Kommentar zum EM-Triumph: Italiens Momente werden die Zeit überdauern

Filippo Cataldo
12. Juli 202112:17
Italien hat sich zum Europameister gekrönt.getty
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Der EM-Sieg der Azzurri macht die vielen Corona-Toten natürlich nicht weniger schlimm und wird die Welt nicht besser machen. Aber der Triumph der "mannschaftlichsten Mannschaft der Geschichte" stiftet Hoffnung und war genau das, was dieses Turnier des schönen Fußballs verdient hat. Ein Kommentar.

Zugegeben, die Versuchung ist groß. Aber man darf auch nicht zu viel hineininterpretieren in diesen Triumph der Azzurri bei der EM. Der Fußball nimmt sich auch so schon viel zu wichtig.

Am Ende hat die Frage, welche Mannschaft da gerade hochverdient ein wichtiges Fußballturnier gewonnen hat, keine Relevanz für die vielen drängenden gesellschaftlichen Themen unserer Zeit. Aber natürlich ist der Fußball, ist der Umgang untereinander und mit den Gegnern, ist die Verarbeitung von Sieg und Niederlage eines Spiels ein Spiegel der Gesellschaft.

Insofern hat die richtige Mannschaft dieses Finale gewonnen. Eine Mannschaft, die im wahrsten Sinne des Wortes zusammengehalten hat, die "mannschaftlichste Mannschaft der Geschichte", wie Leonardo Bonucci vor ein paar Tagen so schön sagte. Eine Mannschaft, die an sich geglaubt hat. Und vielleicht auch an den Text ihrer Hymne ("Lasst uns zusammenrücken, wir sind bereit zu sterben").

Italien hat sich zum Europameister gekrönt.getty

Italien war Favorit - aber das wusste nur die Mannschaft

Eine Mannschaft, die vor drei Jahren in Trümmern am Boden lag und jetzt den Risorgimentos des Calcio, die Wiedergeburt des italienischen Fußballs feiert. Die Azzurri sind schon als Top-Favorit zur EM gereist. Nur, dass das außer den Spielern und ihren Trainern wirklich niemand wusste.

Die Azzurri waren bei Weitem nicht die talentierteste Mannschaft des Turniers, sie waren auch nicht die talentierteste Mannschaft im Finale. Aber sie waren das best organisierte Team des Turniers. Sie sind eine Mannschaft zum Verlieben, sie machen den Sommer leichter.

Die Azzurri haben sich gemeinsam gefreut, sie haben gemeinsam gelitten. Sie haben sich Trost gespendet und Mut gemacht nach Leonardo Spinazzolas schwerer Verletzung und sie haben auch über sich selbst gelacht und sich selbst aufgezogen, als Ciro Immobile den sterbenden Schwan gegen Belgien mimen musste. Giorgio Chiellinis Lachen und seine Umarmungen werden die Zeit genauso überdauern wie Gianluigi Donnarummas Parade von Bukayo Sakas Elfmeter. Italien hat in den letzten Wochen Europa umarmt.

Hässliche Bilder aus London geschehen UEFA recht

Italien hat tonnenweise schöne Bilder produziert während dieses Turniers des guten Fußballs und der verheerenden Peinlichkeiten der UEFA. Der Verband hat vor Beginn des Finales so noch einmal genau die hässlichen Bilder aus Wembley bekommen, die er verdient. Aber dieses Turnier hat immerhin einen würdigen Sieger erhalten.

Wie gesagt: Man sollte das alles nicht überhöhen. Natürlich wird Italien jetzt nicht endlich seit Jahrzehnten überfällige politische und strukturelle Reformen durchführen, natürlich werden die vielen Corona-Toten und die Folgen der Pandemie nicht weniger schlimm, weil Trainer Roberto Mancini die Nationalmannschaft neu erfunden hat und die Azzurri plötzlich schönen Fußball spielen.

Andersherum würde es in England (und anderswo auf der Welt) leider nicht weniger Rassisten geben, hätten Marcus Rashford, Jadon Sancho und Bukayo Saka ihre Elfmeter verwandelt; umso wichtiger, dass Fußballer aller Länder und aller Hautfarben sich weiter gegen Diskriminierung jeder Art einsetzen, dass sie weiter knien und weiter Regenbogenbinden tragen.

Italien bei der EM: Chiellinis Gedanken bei Pandemie-Opfern

Die Welt wird wegen dieser symbolischen Akte allein nicht besser und gerechter werden.

Italien wird sich nicht ändern, nur weil die Squadra Azzurra plötzlich in ganz Kontinental-Europa als schick gilt und weil wenige Wochen vor ihr schon die in allen Belangen lässige italienische Band Maneskin den ESC gewonnen hat. Es war nur der ESC. Es ist nur Fußball.

Aber Hoffnung machen darf einem das alles schon. Die knienden Fußballer. Manuel Neuers Regenbogenbinde. Die Solidarität der Azzurri mit den Opfern der Pandemie.

Dass Chiellini nicht einmal eine Stunde nach dem Triumph in drei hochemotionalen Tweets all jenen dankte, die "von der Pandemie auf die Knie gezwungen wurden" und die "uns das Leben gerettet haben: die Ärzte" und "euch allen dieses Ergebnis, diesen Sieg, diese Freudentränen" widmete: Das war natürlich maximal pathetisch. Aber vielleicht wirklich genau das, was wir hören wollten und gebraucht haben.