In Frankreich bahnt sich eine Fußball-Revolution an: Erstmals seit sieben Jahren dürfte der Meister der Ligue 1 nicht Olympique Lyon heißen. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Dass außer Karim Benzema kein Spieler das Tor trifft, reicht als Erklärung bei weitem nicht aus.
Was ist aus dem Fußball geworden? Ehemals unveränderliche Tatsachen verlieren ihre Gültigkeit und eiserne Regeln geraten ins Schwanken. "Am Ende gewinnen immer die Deutschen" bewahrheitete sich letztmals bei der EM 1996. "Das nächste Spiel ist immer das schwerste" gilt nur vor einer Partie gegen Barca und zu allem Überfluss kommt der französische Meister 2009 wohl nicht aus Lyon.
Sieben lange Jahre zeigte sich beim Blick nach Frankreich das gewohnte Bild: Ganz oben steht Olympique Lyonnais, irgendwo dahinter die Traditionsvereine aus Marseille, Bordeaux und Paris. Die Ligue 1 war eine immer gleiche, fast beruhigende Erscheinung im hektischen Fußball-Alltag.
Nach dem enttäuschenden 0:0 gegen den direkten Konkurrenten PSG am vergangenen Wochenende liegt der Serienmeister fünf Spieltage vor Schluss nur auf Rang drei und hat bereits sieben Punkte Rückstand auf Spitzenreiter Marseille.
Die Verfolger im Nacken
Girondins Bordeaux auf Platz zwei ist ebenfalls schon sieben Zähler enteilt. Der Wunsch des ehemaligen Marseille-Trainers Jose Anigo könnte sich demnach erfüllen: "Alle haben Lust, dass Lyon mal so richtig auf die Schnauze fällt."
Denn nicht nur die Titelverteidigung ist mittlerweile in weite Ferne gerückt, auch die Champions-League-Qualifikation und sogar der UEFA-Cup könnten verpasst werden, denn Paris und Toulouse sitzen OL im Nacken.
Ein Albtraum-Szenario für Lyon. Ist dies der Anfang vom Ende einer beispiellosen Dominanz? Wo liegen die Gründe für die Krise und wie geht es weiter?
Benzema als Alleinunterhalter
Aus rein sportlicher Sicht lässt sich die derzeitige Situation mit einer simplen Formel beschreiben: Lyon hat Ladehemmung. Während die Abwehr-Reihe um Cris und Boumsong im Verbund mit Mittelfeldabräumer Toulalan durchaus im Soll liegt, ist die ehemalige Torfabrik der Liga ein Schatten früherer Tage.
Von den ersten sechs der Tabelle hat lediglich der FC Toulouse weniger Treffer erzielt als der Titelverteidiger. Der einzige Offensiv-Spieler der höchsten nationalen und europäischen Ansprüchen genügt ist mit 14 Toren Karim Benzema.
Juninho und das Alter
Unterstützung für das talentierte Eigengewächs bieten auch die absoluten Identifikationsfiguren des Klubs derzeit nicht. Juninho und Sidney Govou, die bei allen sieben Meisterschaften von OL dabei waren, können den Topstürmer nicht wie gewohnt entlasten.
Der Brasilianer Juninho schießt zwar immer noch die vielleicht besten Freistöße der Welt und machte immerhin fünf Tore, erreicht mit seinen bald 35 Jahren aber nicht mehr das alte Leistungs-Niveau.
Gouvou und die Verletzungen
Gouvou wird dagegen immer wieder durch Verletzungen zurückgeworfen und fällt schon seit Mitte Januar mit einem Achillessehnen-Riss aus.
Der französische Nationalspieler stand diese Saison erst elf Mal auf dem Platz und erzielte noch kein Tor. Außer dem Brasilianer Ederson (5 Treffer) und 14-Millionen-Einkauf Makoun (4Treffer) entwickelt kein einziger Spieler Gefahr. Olympique Lyon ist in der Offensive abhängig von seinem 21-jährigen Alleinunterhalter.
Personal-Politik mit Fragezeichen
Zweifelhaft erscheinen in diesem Zusammenhang die Transferaktivitäten des Klubs. Vor der Runde wurde mit Hatem Ben Arfa ein Stammspieler aus dem eigenen Nachwuchs an Olympique de Marseille verkauft. Das Ergebnis dieses Wechsels: Der Konkurrent ist Tabellenführer und der 22-jährige Nationalspieler machte bereits sechs Tore für seinen neuen Verein.
Darüber hinaus wurde in der Winterpause der Brasilianer Fred in seine Heimat geschickt - ein Spieler, der seit Jahren etwa zehn Treffer pro Saison beisteuert. Die Sturm-Probleme beim amtierenden Meister sind hausgemacht.
Nationale Spitze und europäischer Frust
Um den Kern der sportlichen Talfahrt zu erfassen, lohnt ein Blick hinter die Kulissen. Alle wichtigen Entscheidungen trifft der starke Mann des Vereins, Michael Aulas. Der übernahm den Klub 1987 in der zweiten Liga mit dem Anspruch, ihn an die französische und europäische Spitze zu führen.
Während dieses Ziel mit der Rekordserie von sieben Meisterschaften in Folge auf nationaler Ebene eindrucksvoll erreicht wurde, ist in der Champions League spätestens im Viertelfinale Schluss.
Der "Casting-Fehler" von Michael Aulas
Dieses Manko will Aulas mit aller Macht beheben und kündigte vor der laufenden Saison an: "Wir wollen in der Champions League diesmal sehr weit kommen." Sein Ziel verfolgt der Klub-Boss unbeirrbar und scheinbar mit wachsender Ungeduld.
Trotz der Erfolge beschäftigte Lyon in den vergangen acht Spielzeiten fünf verschiedene Trainer. Vor der aktuellen Runde musste Coach Alain Perrin nach nur einem Jahr wieder gehen, obwohl er zum ersten Mal in der Vereinshistorie das französische Double gewann.
Aulas bezeichnete Perrin lapidar als "Casting-Fehler".
Lyon ist keine Einheit
Der neue Trainer Claude Puel gilt als Fußball-Lehrer englischer Prägung, der nun mit einem Kader arbeiten muss, den er nicht zusammengestellt hat und der seine Forderung nach dynamischem Power-Fußball nicht umsetzen kann oder will. Wieso sollte man auch seinen Stil ändern, nach sieben Meisterschaften?
Der Meistertitel wurde in Lyon zur Normalität und die Fokussierung auf die Champions League hat sich diese Saison auf die Spieler übertragen.
Bereits im Januar warnte der brasilianische Abwehrchef Chris: "Bordeaux scheint motivierter als wir. Es wird höchste Zeit, dass wir aggressiver werden."
Einen tieferen Einblick in das Innenleben der Mannschaft gab Gouvou gegenüber "France Football": "Entweder es gibt eine Einheit, oder es gibt sie nicht. Bei uns jedenfalls existiert sie nicht." Damals stand Olympique noch auf Platz eins.
Barca ist eine Nummer zu groß
Der Vorsprung auf die Verfolger war nach der Winterpause derart schnell aufgebraucht, dass sich die Prioritäten in der Chefetage noch einmal verschoben. Im Champions-League-Duell mit Bayern München wurden einige Stammspieler für die anstehenden Meisterschaftsspiele geschont, Juninho war gesperrt, Benzema fiel im Hinspiel verletzt aus.
Die fatalen Folgen: Lyon traf als Gruppenzweiter bereits im Achtelfinale auf den FC Barcelona und bekam bei der 2:5-Niederlage im Camp Nou deutlich die Grenzen aufgezeigt.
Für ein Weiterkommen gegen europäische Topvereine fehlt, mit Ausnahme von Benzema, einfach die Qualität im Kader.
Kleiner Funke Hoffnung
Dem deprimierenden Aus in der Champions League folgten in sechs Ligaspielen nur noch zwei Siege. Der große Traum der Spieler ist zerplatzt, die Motivation scheint verflogen, die Titelchance verspielt.
Durch das direkte Duell bei Spitzenreiter Marseille keimt in Lyon zwar noch etwas Hoffnung, doch in erster Linie soll nun die Qualifikation für die Champions League gesichert werden.
Die entscheidende Frage: Bleibt Benzema?
Vom Erreichen der Königsklasse wird wohl auch der Verbleib von Karim Benzema abhängen. Die Spitzenklubs FC Barcelona, Manchester United und Inter Mailand haben bereits ein Auge auf den Nationalspieler geworfen und beobachten gespannt die Entwicklung in der französichen Liga.
Der Verlust des Angreifers würde die grundlegende Misere von OL verdeutlichen. Ähnlich wie der FC Bayern in Deutschland hadert Michael Aulas immer wieder mit dem Standortnachteil gegenüber Vereinen aus England und Spanien.
Die neue Generation
Im Gegensatz zu anderen Startern in der Champions League ist Olympique Lyon ein finanziell gesunder Klub, der regelmäßig Leistungsträger verkaufen muss. Aus den Abgängen der letzten Jahre ließe sich ein Team mit europäischen Ambitionen formen. Mit Florent Malouda, Eric Abidal und Michael Essien stehen drei ehemalige Lyonnais im Halbfinale.
Dabei kann Olympique durchaus optimistisch in die Zukunft schauen. Mit Pjanjic und Mounier machen in der aktuell schwierigen Phase zwei junge Nachwuchstalente auf sich aufmerksam und haben den Sprung unter die ersten Elf geschafft.
Weitere Teenager werden an den Kader herangeführt. Während Gouvou kürzlich erklärte, seinen 2010 auslaufenden Vertrag nicht zu verlängern, steht die nächste Generation hungrig in den Startlöchern.
Die Vision vom "Grand Stade"
Mit einem ehrgeizigen Plan soll der Standortnachteil soll zeitnah behoben.
Seit Jahren träumt Michael Aulas von einem neuen Stadion, das ein Trainingszentrum, Hotel, Einkaufszentrum sowie einen Freizeitpark beherbergen soll. Mit dem "Grand Stade" will er neue Einnahmen generieren für den Traum von Europa.
Nach Informationen der "Süddeutschen Zeitung" soll der Verein etwa 450 Millionen Euro für den Komplex aufbringen, die Stadt Lyon etwa 180 Millionen.
Die Ungeduld des Herrn Aulas
Da sich lokale Politiker noch gegen die Investition sträuben, kündigte der ehrgeizige Klub-Boss kurzerhand an, sein Amt niederzulegen, falls das Projekt scheitern sollte.
"Ich werde das durchziehen", polterte Aulas, notfalls auch mit einem Verein in einer anderen Stadt.
In der Stadion-Diskussion sowie beim Umgang mit Trainern und den zahlreichen Talenten offenbart sich der wahre Kern der Geschichte von Olympique Lyon: Die Ungeduld des Herrn Aulas. Aber schließlich will er schon seit 20 Jahren an die Spitze Europas.
Der aktuelle Kader von Olympique Lyon