"Plötzlich war es wie eine Offenbarung"

Frank Oschwald
31. März 201621:22
SPOXgetty
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Ronald Reng verliebte sich 2001 in den Fußball von Barcelona und studierte diesen fortan jahrelang vor Ort. Im Interview spricht der Buchautor über die Entwicklung des markanten Barca-Stils, die Verdienste von Johan Cruyff und die kuriose Zeit von Victor Valdes in Augsburg.

SPOX: Herr Reng, Sie sind vor vielen Jahren in das hektische Barcelona gezogen und waren unter den Sportjournalisten dort der Exot. War dies zu Beginn nicht schwierig?

Ronald Reng: Ach, überhaupt nicht. Der Umgangston in Spanien ist halt etwas schroffer, daran muss man sich gewöhnen. Ich kann mich noch erinnern, dass ich da am Anfang etwas irritiert war. Höflichkeit bedeutet in Spanien, dass jeder mit dir redet. Generell haben zu dieser Zeit aber natürlich viel weniger Journalisten über Barca berichtet. Vor allem als ausländischer Korrespondent war man da ein willkommener Exot, der den Ruf des Klubs in die Welt trägt.

SPOX: Es ist zu hören, dass Sie aufgrund des Fußballs nach Barcelona gezogen sind. Wie kam das zustande?

Reng: Es waren eigentlich zwei Gründe. Zum einen wollte meine damalige Freundin und jetzige Frau nicht zu mir nach England und ich nicht zu ihr nach Hamburg. Deshalb musste ein Kompromiss gefunden werden. Auf Barcelona sind wir dann exakt am 20. November 2001 gekommen - das weiß ich noch ganz genau. An diesem Tag war ich in Liverpool, um Markus Babbel zu treffen. Er lud mich zum Champions-League-Spiel zwischen Liverpool und Barca ein. Ich war vom Barca-Spiel sofort beeindruckt. Klar, heute kennen wir das alle. Aber damals war das neu. Es gab noch keine Internetübertragung der Spiele und international hat man eigentlich wenig sehen können.

SPOX: Liebe auf den ersten Blick?

Ronald Reng

Reng: So in etwa. Ich hatte noch nie gesehen, dass eine Mannschaft versucht, den Ball 80 Mal hin und her zu spielen, bis sich die Lücke auftut. Das haben sie an diesem Abend in Perfektion gezeigt. Ich war völlig angetan und fasziniert von diesem Spiel. Nach der Partie hat mir Patrik Andersson die Idee des Fußballs erstmals erklärt. Dann habe ich spontan zu meiner Frau gesagt: 'Wollen wir nicht nach Barcelona ziehen?' Die Neugierde auf diesen Fußball war ein ausschlaggebender Grund. Ich wollte diesen kennenlernen und verstehen.

SPOX: Vor allem zu Beginn des Jahrtausends war Barcelona nicht wirklich erfolgreich. Es hieß, der Spielstil sei zu gewagt. Woran fehlte es?

Reng: An vielen Kleinigkeiten. An der Qualität der Mannschaft beispielsweise. Damals war alles noch nicht wirklich strukturiert. Die Transfers wurden hier und da noch sehr schnell und teilweise unüberlegt getätigt. Es musste noch an vielen Stellschrauben gedreht werden. Der große Urknall war die Verpflichtung von Ronaldinho. Er hat dem ganzen Konstrukt ab 2003 einerseits eine ganz andere individuelle Qualität gegeben, andererseits aber auch alle mit seinem Lachen angesteckt. An seiner Seite hat auch der zunächst zu defensive Xavi seine Position gefunden, Iniesta kam deutlich mehr ins Spiel. So hat sich das befruchtet. Plötzlich sah dieser Fußball aus wie eine Offenbarung. Dadurch wurde Barca das Modell eines ganzen Jahrzehnts.

SPOX: Inwiefern ist dies auch das Verdienst des verstorbenen Johan Cruyff?

Reng: Cruyff schenkte Barca 1974 beim 5:0 den spektakulärsten Sieg über Real, gewann 1992 als Trainer den Europapokal der Landesmeister und konzipierte La Masia - mehr kann ein einziger Fußballer eigentlich nicht erreichen. Eigentlich. Cruyff gelang etwas noch Größeres: Seine Idee vom Fußball lebt über seinen Tod hinaus fort. Er schuf das Glaubensbekenntnis des Barcelonismo: das Streben nach dem schönen Spiel. Seine Mannschaft müsse immer den Ball wollen, ihn ewig mit eleganten Flachpässen fortbewegen, aktiv sein, dominieren, die Flügel besetzen, auch in der Abwehr und im Sturm Spielmachertypen haben, predigte Cruyff. Bei Barca halten sie es bis heute für den einzigen legitimen Stil. Cruyff war allerdings nicht der Erfinder dieses Stils ist, wie bei seinem Tod oft fälschlicherweise angeführt wurde.

SPOX: Wie meinen Sie das?

Reng: Der holländische Trainer Rinus Michels lehrte Cruyff und Barca das Spiel der ewigen Pässe. Cruyff setzte es als Trainer und Inspirator später nur erfolgreicher um. Was auch daran lag, dass er im Grunde genommen ein Snob war. Es heißt: Über Tote nur Gutes, schon klar, aber Johan Cruyff hatte auch die Arroganz vieler genialer Menschen. Es ließ nichts anderes gelten als seine Überzeugung vom Fußball. Das wurde mit den Jahren recht anstrengend, weil man schon wusste, was kommen würde, wenn eine Barca-Mannschaft auch mal ein paar lange Pässe aus der Abwehr in ihr Spiel einstreute, wenn die holländische Nationalelf unter Trainer Louis van Gaal - sehr erfolgreich - einen vorsichtigeren Stil pflegte. Cruyff kritisierte sie vernichtend. Aber vielleicht können ohne eine an Arroganz grenzende Überzeugung große Ideen nie umgesetzt werden. Cruyff erweckte die schönste Idee des modernen Fußballs zum Leben: ein Barca-Spiel, das ein Lächeln auf die Gesichter der Zuschauer zaubert.

SPOX: Inzwischen hat sich die Vorherrschaft von Barca und Real in Spanien verfestigt. Man hat das Gefühl, dass beide sowohl sportlich als auch vom Selbstverständnis in ihrem eigenen Universum leben.

Reng: Es war schon immer so, dass beide Klubs den Anspruch hatten, über allen anderen zu stehen. Das sieht man auch an den TV-Verträgen. Bereits vor 20 Jahren haben die beiden Klubs ihre eigenen Fernsehverträge ausgehandelt und bekamen das Zehnfache der Konkurrenz. Sportlich ist es auch seit mehreren Jahren in Stein gemeißelt, dass beide mit Atletico immer um die Meisterschaft spielen. Das ist auch erst eine Entwicklung der letzten zehn Jahre. 2003 war Barca unter Radomir Antic einmal Sechster in der Liga. Das wird jetzt nicht mehr passieren. Sie haben die letzten Jahre genutzt, um ihre Vormachtstellung auszubauen.

SPOX: Ich stelle mal eine sehr gewagte These in den Raum: Barca und Real sind von verfeindeten Fußballklubs zu großen Weltunternehmen mutiert, die sich immer ähnlicher werden. Die meisten Fans wissen eigentlich gar nicht mehr, warum sie den anderen Klub nicht mögen.

Reng: Das sehe ich anders. Die Klubs unterscheiden sich in vielen Dingen immer noch extrem. Natürlich auch in der Selbstwahrnehmung. Barca steht nun einmal für den Widerstand gegen Spanien und für den Katalanismus. Das ist auch für den Klub ein großer Spagat. Man vertritt in der politisch hektischen Zeit einerseits Katalonien, andererseits hat Barcelona auch in anderen Bereichen Spaniens zahlreiche Fans. Die will man natürlich nicht verprellen. Real wurde in Katalonien immer als der Klub von Diktator Franco wahrgenommen. Das waren die Königlichen aber eigentlich gar nicht. Franco war Fan von Atletico, dem Klub der Luftwaffe und des Militärs. Aber dadurch, dass Real zu dieser Zeit der herausragende Klub Spaniens war, wurde das so interpretiert. Zudem war der bekannte Ex-Real-Präsident Santiago Bernabeu ein offenherziger Katalanen-Hasser.

SPOX: Wie sieht es heutzutage aus?

Reng: Schon alleine aufgrund der Klubmodelle unterscheiden sich die beiden Teams extrem. Real-Präsident Florentino Perez hat dieses Hollywood-Modell. Er sagt, dass ähnlich wie bei einem Kinofilm in einer Mannschaft die besten Darsteller der Welt vereint werden müssen. Somit steht die beste Mannschaft der Welt auf dem Platz. Bei Barca ist das Wichtigste eigentlich das Spiel. Es ist von hoher Bedeutung, dass die einzelnen Positionen so besetzt werden, dass man diesen ewigen Pass-Fußball spielen kann. Das ist ein ganz anderes sportliches Modell. Barca hatte aufgrund dieses Modells und zahlreicher guter Spieler aus dem Nachwuchs in den letzten Jahren eine enorme Hochzeit. Die Essenz des Real-Modells war eigentlich, dass sie Spieler kaufen. Aber natürlich wird das in beiden Vereinen nicht in Reinform gelebt. Das heutige Barca ist auch von den Zukäufen abhängig und Real hat eigene Spieler.

SPOX: Welche Rolle spielen die Medien beim Clasico?

Reng: Die befeuern die Rivalität sicherlich zusätzlich noch. Sie leben von dieser Feindschaft. Der Clasico ist das jährlich größte Spektakel und da versucht eigentlich niemand, das runter zu dimmen.

SPOX: Sie haben den Medienzirkus in Spanien miterlebt. Wie bizarr wirkt das auf einen deutschen Journalisten?

Reng: Aus nordeuropäischer Sicht ist das erst einmal ein unbekanntes Phänomen. Wir sehen die Medien als unabhängige Berichterstatter. In Spanien, Italien und Portugal haben sie keine Boulevard-Zeitung. Die Sportzeitungen übernehmen deshalb diese Rolle. Sie berichten schon relativ reißerisch und schrill in ihrer Tonwahl. Hinzu kommt, dass Sportzeitungen erkannt haben, dass sie sich an die Fans richten müssen. Die Unabhängigkeit streben sie eigentlich erst gar nicht an. Die Barca-Sektion von Marca und AS braucht man gar nicht zu lesen, denn da wird eigentlich nur zugespitzt berichtet. Andersrum ebenfalls: In der Mundo Deportivo ist täglich eine negative Überschrift über Real Madrid zu lesen. Da gibt es schon Journalisten, die das bewusst und manipulativ einsetzen. Meine Lieblingsüberschrift ist zu Iker Casillas. Der sagte in einem Interview, dass er zu 60 Prozent bei Real Madrid bleibe. Die Mundo Deportivo machte daraus die Schlagzeile: ‚Zu 40 Prozent verlasse ich Real'.

SPOX: Haben Sie heute auch noch Kontakt zu Barca-Spielern?

Reng: Es gibt schon noch ein paar, aber es verläuft sich immer mehr. Ich war ja in den letzten Jahren nur noch als Zuschauer in Barcelona. Es gibt aber eine lustige Geschichte zu Gerard Pique. Ihn habe ich mal an der Wurstbude getroffen. Er wollte seinen Freunden sein neues Auto zeigen. Und da hat er sich lässig vor die Bude gestellt. Mit Victor Valdes habe ich jetzt zwar schon einige Zeit nicht gesprochen, aber er war nach seinem Kreuzbandriss in Augsburg in der Reha. Er hat ja dieses Faible für Deutschland und für deutsche Torhüter. Er hat sich deshalb in Augsburg operieren lassen und ging dort anschließend in die Reha.

SPOX: War das in den Medien überhaupt publik?

Reng: Nein, das hat in Deutschland eigentlich niemand mitbekommen. Augsburg ist ja auch nicht die Medienhauptstadt. Er ist dort immer mit der Straßenbahn zwischen den Rentnern ins Reha-Zentrum und wieder zurück ins Hotel gefahren.

SPOX: Seit einigen Jahren haben Sie sich aus dem tagesaktuellen Business zurückgezogen und konzentrieren sich auf Bücher. Sie haben jedoch die komplette Schaffenszeit von Pep Guardiola als Barca-Trainer hautnah miterlebt. Wie bewerten Sie seine Zeit beim FC Bayern?

Reng: Sportlich fabelhaft. Diese Ära ist auch unabhängig vom Ende. Mich hat beeindruckt, wie schnell die Spieler seinen doch sehr eigenen Spielstil angenommen haben und umsetzen konnten. Die ständigen Positionswechsel beispielsweise. Er hat eine Mannschaft geschaffen, die nahezu problemlos auf jede taktische Idee von ihm reagieren kann. Das ist schon sehr beeindruckend. Ich bin mir sicher, dass der Fußball des FC Bayern unter Guardiola der anspruchsvollste war, der in Deutschland je gespielt wurde. Aber auch Guardiola selbst hat sich weiterentwickelt. In München ließ er beispielsweise viel mehr Übungen ohne Ball machen. Das hat man bei ihm bei Barca eigentlich gar nicht gesehen.

SPOX: Mit Carlo Ancelotti kommt nun ein anderer Trainertyp. Birgt das Probleme?

Reng: Es müsste eigentlich schwierig werden. Es spricht alles dafür. Wenn man beide Trainer vergleicht, ist es schwer vorstellbar, dass Ancelotti die Mannschaft durch seine taktische Herangehensweise und seine Fachexpertise beeindrucken kann. Es ist für mich schwer vorstellbar, dass man die Bayern-Spieler mit der gleichen Neugierde und Begeisterung coachen kann. Man kann auch nicht erwarten, dass man jede Woche etwas sieht, was bislang noch nie jemand gesehen hat. Ob der Leistungsabfall bei dem Vorsprung dann wirklich ins Gewicht fällt, ist die andere Frage.

SPOX: Guardiola wird bei Manchester City wieder bei null anfangen. Wie lange wird es dauern, bis die Spieler seinen Stil verinnerlichen?

Reng: Bei Bayern hat es ungefähr drei Monate lang gedauert. Das wird bei City ähnlich sein. Ich erinnere mich an eines der ersten Spiele gegen Frankfurt. Da hat man deutlich gemerkt, dass die Spieler noch nicht kapiert haben, was sie eigentlich machen sollten. Sie wusste nur, dass man den Ball irgendwie halten muss und haben deshalb die Kugel immer langsam hin und her gespielt. Sie haben damals noch die Momente verpasst, um den Ball in die freien Räume zu spielen und die Positionen nicht richtig besetzt. Beim Spiel gegen Moskau im September dachte ich erstmals: 'Boah, das ist schon Fußball in Vollendung'.

SPOX: Wird Guardiola denn eigentlich zu Recht so in den Himmel gelobt? Es gibt auch in Deutschland Trainer, die taktisch brillant sind.

Reng: Die gibt es. Aber wenn er aus der 2. Liga kommt und den FC Barcelona übernimmt, dann wird er erst mal skeptisch beäugt werden. Diese vorauseilende Skepsis hat Guardiola nicht mehr. Es ist genau andersrum. Die Spieler denken schon: 'Wow, ich darf jetzt unter Guardiola trainieren'. Das ist sicherlich ein riesiger Startvorteil. Deshalb gibt es sicher Trainer, die ähnlich beeindruckend sind, es aber im ersten Moment schwerer haben. Kosta Runjaic ist so ein Beispiel. Es war auch ein Kunstwerk, wie er der den 1. FC Kaiserslautern entwickelt hat und welchen Fußball er spielen ließ. Wenn ich Pep Guardiola wäre und jetzt auch noch mit Bayern die Champions League gewinnen würde, würde ich einfach mal 1860 München übernehmen, um mich selbst zu testen. Das würde ich gerne mal sehen. Er hat aber wohl eine andere Meinung dazu. (lacht)