Die schwere Verletzung von Arkadiusz Milik war nach dem Transfer von Gonzalo Higuain die zweite Hiobsbotschaft für Napoli in wenigen Monaten. Ohne echten Stürmer schien die Partenopei am Boden, doch genau das Gegenteil war der Fall. Das Team von Maurizio Sarri ist seit Ende Oktober ungeschlagen und zeigt ohne eine wahre Spitze Fußball vom Allerfeinsten. Die Rückkehr von Milik ist plötzlich eine Randnotiz. Am Abend treffen die Italiener in der Champions League auf Real Madrid (20.45 Uhr im LIVETICKER).
Als der Vesuv im vergangenen Sommer über Neapel hereinbrach, waren die Folgen verheerend. Chaos, Feuer und aufgebrachte Massen dominierten die Straßen. Wie konnte das passieren? Wie konnte Gonzalo Higuain, der auf dem besten Weg war, Maradonas würdiger Erbe zu werden, die Partenopei verlassen?
Rational lässt sich diese Frage schnell beantworten, in Neapel entscheidet man jedoch mit dem Herzen. Ein Sprichwort besagt: "L'ammore fa passà 'o tiempo e 'o tiempo fa passà l'ammore." Die Liebe lässt die Zeit vergehen und die Zeit lässt die Liebe vergehen.
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Besonders schnell vergeht dabei die Liebe, wenn die Vereinsführung wenige Tage nach der Apokalypse einen jungen Polen verpflichtet, der in seinen ersten neun Pflichtspielen sieben Tore erzielt.
Ein Ausbruch kommt selten allein
Arkadiusz Milik schlug in Neapel ein wie eine Bombe und flickte Millionen hellblauer Herzen mit chirurgischer Präsizion. Wer brauchte jetzt noch Higuain? Man hatte doch den polnischen Bomber; jung, eiskalt und voller Potenzial. Die Neapolitaner übten sich in ihrer "trunknen Selbstvergessenheit", die ihnen schon Goethe bescheinigte - bis der Vesuv erneut ausbrach.
Milik riss sich bereits im Oktober bei der Nationalmannschaft das Kreuzband und der Herzschmerz setzte nach gerade mal einem Monat wieder ein. Das Transferfenster war schon geschlossen und der einzige weitere Stürmer im Kader war Manolo Gabbiadini, der ohnehin mehr eine hängende Spitze als einen klassischen Goalgetter darstellt. Was sollte Napoli nun tun?
Der Moment Neapels
Die üblichen Gerüchte machten in Folge die Runde, ein Oldie sollte als kurzfristiger Ersatz geholt werden. Miroslav Klose befand sich unter den Kandidaten, auch Didier Drogba. Sogar Antonio di Natale war angeblich im Gespräch. Aber auch eine interne Lösung war stets denkbar. Il Messaggero titelte sogar "Es ist der Moment Gabbiadinis".
Am Ende wurde er es nicht. Es wurde dagegen der Moment Mertens', der Moment Hamsiks, der Moment Insignes - kurz: Es wurde der Moment Neapels.
Mit der Installierung von Dries Mertens als falsche Neun begann langsam aber sicher der Lauf der Neapolitaner, die nunmehr seit dem 29.10, als man gegen Juventus verlor, in allen Wettbewerben ungeschlagen sind. Allein in diesem Zeitraum netzte die Partenopei unglaubliche 44 Mal ein - bei nur 16 Gegentoren und in den meisten Fällen ohne echten Stürmer auf dem Platz. Wie kann das sein? Ein Blick auf die Taktik Napolis kann eine Erklärung liefern.
Alle Mann nach vorne
Maurizio Sarri schickt seine Mannschaft stets in einem offensiv ausgerichteten 4-3-3 auf den Platz. Im Spielaufbau wird dabei der Ball von den Innenverteidigern an den Sechser weitergegeben, also wahlweise Jorginho oder Diawara. Ab hier entfaltet sich das Offensivspiel der Italiener, ein gern gesehener Spielzug ließe sich dabei wie folgt beschreiben:
Einer der Flügelspieler lässt sich zentral nach hinten fallen, während sein entsprechender Kollege auf der Achterposition nach vorne zieht. Der Außenspieler erhält den Ball vom Sechser und verlagert das Spiel sogleich auf die andere Seite, während sich die nominelle Spitze nach hinten fallen lässt. In seinem Rücken sucht derweil der nach vorne gerückte Achter, die in Sarris System eher als Halb-Flügelspieler bezeichnet werden sollten, die entstandene Lücke.
Kann kein gefährlicher Pass gespielt werden, so ist dies halb so schlimm - denn in der Zwischenzeit sind die beiden Außenverteidiger, Ghoulam und Hysaj, bereits weit nach vorne gerückt und bieten an den Seitenrändern jeweils eine Anspielstation an. Da sich mittlerweile fast alle Offensivspieler zentral in der Tiefe befinden, haben die Außenverteidiger dazu noch viel Platz und sind in der Lage, zur Grundlinie zu marschieren. Wird dieser Raum zugemacht, so entsteht zwangsläufig Platz in den Halbräumen, der sogleich von den Mitspielern besetzt wird.
Hamsik als Schlüssel
Dem Raum zwischen Abwehr und Mittelfeld zentral vor dem Sechzehner kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Hier hält sich üblicherweise die Offensivreihe und einer der Halb-Flügelspieler auf. Dadurch binden sie die gesamte Viererkette und schaffen Platz für die Außenverteidiger. Dazu befinden sich die Offensivleute stets in Bewegung und beginnen Läufe in die Tiefe, wenn sich die Gelegenheit bietet.
Hamsik kann dabei getrost als Schlüsselspieler bezeichnet werden. Der Slowake penetriert als Halb-Flügelspieler die Halbräume, lässt sich aber oft auch nach hinten fallen, um das Spiel mit einem genialen Moment nach vorne zu treiben. Die Partenopei stellt mit ihm auch gerne die rechte Seite des Gegners zu, auch da das Zusammenspiel zwischen Insigne und dem angeblich vom FC Bayern umgarnten Ghoulam hervorragend läuft. Bis zu fünf Neapolitaner attackieren dabei die linke Hälfte und versuchen, sich mit Doppelpässen nach vorne zu spielen. Auf der anderen Seite wartet dabei Callejon, der sich schließlich im richtigen Moment löst und den Pass in die Tiefe erwartet.
Verwirrung führt zum Ziel
Ein großer Vorteil liegt dabei auf der Hand. Durch die ständigen Läufe abseits des Balles gelingt es dem Team von Sarri, die Defensive der Gegner zu verwirren und auseinanderzuziehen. Dazu ist keine echte Spitze nötig - im Gegenteil. Der schnelle und wendige Mertens ist für diesen Zweck besser geeignet und kann umso mehr Konfusion verbreiten, da er ohne feste Position auch ohne festen Gegenspieler bleibt. So können auch gegen tief stehende Mannschaften offene Räume erarbeitet werden, auf Flanken wird kaum zurückgegriffen. Wenn überhaupt, dann ist der Zielspieler Callejon, der im Rücken der Abwehrspieler zum ersten Pfosten schneidet.
Verliert Napoli den Ball, so geht die Mannschaft sofort in ein intensives Gegenpressing über. Kann der Gegner die Bemühungen überwinden, so ziehen sich die Hellblauen in ein hochstehendes 4-5-1 zurück, um bei Ballgewinn sofort wieder die Vertikalität aufzusuchen. Die Konteranfälligkeit erklärt sich von selbst, doch solange man mehr Tore als der Gegner schießt, besteht auch kein Problem. So entstehen vogelwilde Spiele wie das 5:3 gegen den FC Turin oder das 3:3 gegen den AC Florenz. Diese Philosophie unterscheidet Sarri immens von fast allen anderen italienischen Trainern - und rückt ihn in die Nähe von Jürgen Klopp, der in dieser Saison seine Reds sehr ähnlich spielen lässt.
Verstärkung für die Breite
Ein weiterer Grund für Napolis Aufstieg findet sich in zwei neuen Personalien. Mit Piotr Zielinski und dem bereits genannten Amadou Diawara sind den Italienern zwei echte Coups gelungen. Die Youngster verstärken das Team ungemein in der Breite und können die eigentlich gesetzten Jorginho und Allan im Mittelfeld ohne Abstriche ersetzen.
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Vor allem der erst 19-Jährige Diawara ist für sein Alter beängstigend. Der Guineer ist physisch eine Wucht, gleichzeitig aber schnell und mit begnadeter Ballbehandlung ausgestattet. Dies ist umso beeindruckender, beachtet man, dass Diawara erst vor zwei Jahren von einem afrikanischen Kirchenverein nach San Marino in die dritte italienische Liga gewechselt ist - und jetzt als einer der besten Sechser in der wohl taktisch anspruchsvollsten Liga der Welt gilt.
Kann Napoli die Königlichen gefährden?
Gegen Real Madrid erwartet die Partenopei nun ein Härtetest sondergleichen. Sarri wird dabei seine Philosophie sicherlich nicht aufgeben und den Spielaufbau der Königlichen aggressiv attackieren. Sind die Spanier darauf nicht vorbereitet, so könnte das Ergebnis verheerend sein. Doch Zinedine Zidane bewies bereits im vergangenen Ligaspiel gegen Sevilla, dass er durchaus dazu bereit ist, sein System am Gegner anzupassen.
Gegen eine der weltbesten Mannschaften im Umschaltspiel wird allerdings die Konteranfälligkeit ein großes Problem darstellen. Die Defensive der Neapolitaner muss schlicht einen hervorragenden Tag erwischen und ein perfektes Stellungsspiel zur Schau stellen, möchte man dieses Risiko unterbinden. Möglich wird dies allemal sein, werden die Jungs von Sarri doch hochmotiviert sein.
Arkadiusz Milik ist derweil seit Anfang Februar wieder einsatzbereit und stand auch schon zwei Mal im Kader. Mit Leonardo Pavoletti hat Napoli zu Beginn des Jahres zudem einen weiteren vielversprechenden Stürmer verpflichtet. Allerdings sah Milik bislang keine Minute Spielzeit und auch bei Pavoletti reichte es nur für zwei Kurzeinsätze. Aber wozu auch? Sarri hat doch Hamsik, er hat Mertens, er hat Insigne - kurz: Er hat Napoli.