Nach dem Vorrundenaus bei der WM 2018 in Russland benötigt das DFB-Team nicht zwingend einen sportlichen Neustart. Vielmehr sollten sich die Granden des DFB grundlegende Gedanken machen, wie sie der Entfremdung zwischen Fans und Mannschaft sowie dem damit einhergehenden Identifikationsverlust mit dem Marketingprodukt Nationalmannschaft entgegentreten wollen. Ein Kommentar von SPOX-Redakteur Jochen Tittmar.
In den nächsten Tagen wird man deutlicher erkennen können, ob das eintritt, was Toni Kroos schon nach dem Spiel gegen Schweden äußerte. Nämlich dass sich nun "relativ viele Leute in Deutschland" freuen, weil die Nationalelf bei der WM 2018 in der Vorrunde gescheitert ist.
Es wurde in der Folge nicht ganz klar, ob sich Kroos damit auf vermeintlich zu kritische Medienberichte bezog oder einfach nur dumme Rechtspopulisten meinte, denen das DFB-Team zu undeutsch daherkommt.
Wie Kroos' Aussage letztlich gemeint war, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden. Man kann aber leicht daran anknüpfen, denn relativ vielen Leuten in Deutschland scheint das Scheitern der DFB-Auswahl relativ egal zu sein. Und das hat Gründe, nicht zu wenige sogar.
Wie will man der mangelnden Identifikation entgegentreten?
Was zunächst einmal feststeht, auch nach dem Nachmittag von Kasan: Einen grundsätzlichen sportlichen Neustart braucht die Nationalelf nicht zwingend. Deutschland reiste mit einem sehr guten Kader nach Russland, kann auf ein großes Repertoire von talentierten Spielern zurückgreifen und wird auch bei den nächsten Turnieren Akteure berufen, die in der Lage sein werden, die Ansprüche des Verbands zu erfüllen. Auch unabhängig von einem möglichen Rücktritt von Joachim Löw.
Worüber sich die Granden des DFB grundlegende Gedanken machen sollten, und dafür hätte es diese Stunde null gar nicht gebraucht, ist, wie man der längst offensichtlichen Entfremdung zwischen Zuschauern und Mannschaft sowie der damit einhergehenden mangelnden Identifikation mit dem Marketingprodukt DFB-Team entgegentreten will.
Spötter nennen diese Entwicklung, die in den Jahren nach der freudetrunkenen Heim-WM 2006 nach und nach Einzug erhalten hat, die Bierhoffisierung der Nationalmannschaft. Sie fällt jedenfalls in den Verantwortungsbereich des Managers.
Aufgeblasene und künstliche Vermarktung des DFB-Teams
Gemeint sind damit stupide Marketingclaims und Hashtags wie #BereitWieNie und #DerVierteStern (2014), #ViveLaMannschaft (2016) oder die aktuellen #BestNeverRest sowie #zsmmn. Ein mündiger Spieler wie Mats Hummels ließ schon wenig später durchblicken, dass auch er nichts davon hält, das deutsche Nationalteam künftig "Die Mannschaft" zu schimpfen. Was ohnehin niemand in Deutschland tut. Niemand.
Gemeint ist auch der, und nun Obacht, "Fan Club Nationalmannschaft powered by Coca-Cola", der beim Ticketkauf "exklusive Vorverkaufsphasen" und den "Wegfall der Vorverkaufsgebühren" propagiert, während der DFB im letzten Testkick vor der WM gegen den Unrechtsstaat Saudi-Arabien nicht einmal das kleine Leverkusener Stadion ausverkauft bekommt. Man könnte problemlos weitere Beispiele überteuerter Eintrittspreise und familienunfreundlicher Anstoßzeiten aufzählen.
Gemeint sind neben dieser aufgeblasenen wie künstlichen Vermarktung aber auch vermeintliche Kleinigkeiten wie die Abschottung in den Trainingslagern vor und in den Quartieren während der Turniere. Dass sich dazu noch alle zwei Jahre die halbe Bevölkerung des Landes Schminke ins Gesicht schmiert und im Freien zusammengepfercht "Schland" brüllt - bestimmt nicht jedermanns Geschmack, aber geschenkt.
Das Feindbild DFB ist in den Stadien größer geworden
Doch es ist die Summe all dessen, wenngleich auch jeder einzelne der soeben aufgezählten Aspekte ausreichen würde, die für eine grundsätzliche Abkehr von der Basis der deutschen Fußballfans steht. Die permanente Inszenierung der Nationalelf ist vielen Vereinsfans, die den Fußball das ganze Jahr über intensiv begleiten und die eigentliche Zielgruppe des DFB sein müssten, derart ein Dorn im Auge, dass Interesse und Identifikation mit Deutschlands vermeintlicher Elite-Auswahl vollkommen verloren gegangen sind.
Das Feindbild DFB ist in den letzten Jahren in den Kurven der deutschen Stadien immer weiter gewachsen. Mittlerweile stimmen selbst verfeindete Fangruppen Wechselgesänge an, um den Verband aufs Schärfste zu verunglimpfen.
Daher ist es eine reichlich fragwürdige Annahme, wenn Präsident Reinhard Grindel mit Blick auf die Weltmeisterschaft sagt: "Wir werden erleben, dass sich Fans von Schalke und Dortmund in den Armen liegen, weil ein Spieler des FC Bayern ein Tor erzielt hat."
Abkehr oder starke Reduzierung der Vermarktungsstrategie
Was sich vermutlich viele Fans von Schalke und Dortmund mittlerweile höchstens noch wünschen, ist, dass "ihre" Spieler unverletzt vom Nationalteam zurückkehren. Weil eben die Fans einer Vereinsmannschaft immer häufiger keine Fans der Nationalelf (mehr) sind.
Diese mangelnde Identifikation spüren natürlich auch die Spieler, besonders im Kontrast zwischen ihrem alltäglichen Klub-Umfeld und einer Einladung zum DFB-Team alle paar Monate. Es besteht so die Gefahr, dass sie auf die Nationalkicker übergreift. Und Länderspiele mit durchchoreographierter Schlafwagen-Stimmung gibt es jetzt schon genug, um sie weniger attraktiv als Partien mit dem eigenen Verein zu finden.
Um nach dem historischen Desaster der WM 2018 den Neustart zu wagen, muss es in sportlicher Hinsicht keinen radikalen Schnitt geben, sondern vielmehr eine deutliche Abkehr oder zumindest starke Reduzierung der bisherigen Vermarktungsstrategie geben. Oder, um mit der etwas derberen Sprache der Fankurven zu sprechen: nur weniger Quatsch führt zu mehr Identifikation.