Klaus Augenthaler und der WM-Triumph 1990: Heimvorteil in Italien

Niklas König
08. Juli 202017:43
Klaus Augenthaler gewinnt mit Deutschland 1990 den WM-Pokal.imago images / Pressefoto Baumann
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Ein lombardisches Schloss, ein stinkender Fisch, eine vierstündige Dopingprobe und Partys ohne Zapfenstreich: Wie Klaus Augenthaler mit Deutschland vier Jahre nach dem Chaos von Mexiko bei der WM 1990 triumphierte.

Klaus Augenthaler drückt unauffällig seine Zigarette aus und blickt in die Ferne. "Ja, das war eine sehr schöne Zeit", seufzt er. Bevor er sich verabschiedet, erzählt er noch eine letzte Anekdote.

Es ist ein sonniger Tag im Juni 1990. Augenthaler weilt mit der deutschen Nationalmannschaft in Kaltern am See. Ein herrlich idyllisches Fleckchen Erde, mitten in Südtirol, etwa 14 Kilometer südlich von Bozen. Die Landschaft erstrahlt in freundlichem Grün, dicht bewachsene Wälder umringen das Wasser, im Hintergrund erstrecken sich die Alpen.

"Ich habe dort eines Abends einen Fischer kennengelernt, sein Spitzname war Seewolf", sagt Augenthaler im Gespräch mit SPOX und Goal. Seewolf nimmt Auge mit zum Angeln. Für den Profi des FC Bayern München ist es eine willkommene Abwechslung, eine Oase der Ruhe zwischen all den Trainingseinheiten, kurz bevor in Italien die Weltmeisterschaft beginnt.

"Einen Tag bevor wir in unser Teamquartier nach Erba gefahren sind, habe ich abends einen Zander gefangen - den habe ich mitgenommen", sagt Augenthaler. Provisorisch in Alufolie verpackt, landet der Fisch im Gepäckfach des Mannschaftsbusses.

Die deutsche Mannschaft beim Training vor dem Spiel gegen Jugoslawien.imago images / Horstmüller

Augenthaler zunächst mit Verletzungsproblemen

Als der Tross drei Autostunden später im Castello di Casiglio ankommt, ist der Fisch längst vergessen. Das Teamhotel für das Turnier in Italien ist ein lombardisches Schloss. Vor mehr als 800 Jahren soll hier Kaiser Barbarossa aufgeschlagen sein, später residierten hier Bischöfe, Fürsten und Grafen. Nun also die deutsche Nationalmannschaft.

Das steinige Gemäuer erstreckt sich zwischen Wiesen und Bergen hinter einem steinernen Wall am Rande der Via Cesare Cantu. Die meisten Zimmer sind hübsch eingerichtet, manche gar luxuriös, mit antikem Mobiliar, schmucken Kaminen und edlen Baldachin-Betten. Umgeben ist die Herberge von einem 55.000 Quadratmeter großen Park. Dieser wiederum ist abgeschnitten vom Rest der Welt. Dichte Hecken und dicke Mauern beschließen das Areal, ein üppiges Polizei- und Sicherheitsaufgebot sorgt in letzter Instanz für hermetische Abgrenzung. Das ist er also, der Ort, an dem 1990 alles beginnt. Dabei wäre für Klaus Augenthaler nur wenige Wochen zuvor beinahe alles vorbei gewesen.

"Meine prägendste Erinnerung im Zusammenhang mit der WM 1990 ist die an unsere erste Vorbereitung in Malente", sagt Augenthaler: "Wir haben dreimal am Tag trainiert, aber ich war angeschlagen, hatte große Achillessehnen- und Leistenprobleme." Vor dem allmorgendlichen Lauf im Altenburger Wald muss Co-Trainer Berti Vogts beim Ankleiden helfen, trotz starker Schmerzen schleppt sich Augenthaler durch den Forst. "Ich habe mich die ersten paar Tage gequält ohne Ende." Bis eines Nachmittags nichts mehr ging. "Da bin ich zu Beckenbauer gegangen und habe ihm gesagt: 'Franz, das hat keinen Sinn, ich habe unglaubliche Schmerzen.'"

Der Traum von der Weltmeisterschaft, er scheint vorbei. Schon wieder. 1986 war Augenthaler in Mexiko zwar dabei, verletzte sich aber im zweiten Spiel und erholte sich nicht mehr bis zum Ende des Turniers. "Bis zum Finale", sagt Augenthaler, "war ich nur noch Zuschauer - oder besser gesagt: Urlauber."

Nun also, im Sommer 1990, droht ein ähnlicher Tiefschlag. Augenthaler ist 32 Jahre alt. Er weiß, dass es seine letzte Chance auf eine WM-Teilnahme ist.

Über Wochen liegt er zwei, drei Stunden täglich bei Physiotherapeut Klaus Eder auf der Massagebank. Er kämpft, probiert alles, aber die Beschwerden wollen einfach nicht weichen. "Auch in Kaiserau war es noch so schlimm, dass ich gesagt habe: 'Ich schaffe es nicht'"

Beckenbauer überredet Augenthaler schließlich, weiterzumachen und nach Kaltern mitzukommen, dort steigt nach Stationen in Malente und Kaiserau die dritte und letzte Etappe der WM-Vorbereitung. Und erst da wird es besser. Erst da legt Augenthaler den Grundstein für die Fahrt nach Erba. Zuvor hatten ihm die Ärzte bereits geraten, sich an der Leiste operieren zu lassen und den Traum von der WM zu begraben, um in der neuen Saison mit dem FC Bayern wieder angreifen zu können. "Aber so fußballverrückt, wie ich damals war, konnte ich doch nicht einfach sagen: 'Herr Beckenbauer, Schluss, Aus, vorbei.'", sagt Augenthaler.

Eröffnungsspiel gegen Jugoslawien wird zum "Schlüsselspiel"

Als die Mannschaft am Nachmittag des 11. Juni zum altehrwürdigen Giuseppe-Meazza-Stadion nach Mailand aufbricht, sind all die Schmerzen vergessen. Augenthaler ist fit, die Zeit des Wartens hat ein Ende, das Eröffnungsspiel gegen Jugoslawien wird in wenigen Stunden beginnen.

Der Mannschaftsbus hat das Castello gerade verlassen, da steigt dem Tross ein penetranter Geruch in die Nase. "Plötzlich haben alle gefragt: Was zum Teufel stinkt denn hier so? Und da ist mir aufgefallen: Shit, der Fisch. Der hatte schon Verwesungsgerüche angenommen", lacht Augenthaler.

Angeführt vom überragenden Doppeltorschützen Lothar Matthäus schlägt die DFB-Elf Jugoslawien mit 4:1, die weiteren Tore erzielen Rudi Völler und Jürgen Klinsmann.

"Das", sagt Augenthaler 28 Jahre später, "war das Schlüsselspiel. Jugoslawien ist als Mitfavorit ins Turnier gegangen. Deshalb war dieser Sieg absolut entscheidend für unseren Glauben, dass wir ganz, ganz weit kommen können."

Von dem Erfolg beflügelt, besiegt Deutschland auch die Vereinigten Arabischen Emirate deutlich mit 5:1 und zieht nach einem 1:1 gegen Kolumbien in die K.o.-Phase ein. Dort werden im Achtel- und Viertelfinale erst die Niederlande (2:1) und dann die Tschechoslowakei (1:0) aus dem Weg geräumt. "Wir haben nicht überragend gespielt, aber überzeugend", sagt Auge.

Die Deutschen haben nach drei Wochen in Italien längst ein Heimatgefühl entwickelt. "Das Schlösschen" in Erba, wie Augenthaler das Castello di Casiglio nennt, dient als Rückzugsort, die ersten fünf Spiele des DFB-Teams finden allesamt im Giuseppe Meazza statt.

"Das war gewissermaßen unser Heimstadion. Du kanntest die Anfahrtwege, die Katakomben, die Kabinen. Du hast dir immer wieder einige Stunden vor Anpfiff den Platz angeschaut, da waren schon 40.000 oder 50.000 Zuschauer da. Und man hat fast nur Deutschland-Fahnen gesehen", erinnert sich Augenthaler.

In Italien gibt es viele Sympathien für die Deutschen. Das liegt vor allem an den insgesamt sieben Legionären im Kader. Neben Matthäus, Klinsmann und Andreas Brehme (alle Inter Mailand) sind das Rudi Völler, Thomas Berthold (beide AS Rom), Thomas Häßler (Juventus Turin) sowie Karl-Heinz Riedle (Lazio Rom).

Der Heimvorteil sei ein wichtiger Faktor gewesen, sagt Augenthaler, "noch entscheidender war aber das Miteinander während des Turniers".

Das Chaos der Weltmeisterschaft 1996

Teamcoach Franz Beckenbauer hat aus 1986 gelernt. Seinerzeit hatte Deutschland eine mitunter aberwitzige Figur abgegeben. Schon im Vorfeld des Turniers in Mexiko sprach Beckenbauer in Bezug auf seinen Kader von "Schrott", den Gewinn des Weltmeistertitels schloss er kategorisch aus.

Letztlich schaffte es sein Team dennoch bis ins Endspiel, und doch war es eine WM, über die Dieter Hoeneß später sagte, sie sei "das reinste Chaos" gewesen. Jenes Chaos gipfelte in der Suspendierung von Uli Stein. Dieser hatte den früheren Knorr-Werber Beckenbauer Medienberichten zufolge als "Suppenkasper" bezeichnet, nachdem dieser wiederum zu Stein gesagt haben soll: "Du bist derzeit der beste Torwart der Welt, aber hier kannst du nicht spielen."

Stein witterte eine Verschwörung und sah seine Ausbootung in Interessen des DFB-Ausrüsters adidas begründet. Seine Missgunst quittierte er der Legende nach mit Bierkonsum, eines Abends überzog er den verordneten Zapfenstreich mit Ditmar Jakobs, Hoeneß und Augenthaler angeblich um drei Stunden.

Von Beckenbauer zur Rede gestellt, tat sich das Quartett zusammen und verhinderte zunächst den Rausschmiss von Stein. Später musste der damalige HSV-Keeper dann doch abreisen, auf Anordnung des DFB-Präsidenten Hermann Neuberger.

Augenthaler schildert die Geschichte so: "In Mexiko war rund um das Teamquartier nichts los. Irgendwann haben uns einige Journalisten ein gutes französisches Restaurant empfohlen." Dieses Lokal sei eine Autostunde vom Quartier entfernt gewesen. "Wir hatten während des Turniers mexikanische Studenten als Fahrer. Und als wir eines Nachmittags frei hatten - es war kein Training und auch kein verpflichtendes Abendessen im Hotel -, sind wir dann in dieses Lokal gefahren."

Weil von einem DFB-Mann eine Besprechung mit den Fahrern anberaumt worden sei, brach das Quartett erst später auf als ursprünglich geplant. "Deshalb sind wir nicht zum Zapfenstreich zurückgekommen, sondern anderthalb Stunden später. Das ist dann aufgeflogen", sagt Augenthaler.

"Als wir am Haupteingang ankamen, standen da schon 50, 60 Journalisten. Am Nebeneingang standen 20 oder 30 weitere. Wir sind dann über eine Mauer geklettert, aber irgendwann ist es doch rausgekommen."

Am nächsten Tag habe es "eine Riesenbesprechung" gegeben. "Da wurde uns gesagt: 'Strafe bezahlen oder heimfliegen.' Da haben wir geantwortet: 'Strafe zahlen wir nicht, weil wir es nicht einsehen. Wenn wir schon mal einen Tag frei haben, wollen wir das ausnutzen.' Wir konnten ja nichts dafür, dass uns die Fahrer nicht zur Verfügung standen. Wir haben im Endeffekt keine Strafe gezahlt und sind auch nicht heim geflogen."

Stattdessen habe man die Situation mit Beckenbauer und dem damaligen Präsidenten intern geregelt. "Die Journalisten waren natürlich enttäuscht, weil sie keine großen Schlagzeilen hatten. Wir dagegen hatten zuhause genügend Ärger", lacht Auge und stellt klar: "Es war kein Saufgelage, sondern ein anständiges Essen. Aber Stein wurde nicht wegen diesem Abend heimgeschickt. Das hatte andere Gründe, aber da müssen Sie Uli fragen." Dieser war für SPOX und Goal nicht erreichbar.

Das WM-Finale 1986 verlieren Augenthaler und Co. gegen Argentinien.imago images / Sven Simon

Beckenbauer lernt aus Fehlern von 86

Über die WM in Mexiko sagt Augenthaler rückblickend: "Wir waren von den Spielern her eine gute Mannschaft, aber wir waren keine Mannschaft im eigentlichen Sinne. Die Trainingsspiele waren mehr Krieg als Harmonie. Da waren viele übermotiviert. Es gab Gruppenbildung, da waren die Kölner, die Hamburger, die Bayern."

Beckenbauer sei zwar schon damals ein sehr guter Trainer gewesen, "sonst hätten wir es mit dieser Mannschaft ja nicht ins Finale geschafft", man habe aber gemerkt, dass der Kaiser "innerhalb von kürzester Zeit seine Mannschaft im Kopf hatte". Im Training habe bei den Nachmittagseinheiten stets die A- gegen die B-Mannschaft gespielt. Die Spieler aus der zweiten Reihe fühlten sich außen vorgelassen.

Vier Jahre später ist es in Italien anders. Beckenbauer bezieht die Führungsspieler und den Staff vermehrt in seine Entscheidungen mit ein, der große Bayern-Block, die Italien-Legionäre und allen voran Matthäus halten das Team zusammen. Auch das Wort des erfahrenen Augenthalers hat Gewicht. "Wir hatten schon einen gewissen Einfluss. Insbesondere Lothar hat als Kapitän und Platzhirsch eine ganz große Rolle gespielt. Das hat er sehr gut gemacht. Aber es gab auch keine großen Probleme. Das hätte man mitbekommen - wie in Mexiko. In Italien musste keiner heimfahren", sagt Auge.

Er spricht in diesem Zusammenhang von einer natürlichen Hierarchie. Beckenbauer sei viel gelassener gewesen und habe auch die weniger wichtigen Spieler durch große Rotation bei Laune gehalten. "Es kam jeder mit jedem gut aus. Da hat niemand den Stinkstiefel gegeben, da hat sich keiner bei einem Haus-und-Hof-Journalisten ausgeheult."

In Italien lässt Beckenbauer die Leine länger, arbeitet nach dem Laissez-Faire-Prinzip und räumt seinen Schützlingen viele Freiheiten ein.

"Nach den Spielen wurde mit den Familien gemeinsam im Hotel gegessen. Es gab keinen Zapfenstreich. Jeder konnte trinken, was er wollte und ins Bett gehen, wann er wollte. Aber es galt: das Hotel nicht verlassen. Das hat uns zusammengeschweißt. Am nächsten Tag hat man dann beim Training ein bisschen was ausgeschwitzt."

An den freien Tagen dürfen die Familien die Spieler im Mannschaftshotel besuchen, an freien Nachmittagen fahren die Spieler zu ihren Familien in deren Hotels. Die in der Region beheimateten Legionäre Matthäus, Brehme und Klinsmann wiederum führen ein Freigänger-Dasein, verbringen regelmäßig Zeit in den eigenen vier Wänden.

"Man kann doch am besten entspannen und abschalten", sagt Augenthaler, "wenn man seine Familie um sich hat."

Regelmäßige Unternehmungen wie gemeinsame Ausflüge verstärken den Teamspirit. "Lothar kannte sich ja aus in der Region. Wir hatten ein Boot am Comer See, sind damit hin und wieder raus gefahren. Das war wie ein Betriebsausflug."

Die Spieler honorieren die Freiräume mit harter Arbeit, halten sich zwischen den Partien an die Regeln. "Wenn um 11 Uhr Zapfenstreich war, dann war auch jeder im Hotel. Da war keiner, der mal ausgebüchst ist. Also nicht wie früher in Malente, als Sepp Maier anscheinend über den Zaun gestiegen ist", sagt Augenthaler grinsend.

Anfang Juli sind Deutschland, England, Italien und Argentinien die letzten Verbliebenen im Turnier.

In Turin wird rund um das deutsche Halbfinale gegen die Three Lions ein 63-stündiges Alkoholverbot verhängt, um mögliche Ausschreitungen zu verhindern. Schon Tage vor der Partie gleicht die Stadt einer Festung. Insgesamt 8.000 Sicherheitskräfte sollen für Ordnung sorgen. Letztlich kracht es dennoch. Italienische Ultras provozieren eine Straßenschlacht, es fliegen Steine, Molotow-Cocktails und Flaschen. Es sollte die "Rache für Heysel" sein, 43 Italiener werden festgenommen.

Die deutsche Mannschaft, von der Öffentlichkeit weitgehend abgeschnitten, bekommt von all dem nichts mit. Nach fünf Spielen im Giuseppe Meazza muss die Beckenbauer-Elf erstmals bei diesem Turnier in einem anderen Stadion ran.

Im Delle Alpi entwickelt sich eine zähe Partie, Deutschland kommt nach 90 Minuten und Treffern von Brehme und Gary Lineker trotz technischer wie spielerischer Überlegenheit nicht über ein 1:1 hinaus.

Erst im Elfmeterschießen fällt die Entscheidung. Nach Treffern von Brehme, Matthäus und Karl-Heinz Riedle pariert Bodo Illgner gegen Stuart Pearce, ehe Olaf Thon verwandelt und Chris Waddle den Ball auf die Tribüne jagt. Beckenbauer, der ausgewechselte Völler und all die anderen stürmen von der deutschen Bank auf den Rasen, das Gespenst von Wembley ist endgültig verscheucht.

Klaus Augenthaler im Spiel gegen England.imago images / Kicker/Liedel

Deutschland - Argentinien: Die Neuauflage des 86er-Finales

Am 8. Juli ist es so weit, die ganze Welt blickt nach Rom auf das große Finale, auf die Neuauflage des 1986er-Endspiels gegen Argentinien.

Auf der einen Seite Deutschland um den überragenden Matthäus, auf der anderen die Gauchos um den bei der diesjährigen WM schwächelnden und torlosen 86er-Helden Diego Maradona. "Ich erinnere mich noch gut an den Tag des Finals", erzählt Augenthaler.

Nach dem Frühstück wird trainiert, anschließend stehen ein gemeinsames Mittagessen und Bettruhe auf dem Programm. "Du warst zwar müde und kaputt von der ganzen Anspannung, aber geschlafen hat da glaube ich keiner", sagt Augenthaler. Wie einige seiner Mitspieler sieht sich Auge am Nachmittag das Wimbledon-Finale zwischen Boris Becker und Stefan Edberg an.

"Eigentlich hat das in diesem Moment niemanden von uns interessiert. Du hast ständig nur auf die Uhr geschaut, auf das Kaffeetrinken, die Besprechung und die Fahrt ins Stadion hin gefiebert."

Als der Mannschaftsbus endlich losfährt, realisieren die Spieler, dass plötzlich ein ganzes Land geschlossen hinter der deutschen Mannschaft steht. Die Stimmung sei über das gesamte Turnier sehr gut gewesen, "wir waren überall gerne gesehen", sagt Auge: "Aber am besten war es vor dem Finale: Weil die Argentinier die Italiener rausgehauen haben, standen alle Italiener hinter uns. Sie standen mit Deutschland- und Italien-Fahnen am Straßenrand und riefen: 'Morte, Morte, Argentina!'"

Als Schiedsrichter Codesal Mendez die Partie um 20 Uhr anpfeift, tummeln sich 73.603 Zuschauer auf den Rängen des Römer Olympiastadions - und wieder ist es ein gefühltes Heimspiel für die DFB-Elf.

90 Minuten und ein goldenes Brehme-Tor später ist es tatsächlich vollbracht. Der Kanzler und der Kaiser, die Spieler und die Fans jubeln in Rom, ein paar hundert Kilometer weiter knallen in Deutschland die Korken. Wildfremde Menschen liegen sich in den Armen.

Augenthaler und die Doping-Probe: "Hat leider vier Stunden gedauert"

Als die offizielle Party beginnt, fehlt nur einer, der als letzter deutscher Akteur noch immer am Spielort weilt: Klaus Augenthaler.

Es ist schon beinahe Mitternacht. Kurz nach seinem größten Triumph sitzt der Mann, der bei der WM keine Minute verpasst und eine tragende Rolle gespielt hat, in einem kleinen, sterilen Raum in den verwinkelten Katakomben des Römer Olympiastadions. Ganz allein. Stundenlang.

"Ich musste zur Doping-Kontrolle - das hat leider vier Stunden gedauert. Es gab kein Bier, nur Wasser. Dann hast du gedacht: Hände unters Wasser, Füße unters Wasser, aber selbst dann war es nie genug für die Herren von der FIFA."

Als Augenthaler schließlich mit fünfstündiger Verspätung im Hotel ankommt, sind die dicken Zigarren bereits geraucht. "Alles war bereits in vollem Gange, aber es war trotzdem eine super Feier."

Die kommenden Tage gleichen einer Dauerparty, das DFB-Team wird erst hier und dann da empfangen, in Deutschland herrscht Ausnahmezustand.

"Dass wir Weltmeister geworden sind", sagt Augenthaler, "habe ich erst Tage später realisiert. Dann hatte man zehn Tage Urlaub und dann ging es auch schon weiter. Da kam zum Beispiel die Freiwillige Feuerwehr mit einem Fass Bier vors Haus. Die ganze Straße wurde abgesperrt. Aber dann ging es ja auch schon wieder beim FC Bayern mit dem Training los."

Den Titelgewinn habe er sofort wieder ausgeblendet, sagt Auge. "Ich bin da nicht rumgelaufen und dachte: 'Jetzt bin ich Weltmeister, jetzt mache ich mal schön langsam.'"

Erst 20 Jahre später schaut sich Augenthaler das Finale noch einmal hat. "Da kamen natürlich wieder Erinnerungen hoch, man hatte die eine oder andere Spielsituation vor Augen, das eine oder andere Bild von der Feier und diesen bescheuerten Zander", lacht Augenthaler: "Und rückblickend kann ich sagen: Tatsächlich begriffen habe ich es erst Jahre später, dass wir Weltmeister geworden sind."