Operation Europa: Endlich ausgeknausert?

Gunnar Göpel
15. August 201317:12
Real Sociedad hat sich am letzten Spieltag durch einen knappen Sieg für Europa qualifiziertgetty
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Der königliche Segen. Eine goldene Ära. Oder der finanzielle Absturz. Real Sociedad hat eine bewegte Geschichte vorzuweisen. Mit der Qualifikation für die Champions-League-Playoffs könnte nun aber das Ende des Knauserns gekommen sein - dank eines altbekannten Erfolgsrezepts.

Wir schreiben den 1. Juni 2013 um 21:22 Uhr. Es ist der 38. Spieltag der Primera Division und der Schlusspunkt einer ereignisreichen Saison in Spanien. Links am Sechzehner tankt sich der 26-jährige Imanol Agirretxe in den Strafraum, schlägt einen Haken, lässt Ze Castro aussteigen und schießt mit links auf das Tor von Deportivo La Coruna. Daniel Aranzubia kann den Ball zwar noch parieren, am langen Pfosten steht Antoine Griezmann jedoch völlig blank und vollstreckt aus spitzem Winkel gegen den Lauf des geschlagenen Schlussmanns.

Der zehnte Saisontreffer des Franzosen ist gleichzeitig der letzte in der Partie Deportivo La Coruna gegen Real Sociedad San Sebastian. Während die einen Nordspanier den schweren Gang in die erneute Zweitklassigkeit antreten müssen, dürfen die anderen die Champions-League-Qualifikation feiern. Freud und Leid - so nah beieinander.

Wird von spanischer Fußballtradition gesprochen, dann fallen in der Regel die Namen Barcelona, Madrid und La Coruna. Dass eine Talentschmiede aus der 187.000 Einwohner großen Stadt San Sebastian die sechstmeisten Spieler in die spanische Nationalmannschaft entsandt hat, wissen wenige.

Das Experiment Europa passt in das Bild einer sportlichen wie finanziellen Achterbahnfahrt und hat für die Region eine enorme Tragweite. Um das Ausmaß dieses Erfolges für die Kulturhauptstadt Europas 2016 fassen zu können, muss ein Blick in die Vergangenheit des spanischen Urgesteins geworfen werden.

Tradition im Koffer der Wanderarbeiter

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verließen viele junge Männer die baskische Hafenstadt San Sebastian in Richtung England. Auf der Insel heuerten einige in Fabriken an, andere schufteten in Stahlwerken. Die gut betuchten studierten an renommierten britischen Universitäten. Eines haben sie jedoch alle gemeinsam: Sie infizierten die Region an der französischen Grenze bei ihrer Heimkehr mit einem ganz speziellem Fieber: dem Fußballfieber.

Die neue Sportart begeisterte die Basken, sodass nach Athletic Bilbao ein weiterer Verein entstand: Der San Sebastian Recreation Club, 1903 gegründet, wurde jedoch nicht offiziell anerkannt.

Der Wille, an Wettbewerben teilnehmen zu dürfen, war so groß, dass die Gründungsväter ihre Mannschaft unter dem Namen eines, bei den Behörden angemeldeten, Radsportvereins registrierten und somit am königlichen Pokal teilnehmen durften.

Erfolge und des Königs Segen

Die Copa del Rey gewann die Mannschaft bereits im Jahr 1909. Doch der Erfolg hatte einen Makel. Man hatte zwar den ersten Titel gewonnen, allerdings nicht unter einem eigenen Namen. Der Drang nach Autonomie führte zu einer formellen Gründung der "Sociedad San Sebastian". Die Sommerresidenz des damaligen spanischen Monarchen Alfons XIII. befand sich in San Sebastian, und so wurde dem Verein wenig später durch den König die Bezeichnung "Real" verliehen. Die Geburtsstunde von Real Sociedad San Sebastian.

Obwohl der Verein, wie auch der baskische Rivale aus Bilbao, ein Gründungsmitglied der Primera Division ist, verbrachte San Sebastian viele Jahre in der sportlichen Bedeutungslosigkeit. Die Zukunft des Vereins stand unter einem schlechten Stern. In den schwierigen dreißiger Jahren wurde San Sebastian erst recht nicht von finanziellem Glück geküsst. SPOX

1935 stieg der Verein am Rande einer Insolvenz erstmals ab. Es folgte eine Reihe von Auf- und Abstiegen. Erst mit Beginn der 80er-Jahre konnte der Verein im Glanz einer ruhmreichen Epoche weitere Erfolge einfahren.

Die goldene Ära

1981 und 1982 gewannen die "Txuri-Urdin" (Weißblauen) mit der wohl besten Mannschaft ihrer Vereinsgeschichte die Meisterschaft. Mit einer Serie von saisonübergreifend 38 Spielen ohne Niederlage stellte die Mannschaft von Trainer Alberto Ormaetxea einen bis heute gültigen Rekord auf. Das Team, angeführt von Torhüter Arconada und den Spielern Ufarte und Kortabarria, bestand hauptsächlich aus geformten Nachwuchsspielern.

Vereinsikone Luis Miguel Arconada steht auch heute noch sinnbildlich für den Erfolg. Drei Mal in Folge gewann der Keeper die "Trofeo Zamora" für die wenigsten Gegentore der Liga. In der Folge schrieben die Fans ihrem Helden ehrfürchtig einen Schlachtruf zu: "Uns wird nichts passieren, denn wir haben Arconada!".

Es blieben die einzigen Meisterschaften bis heute. Nach dem spanischen Supercup 1983 und einem weiteren Gewinn der Copa del Rey im Jahr 1987 versanken die Basken wieder im sportlichen Mittelmaß.

SPOX

Abkehr von Altbewährtem

Die Erfolge blieben aus und es wurden erstmals Nicht-Basken verpflichtet. Des Weiteren mussten sich die Fans an eine neue Spielstätte gewöhnen. Das altehrwürdige Estadio Atotxa wurde verlassen und man zog in das 1993 fertiggestellte Estadio Municipal de Anoeta. Das 32.076 Zuschauern Platz bietende Rund erfüllt alle Anforderungen an ein Fünf-Sterne-Stadion der UEFA.

Mit Anfang der Jahrtausendwende gab es ein Umdenken und beinahe die zweite erfolgreiche Ära. Die jungen Talente aus dem eigenen Nachwuchs wie Xabi Alonso wurden mit hochkarätigen Stars aus dem Ausland verstärkt. Das Traumduo Nihat Kahveci (23 Tore) und Darko Kovacevic (20 Tore) ballerte Real Sociedad 2002/2003 zur Vizemeisterschaft. Es fehlten nur zwei Punkte zu Real Madrid und der ganz großen Sensation. Doch die Trauer über die verpasste Chance saß tiefer, als der Wille das Unmögliche möglich zu machen.

2004/2005 verließ das vielversprechende 22-jährige Talent Xabi Alonso für 16 Millionen Euro die Stadt in Richtung Liverpool. Mit Mikel Arteta wurde ein weiterer Youngster nach England weiterverkauft. Auch der Vorzeigesturm sollte sich kurze Zeit später trennen.

Xabi Alonso, 2004getty

Sportlich und finanzieller Absturz

2006/2007 kam es, wie es kommen musste: Die Talentlese fiel bedeutend schlechter aus. Diese konnten die Stars nicht gleichwertig ersetzen und San Sebastian stieg nach 40-jähriger Zugehörigkeit im Oberhaus in die Segunda Divison ab.

Die Lage besserte sich dort aber keineswegs: 2008 konnte "Erreala", so der baskische Vereinsname in Fankreisen, die Spielergehälter nicht mehr zahlen und meldete Konkurs an. Doch das Wort "Aufgabe" existiert im Baskischen nur pro forma. Sie kämpfen nicht nur um ihre politische Unabhängigkeit, sondern auch um das Fortbestehen ihrer sportlichen Wurzeln.

Nach drei Jahren der Neustrukturierung gelang Real Sociedad zur Saison 2010/2011 der Wiederaufstieg. Finanziell immer noch klamm, beschränkten sich die Ausgaben auf das Nötigste.

Trainer Martin Lasarte nominierte Asier Illarramendiaus dem B-Team und führte ihn behutsam an die erste Mannschaft heran. Die Saison wurde auf einem sicheren 15. Tabellenplatz beendet.

Seite 2: Die Gegenwart - Die Taktik, die nach Europa führte

Weckruf aus Frankreich

Zur neuen Saison wurde etwas überraschend die Trennung vom südamerikanischen Trainer bekanntgegeben. Der neue Übungsleiter, Philippe Montanier, wechselte vom französischen Erstligisten Valenciennes in die Primera Division.

Das Montanier-Kredo "Agilität, Zug zum Tor und der direkte Abschluss" ließ sich aufgrund einer besonderen Basis gut umsetzen. Der Trainer vertraute einer simplen Idee. Da fast alle Spieler die Fußballschule von Real Sociedad durchlaufen haben, sind sie mit einer gemeinsamen Spielphilosophie vertraut. Der 48-Jährige nahm sich ein Lehrjahr, in dem er die jungen Talente weiter formte und Feinheiten verbesserte. Durch diesen Schliff erreichten Spieler wie Inigo Martinez und Asier Illaramendi innerhalb eines Jahres das Niveau von auffallend reifen Stammspielern.

Carlos Velagetty

Auch der Mexikaner Carlos Vela konnte in der Saison 2011/2012 als Leihe des Londoner Spitzenklubs FC Arsenal überzeugen (12 Tore, sieben Vorlagen). San Sebastian fand sich nach 38. Spieltagen als Elfter im gesicherten Mittelfeld wieder.

Da Vela sich mit der Spielweise zu identifizieren wusste, wurde er im darauffolgenden Sommer für 3,8 Millionen Euro fest verpflichtet. In der abgelaufenen Spielzeit 12/13 konnte der polyvalente Angreifer seine Leistung weiter steigern und spielte sich als Topscorer der Basken in den Mittelpunkt. Der 24-Jährige netzte 14 Mal ein und lieferte zwölf Vorlagen. Daneben wurde der 27-jährige Flügelspieler Chori Castro ablösefrei aus Mallorca geholt.

Jugendarbeit als Steckenpferd

Dennoch ist die Klubpolitik seit Jahrzehnten dieselbe: Mit Asier Illarramendi, Inigo Martinez, Antoine Griezmann, Imanon Agirretxe, Mikel Gonzalez, Carlos Martinez, Markel Bergara, Xabi Prieto und David Zurutza stammten vergangene Saison neun Stammspieler aus der erlesenen Jugendarbeit.

Abgesehen von der 5:1-Klatsche zum Auftakt gegen Barcelona, verlor San Sebastian nur ein einziges Mal mit zwei Toren Unterschied. Nach der 2:0-Niederlage gegen Real Betis Sevilla und kleineren Anlaufschwierigkeiten kam San Sebastian ab dem 11. Spieltag richtig in Schwung.

"Als ich hier ankam, haben wir sehr viel riskiert, indem wir auf junge Spieler gesetzt haben, jetzt ernten wir die Früchte dafür. Es ist nicht ohne Risiko, so junge Spieler ins kalte Wasser zu werfen, aber sie haben inzwischen ihre großen Qualitäten bewiesen.", äußerte sich Montanier gegenüber "uefa.com".

Und die Rückrunde sollte sensationell werden: Die Nordspanier verloren nur ein einziges Spiel (1:2 gegen Getafe) und bezwangen zudem die Landesgrößen Barcelona, Valencia, Atletico Madrid, Sevilla und Malaga. Die Baskensderbys gegen Bilbao wurden mit 2:0 und 3:1 gewonnen.

Marke Unberechenbar

In zwei Jahren und 82 Spielen setzte Montanier lediglich 27 verschiedene Spieler ein. Zum Vergleich: Diego Simeone, seines Zeichen Cheftrainer von Atletico Madrid, lies im selben Zeitraum 34 Spieler im Trikot der Rojiblancos auflaufen.

Philippe Montanier lies im klassischen 4-2-3-1 auflaufen. Das Prachtstück der Mannschaft ist die offensive Dreierreihe hinter dem 26-jährigen Stürmer Imanon Agirettxe. Der französische Trainer flößte seiner Mannschaft ein offensives und mutiges Spiel ein. Die technisch versierten Spieler verzichteten weitgehend auf unnötige Kabinettstückchen. Stattdessen wurde schnörkellos der direkte Weg zum Tor gesucht. Antoine Griezmann, Carlos Vela und Kapitän Xabi Prieto waren nicht an eine feste Position gebunden, sondern rotierten umeinander.

Das verlieh dem Spiel Variabilität und Tempo. Für die gegnerische Mannschaft war dieses unorthodoxe Rotieren schwer ausrechenbar. Zwölf verschiedene Torschützen, davon fünf, die öfter als fünf Mal trafen, spiegeln dieses Bild wieder.

Abgebrüht statt waghalsig

Was nach einem wilden Angriffstanz klingt, war in der Regel durchaus wohl kalkuliert. Wenn es sinnvoll war mit defensiver Spielweise einen Punkt zu sichern, dann taten die Weißblauen es auch: Zwölf Unentschieden sind Saisonrekord. Auch die Tordifferenz spricht Bände: Mit 70 erzielten Treffern waren nur Real Madrid und Barcelona vor dem gegnerischen Gehäuse erfolgreicher. Dem Torreigen stehen nur 49 Gegentore gegenüber. Platz vier in der Liga.

Und so ist es auch nicht überraschend, dass die Basken sich zur Teilnahme an der Champions-League-Qualifikation qualifiziert haben. Doch wie bereits zu Beginn des Jahrtausends drohen erneut wichtige Abgänge. Es ist verständlich, dass es die jungen, erfolgsgierigen Spieler zu den großen der Branche zieht.

Im Visier der Konkurrenz

Der französische Wirbelwind Antoine Griezmann wurde lange Zeit von den Tottenham Hotspur umworben. Inigo Martinez soll das Interesse von Barcelona und Real Madrid geweckt haben. Zudem soll auch der VfL Wolfsburg den 22-jährigen Innenverteidiger beobachtet haben. Auch um den zweiten spanischen U-21-Nationalspieler Asier Illarramendi wurde lange gebuhlt. Konkurrenz gab es aus England, am Ende erhielt Real Madrid den Zuschlag. Die Basken werden mit rund 38 Millionen Euro entschädigt.

Inigo Martinezgetty

Sollte die Mannschaft ansonsten intakt bleiben, dann ist eine Qualifikation für die Champions League nicht undenkbar. Auch wenn Trainer Montanier trotz des großen Erfolges zurück in die Ligue 1 zu Stade Rennes wechselt. Zur kommenden Saison übernimmt der bisherige Co-Trainer Jagoba Arrasate den Chefposten. Durch ein Engagement im Jugendbereich des Vereins ist der 35-Jährige mit Konzept und Philosophie bestens vertraut. Mit dem U-19-Nationalstürmer Iker Hernandez steht bereits das nächste Talent vor dem Sprung in die erste Mannschaft.

"Die Champions League? Das sind sehr große Worte. Es wäre großartig, wenn wir die Qualifikation dafür schaffen würden, aber im Moment kämpfen wir mit einigen sehr großen Namen. Es wird also sehr schwer", zeigte sich Asier Illarramendi im März noch bescheiden. Diese Hürde ist genommen. Nun muss die zurückhaltende Art abgelegt werden, denn die Mannschaft ist längst nicht am Ziel. Die finanziellen Vorzeichen sind momentan kaum andere. Erst mit einer Qualifikation für die Gruppenphase wird die neue Saison zum Millionengeschäft.

Real Sociedad im Überblick