Zeit des Querläufers

Stefan Rommel
14. November 201213:41
Marco Reus steht gegen die Niederlande vor seinem 14. LänderspielGetty
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Die Malaise im deutschen Angriff drängt Bundestrainer Joachim Löw zu einem lange geplanten Experiment. Der Test gegen die Niederlande (20.15 Uhr im LIVE-TICKER) erhält damit einen interessanten Nebenaspekt.

Irgendwann musste das ja so weit kommen. Bisher hatten Miroslav Klose und Mario Gomez ihre Fehlzeiten im DFB-Dress immer so gelegt, dass wenigstens einer von beiden zum Dienst erscheinen und die deutsche Mannschaft im Angriff unterstützen konnte.

Beim Testspiel gegen die Niederlande, das trotz aller Widrigkeiten im Vorfeld immer noch unter der Bezeichnung Prestigeduell firmiert, ist es nun so, dass weder Klose noch Gomez mit nach Amsterdam gereist sind.

Klose und Gomez "wirklich" nicht fit

Es schwingt schon eine Spur Ironie mit, dass sich beide keine jener taktischen Verletzungen zugezogen haben, die so manch anderem den Ausflug zu den lieben Nachbarn verwehrt hat. Klose und Gomez sind in der Tat körperlich nicht auf der Höhe.

"Ich war am Sonntag nach dem Derby in Rom noch mit Miro beim Essen. Da war er schon schwer erkältet. Das hat sich dann über Nacht noch verschlimmert", erzählte Joachim Löw am Dienstag die Erlebnisse mit Klose.

Mario Gomez war drei Monate wegen einer Operation am Sprunggelenk von der Bildfläche verschwunden. Seit zwei Wochen trainiert er wieder mit der Mannschaft. Praktischerweise hat ihm sein Verein Bayern München am Dienstagabend extra noch ein Testspiel organisiert. Gegen den Landesligisten Falke Markt Schwaben erzielte Gomez vier Tore beim 6:0-Sieg und wähnt sich auf dem Weg zur Rückkehr. Das Spiel der Nationalmannschaft gegen die Niederlande kommt aber dann doch noch ein paar Wochen zu früh.

Kießling derzeit kein Thema

Auch Cacau ist seit Wochen wegen eines Kreuzbandrisses außer Gefecht. Zuletzt war der Stuttgarter aber ohnehin nur noch eine Art Stand-by-Nationalspieler. Löw hat ihn seit der Ausbootung vor der EM nicht mehr berücksichtigt.

Eigentlich liegt da die Vermutung nahe, dass der Bundestrainer sich an den derzeit erfolgreichsten deutschen Torschützen überhaupt erinnert. Stefan Kießling hat im Kalenderjahr 2012 19 Tore erzielt, so viele wie kein anderer deutscher Angreifer. Aber Kießling ist nicht dabei in Amsterdam.

"Ich registriere seine guten Leistungen in Leverkusen absolut", sagt Löw. Der sechsmalige Nationalspieler Kießling sei "nicht in Vergessenheit geraten. Aber in diesem Spiel will ich eine andere Variante testen."

Novum der Länderspielgeschichte

Diese Variante dürfte die Kombination zweier Löw-Ideen sein, die den Bundestrainer schon länger beschäftigt. Löw hat sich im Laufe der Zeit vom Über-Ich Spanien losgelöst. Früher dienten die Iberer als Rollenmodell für den deutschen Spielstil. Mittlerweile werden die Alles-Gewinner kaum noch als Referenzgröße herangezogen.

Und trotzdem wird heute Abend überspitzt formuliert das erste Mal in der Geschichte deutscher Länderspiele eine Mannschaft ohne echten Mittelstürmer auflaufen. Im 869. Auftritt schafft Deutschland den Angriff ab.

Was die Spanier seit Jahren schon praktizieren, was mittlerweile in einige europäische Klubs Einzug gehalten hat und von den Spaniern beim WM-Qualifikationsspiel in Weißrussland mit einer Dreierkette und sieben Mittelfeldspielern davor auf die Spitze getrieben wurde, wird in der Amsterdam Arena auch erstmals von der deutschen Mannschaft geprobt.

"Im Notfall machen wir es eben so wie Spanien und spielen ohne Stürmer. Wir haben ohnehin ein Überangebot an Mittelfeldspielern", hatte Klose bereits während der EM angedeutet. Ein kleiner Notfall tritt jetzt ein.

Reus mit neuer Aufgabe

Als Protagonist hat sich Löw offenbar Marco Reus auserkoren - womit der Bundestrainer seine zweite Vision mit Leben füllen würde. Vor der Europameisterschaft hatte Löw im Trainingslager auf Sardinien plötzlich die Idee in den Raum geworfen, den Dortmunder in die Spitze zu beordern. "Ich würde ihn mal gerne ganz vorne sehen", merkte Löw im Mai an. "Mit seinen technischen Fertigkeiten ist er im Kombinationsspiel auch anspielbar in der letzten Linie."

Auch im Land von Lehner, Seeler, Müller, Rummenigge, Völler, Streich oder Klinsmann muss man sich den Anforderungen und Gegebenheiten anpassen. Und dort offenbart sich hinter Klose, Gomez und vielleicht noch Kießling ziemliches Brachland.

Nun also Reus. "Ich habe zwei, drei Varianten, die ich mir durch den Kopf gehen lasse", schickte Löw noch los, um die Gemengelage etwas undurchsichtiger zu halten. Etwas später verriet Löw aber zwischen den Zeilen seinen Plan.

"Lukas Podolski kann diese Rolle im Angriff spielen, ist aber eher der Spieler, der hinter einer zentralen Spitze noch stärker zur Geltung kommen kann. Er hat für mich auch über die linke Seite häufig gut gespielt bei der Nationalmannschaft. Auch bei Arsenal kommt er mehr über die Seite", erläuterte Löw. "Lukas kann das spielen, aber ganz vorne in der Spitze ist nicht seine absolute Idealposition."

Verändertes Anforderungsprofil

Reus' genaue Stellenbeschreibung sollte dabei eher auf dessen Funktion anstelle der Position abzielen. Im Prinzip ist es ja nur eine Formalie, dass der DFB-Kader zwei Torhüter, sechs Abwehr- und elf Mittelfeldspieler ausweist. Vielmehr sollte Reus' Wirkungsweise gegen die Niederländer von Belang sein.

Anders als Klose oder Gomez wird Reus vermutlich noch öfter querlaufen, den Raum für Druckpässe aus der Innenverteidigung öffnen und auf der anderen Seite die gegnerischen Innenverteidiger aus ihrem gewohnten Schema reißen.

Wenn es im Ein-Angreifer-System darum geht, einen der Innenverteidiger durch Abfallen ins Mittelfeld aus der Kette zu ziehen, um dadurch die Lücke zu schaffen für einlaufende offensive Mittelfeldspieler, dann wird dieser Effekt mit einem Spieler im Halbraum unter Umständen noch verstärkt.

Weil den Innenverteidigern anders als bei einem Gegner mit einem oder sogar zwei Angreifern der ständige Bezugspunkt für ihre Abwehraktionen und zur Orientierung fehlt und sich der angreifende Spieler immer im Rücken der defensiven Mittelfeldspieler bewegen kann. Reus könnte hierfür eine ganz spezielle Waffe sein. "Er kann sich wahnsinnig schnell drehen, ist wendig, beweglich und abschlussstark", sagt Löw über ihn.

Ohne die vielen Absagen auf beiden Seiten wäre die Partie in Amsterdam als Standortbestimmung für die deutsche Mannschaft nach dem Remis gegen Schweden durchgegangen. Als Gratmesser dafür kann das Spiel jetzt kaum mehr dienen, dafür sind die Formationen auf beiden Seiten zu verwässert.

Dafür wird es ziemlich spannend zu beobachten sein, wie das Reus-Experiment das Spiel der deutschen Mannschaft beeinflussen wird. Auf mittelfristige Sicht dürften die Erkenntnisse ebenso wertvoll sein wie ein ordentliches Resultat zum Jahresabschluss.

Die voraussichtlichen Aufstellungen

Niederlande: Krul - van Rhijn, Heitinga, Vlaar, Martins Indi - de Jong, Emanuelson - Robben, Afellay, van der Vaart - Huntelaar

Deutschland: Neuer - Höwedes, Mertesacker, Hummels, Lahm - L. Bender, Gündogan - Müller, Götze, Podolski - Reus

Schiedsrichter: Proenca (Portugal)

Niederlande - Deutschland: Die ewige Bilanz