline gesetzt und gesagt, wenn bis Dezember nichts für das Januar-Transferfenster kommt, dann war's das. Dann hat zum Glück Magdeburg angerufen. Ich war aber immer irgendwie im Dunstkreis des Profifußballs. Der Kontakt ist nie abgerissen, so dass ich nicht das Gefühl hatte, es meldet sich gar niemand mehr.

Nur mal in der Theorie: Was hätten Sie denn mit sich angefangen, wenn Magdeburg nicht gekommen wäre?

Kirchhoff: Die erste Maßnahme wäre gewesen, ein Zuhause zu finden. Das hört sich komisch an, aber darum wäre es erst einmal wirklich gegangen. Ich habe meine Frau in England kennengelernt, sie studiert jetzt in München. Dort wollen wir auch nach der Karriere wohnen. Daher ging es bei meinem letzten Wechsel auch darum, eine gute Verbindung nach München zu haben. Zudem ist für mich seit langer Zeit klar, dass ich im Fußball bleiben und eine Laufbahn als Trainer einschlagen möchte. Ich will die Trainerscheine machen, im Jugendfußball beginnen und parallel dazu studieren. Ich weiß noch nicht genau was, aber rein aus Eitelkeit möchte ich den Bachelor-Abschluss machen. (lacht) Das ist mein Fünfjahresplan.

Mit der Trainerlaufbahn haben Sie ja bereits begonnen.

Kirchhoff: Richtig. Ich habe beim KFC in der Jugendabteilung gefragt, ob jemand Hilfe braucht. Dmitry Voronov, der sportliche Leiter, war zugleich Trainer der U14 und suchte noch einen Co-Trainer. Da habe ich direkt zugesagt. Im Dezember ist dann unser U17-Trainer zum Verband gewechselt, Dmitry hat die Position übernommen und jetzt betreuen wir zusammen die U14 und die U17. Ich möchte einfach ein Gefühl für diesen Job bekommen.

Und, wie ist es?

Kirchhoff: Teilweise macht es mehr Spaß, als selbst zu trainieren. (lacht) Ich spüre eine große Begeisterung und Energie. Ich darf das Training vorbereiten, gestalten und kann mich austoben. Es ist wirklich toll. Wenn ich es schaffe, stehe ich bei sechs bis acht Einheiten mit auf dem Platz. Bislang war ich zweimal bei den Spielen dabei, das geht leider nur sehr sporadisch.

Wenn Sie diesen Gedanken schon seit längerer Zeit in sich tragen: Haben Sie sich im Laufe Ihrer Karriere auch Notizen der Trainingsinhalte Ihrer Trainer gemacht wie zum Beispiel Nuri Sahin, der denselben Weg einschlagen möchte?

Kirchhoff: Teils schon, am meisten aber erst im Nachhinein. Als ich unter Thomas Tuchel und Pep Guardiola spielte, war ich vielleicht noch etwas zu jung. Ich erinnere mich aber an viele Inhalte, weil sie so intensiv und prägend waren, dass sie in Fleisch und Blut übergegangen sind. Meiner Erfahrung nach geht es nicht um das bloße Repertoire an Übungen, sondern man muss bei ihrer Anwendung schauen, was beispielsweise Ballbesitzbegrenzungen oder Spielfeldverkleinerungen wirklich verändern. Das dann auch coachen zu können ist letztlich wie alles im Leben Übungssache.

Hat sich unter Tuchel und Guardiola Ihr Interesse an Taktik und anderen fußballspezifischen Zusammenhängen vergrößert?

Kirchhoff: Klar, das ging bereits bei Thomas los. Er wurde mein A-Jugendtrainer zu der Zeit, als ich bereits Jugendnationalspieler war. Dann kam Thomas und auf einmal wurde ich innerhalb einer Sommervorbereitung so viel besser. Ich wusste immer, wie ich verteidigen soll oder wie wir Druck auf den Ball bekommen. Er ist ein unglaublich guter Analytiker. Ohne ihn wären wir niemals in der Lage gewesen, Bundesliga zu spielen. Er war der entscheidende Faktor, warum wir in der Liga geblieben sind und weshalb Mainz 05 wachsen konnte. Das war uns damals auch bewusst. Wir wussten: Wenn er nicht mehr hier sein sollte, dann wird es richtig eng.

Da Sie vorher ansprachen, mit Trainer aneinandergeraten zu sein - wie lief's diesbezüglich mit Tuchel?

Kirchhoff: Wir hatten unsere Auseinandersetzungen, uns gegenseitig aber sehr wertgeschätzt, so dass es nie persönlich wurde. Als ich dann in München unterschrieben hatte, war das letzte halbe Jahr nicht so einfach, auch nicht im Verein und in der Mannschaft. Damals habe ich viele Fehler gemacht. Ich war sehr egoistisch und kein ganz so guter Teamkollege, weil es in meinem Kopf einfach nur um mich ging und alles andere hintenanstand.

Hatte Sie das Angebot des FC Bayern 2013 eigentlich überrascht?

Kirchhoff: Nein, ich habe es sogar erwartet. Dass es Bayern München sein wird, vielleicht nicht so sehr, aber ich war ablösefrei, U21-Nationalspieler und habe guten Fußball gespielt. Ich konnte es mir im Grunde aussuchen, wohin ich wechseln möchte. Im Dezember rief mich dann mein Berater Roger Wittmann an. Er meinte, bei den Bayern wird es einen Trainerwechsel geben, sie suchen einen spielstarken Innenverteidiger und ob ich mir das ohne irgendwelche Garantien vorstellen könne. Ich wusste nicht, wer der neue Trainer sein wird.

Wie kam es dann zu Ihrer Entscheidung?

Kirchhoff: Ich habe zunächst mit Jupp Heynckes und Matthias Sammer telefoniert. Die sagten: Wir sehen da etwas in dir - wenn du es dich traust, dann probiere es aus. Ich hatte in meiner Karriere noch nie vor etwas Angst und damals dachte ich, dass nur das Höchste und Größte das Ziel sein kann. Daher war es letztlich keine Frage, ob ich beim besten deutschen Verein spielen möchte. Ich bekam dann auch ein paar Hinweise, aber konnte irgendwie nicht glauben, dass Pep wirklich zu den Bayern geht. Als dies dann auch noch eintrat, war die Sache richtig rund.

Unter Guardiola arbeiteten Sie ein halbes Jahr beim FC Bayern München. Wie viele seiner Spieler haben auch Sie bereits gesagt, dass er Ihre Sicht auf den Fußball sehr verändert hat. Inwiefern war das auch erschreckend festzustellen?

Kirchhoff: Es war verrückt, weil man dachte: Zuvor verstand ich ja gar nichts. (lacht) Wie Pep das Spiel vereinfacht und zeigt, wie man zum Ball oder im Feld steht, ist schon herausragend. Es sind dutzende kleine Details, die man auch vorher vielleicht kannte. Nach zwei Monaten Training unter ihm haben jedoch so viele Dinge mehr Sinn ergeben und waren für uns Spieler so viel einfacher umzusetzen. Es macht unfassbar viel aus, wenn du einen guten Trainer hast. Das vereinfacht viele Dinge enorm, Fußballspielen wird dann fast schon leicht. Hinzu kamen die Qualität der Mitspieler und das Niveau im Training. Ich kam mir teils vor, als sei ich wieder aus der A-Jugend zu den Profis gekommen.

Jan Kirchhoff zusammen mit dem damaligen Bayern-Trainer Pep Guardiola.getty

Viele, die diese Dinge über Guardiola sagen, behaupten andererseits, dass es ihm teilweise an menschlicher Wärme fehlen würde. Wie haben Sie ihn erlebt?

Kirchhoff: Ich habe eine ganz andere Erfahrung gemacht, hatte aber vielleicht auch eine andere Erwartungshaltung an ihn und war mit gewissen Dingen zufriedener. Für mich ist er ein extrem herzlicher, angenehmer und intelligenter Mensch, der einen umarmt, wenn man aus der Sommerpause kommt oder zur Seite nimmt, um persönliche Gespräche voller Tipps zu führen. Und wenn man ihn mit seinen Kindern und seiner Frau sieht, dann muss er auch ein toller Familienvater sein.

Durch die Zeit in München stehen in Ihrer Vita zwei Deutsche Meisterschaften, zwei Pokalsiege, ein UEFA-Supercup-Sieg und die FIFA-Klubweltmeisterschaft zu Buche. Wie blicken Sie darauf?

Kirchhoff: Ich fühle mich nicht als Meister oder Klubweltmeister und schmücke mich damit nicht. Dafür hätte ich einen größeren Anteil daran haben müssen. Die Medaillen liegen zu Hause in irgendeiner Schublade. Ich bin im ersten Halbjahr auf eine ordentliche Anzahl an Spielen bekommen, wurde allerdings immer nur eingewechselt. Das hat mich dazu bewogen, zu Schalke zu gehen.

Doch wieso bereits nach einem halben Jahr?

Kirchhoff: Ich war überehrgeizig, zu ungeduldig und auch besessen von meinem Ziel, gewisse Dinge zu erreichen. Ich konnte nicht einsehen, dass es gut ist, wenn man als 22-Jähriger aus Mainz nach München kommt und dort im ersten halben Jahr zwölf Pflichtspiele macht.

Gab es niemanden, der betont hat, dass das eine ordentliche Zwischenbilanz ist?

Kirchhoff: Doch, natürlich. Es gab aber auch welche, die gesagt haben, dass ich jung bin und spielen müsse. Pep meinte, ich solle bleiben, weil ich gerade gegen Saisonende meine Einsätze bekommen und in jedem Training etwas lernen würde. Ich wollte aber jedes Wochenende spielen und zeigen, wie gut ich bin. Ich war zu der Zeit mit Abstand der beste Fußballer, der ich in meiner Karriere war. Auf Schalke wurde ich dann beim zweiten Training von einem Gegenspieler umgetreten und war lange verletzt. Es ist sehr unglücklich gelaufen, vielleicht wäre die Zeit auf Schalke dann auch eine andere gewesen. Wenn ich aber wirklich eine Sache zurückdrehen könnte, dann hätte ich länger in München bleiben und mehr Demut zeigen sollen.

Anschließend häuften sich mediale Geschichten, die vom Absturz des Jan Kirchhoff und einem gewissen Bedeutungsverlust berichteten. Wie erging es Ihnen damit?

Kirchhoff: Ich habe das registriert, aber mir angewöhnt, dass ich keine Artikel über mich lese. Es ist leider oft so, dass die Berichte sehr vereinfacht und auf eine einzige Schlagzeile aus sind. Die Leute kennen einen nicht und wissen nichts über die Hintergründe. Ich weiß, dass die öffentliche Wahrnehmung ist, ich wäre abgestürzt. Ich respektiere jede Meinung, für mich ist das aber zweitrangig, weil es mir nicht darum geht, jemand zufrieden zu stellen.

Diese Aussagen sind sicherlich auch Ergebnis einer Entwicklung - oder dachten Sie schon immer so?

Kirchhoff: Nein, dieses Thema ist auch alles andere als einfach zu handhaben. Wenn es heißt, ihr Fußballprofis habt doch so ein schönes Leben, dann sage ich meist: Ja, wir haben ein tolles Leben, das stimmt. Es fühlt sich zum Vergleich jedoch an, als ob man durch das Training jeden Tag eine Klassenarbeit und durch die Spiele an jedem Wochenende eine Abiturprüfung vor sich hat. Und für die gibt es dann eine Note, die jeder einsehen kann und die vielleicht nicht einmal objektiv ist. Stattdessen kann es vorkommen, dass Trainer und Mitspieler deine Leistung loben, du in der Presse aber dennoch eine 5 bekommen hast. Darauf sprechen dich dann die Leute an und so weiter. Es ist ein unglaublich enormer Druck. Wenn man sich in ihm verfängt, kann einen das kaputt machen.

Sie haben vorher von Ihrem Fünfjahresplan gesprochen. Ist dort auch die Hoffnung integriert, möglicherweise doch noch einmal die Rückkehr in die Bundesliga zu schaffen?

Kirchhoff: Ich bin froh, beim KFC zu sein. Wenn mir jemand anbieten würde, morgen als vierter Innenverteidiger in die Bundesliga zu wechseln, müsste ich wahrscheinlich trotzdem nicht lange überlegen. Weil ich immer noch den höchstmöglichen Anspruch habe und auf dem höchstmöglichen Niveau spielen möchte. Keine Ahnung, ob dieser Ansatz richtig oder falsch ist, aber das bin einfach ich. Ich weiß aber: Die Chancen sind leider gering, dass dieser Fall eintreten wird. (lacht)

Sie haben sich in den letzten Jahren so häufig wieder zurück- und gegen ein vorzeitiges Karriereende angekämpft. Wie wären Sie damit umgegangen, wenn nach Magdeburg Schluss gewesen wäre?

Kirchhoff: Das hätte ich nur schwer verdauen können, allein schon vom Alter her. Es wäre kein selbst gewähltes Karriereende gewesen. Mein Antrieb während der Verletzungen war immer, selbst beeinflussen zu können, wann ich aufhöre. Ich bin daher sehr froh, dass ich noch dabei bin.