EM 2021 - Thesen zum Finale zwischen England und Italien: Das wäre mehr als töricht von Salihamidzic

Kerry Hau
12. Juli 202108:23
SPOXgetty
Werbung

Nicht Marcus Rashford, nicht Jadon Sancho, nicht Bukayo Saka: Englands bittere Niederlage gegen Italien ist vor allem die Niederlage des Gareth Southgate. Drei Thesen zum EM-Finale.

Dieses Drama geht auf Southgates Kappe

Die englischen Träume vom ersten Titel seit 55 Jahren sind einmal mehr im Elfmeterschießen zerplatzt. Pech? Nur teilweise. Das Drama von Wembley ist in erster Linie Gareth Southgate zuzuschreiben, nicht der fehlenden Fortune der Three Lions.

Der Coach, der 1996 noch selbst als Spieler verschossen hatte, erwies seiner Mannschaft nämlich einen Bärendienst, indem er mit Marcus Rashford und Jadon Sancho zwei Schützen erst wenige Augenblicke vor dem Ablauf der Verlängerung einwechselte.

Die beiden Offensiv-Stars schritten also völlig kalt und obendrein auch noch ohne jegliches Selbstvertrauen zum Elfmeterpunkt, weil Southgate sie über das gesamte Turnier hinweg zumeist gekonnt ignoriert hatte. Dass dann auch noch Bukayo Saka, mit 19 Jahren der jüngste englische Spieler auf dem Platz, den entscheidenden Elfmeter schießen musste, war die Krönung dieser völlig verpokerten Schlussphase.

"Ich übernehme die Verantwortung dafür", sagte Southgate hinterher, er selbst habe die Schützen bestimmt. Umso unverständlicher, dass der 50-Jährige neben Harry Kane und Harry Maguire nicht noch zumindest einen weiteren Leitwolf aussuchte.

Warum nicht Jordan Henderson, 31, der als Kapitän des FC Liverpool seit vielen Jahren vertraut mit solchen Drucksituationen ist? Oder Leeds-Leader Kalvin Philipps, 25, auf den auf der Sechser-Position in jedem EM-Spiel Verlass war? "Ich habe auf Basis der Trainingsleistungen entschieden", rechtfertigte sich Southgate, gerade Rashford und Sancho seien im Training "die mit Abstand Besten" gewesen.

Ein Elfmeterschießen im Training, das dürfte nun auch Englands Trainer klar sein, ist aber nicht ansatzweise mit einem Elfmeterschießen im wichtigsten Länderspiel seit 1966 vor 60.000 Zuschauern zu vergleichen.

Der Move von Southgate war ein seltsamer, riskanter und damit eigentlich Southgate-untypischer, wenn man an die über weite Strecken biedere, weil zu sehr auf Kontrolle und Vorsicht basierende Spielweise denkt, mit der sich die Engländer bis ins Finale gemausert hatten. Jene Spielweise, die möglicherweise auch der Grund dafür war, warum es gegen die Italiener überhaupt ins Elfmeterschießen ging. Nach der frühen Führung durch Luke Shaw in der 2. Minute schalteten die Three Lions zu sehr in die Rolle des Verwalters anstatt nachzulegen - obwohl die Italiener in Halbzeit eins verwundbarer schienen als in jedem anderen Spiel dieser EM.

Chiellini, Bonucci und Co.: Schreibt niemals die Oldies ab

Wenn diese EM etwas gezeigt hat, dann, dass es sich lohnt, Spieler in erster Linie nach ihrer Qualität zu beurteilen - und nicht nach ihrem Alter. Das gilt für extrem junge Spieler wie Englands Teenager Saka, der zumindest vor dem Finale überragende Leistungen zeigte, Belgiens Jeremy Doku oder Spaniens Pedri, der zum besten Nachwuchskicker des Turniers gekürt wurde. Aber auch für die Oldies.

So sicherte sich Portugals Koryphäe Cristiano Ronaldo, 36, mit fünf Turniertreffern sowie einer -vorlage die Auszeichnung des alleinigen Torschützenkönigs. Und Giorgio Chiellini, 36, und Leonardo Bonucci, 34, führten Italien in heroischer Manier zum ersten Titel seit 1968. Auf der einen Seite verteidigten sie mal mit fairen, mal mit nicht ganz so fairen Mitteln nahezu alles weg, was ihnen in die Quere kam. Auf der anderen Seite stürmten sie auch noch nach 120 Minuten munter mit nach vorne, um irgendwie ihren Kopf oder ihren Fuß dazwischenzuhalten.

Bonuccis Tor zum 1:1 war die Belohnung für den unbändigen Willen, den die gesamte italienische Elf in Hälfte zwei mitbrachte. Zusammen mit Elfmeterkiller Gianluigi Donnarumma bildete das Duo Chiellini-Bonucci ein Bollwerk, das in der Welt des Fußballs noch lange seinesgleichen suchen wird.

... dann muss Salihamidzic an Chiesas Tür klopfen

Italien hat keinen Superstar? Auf dem Papier nicht, aber was Federico Chiesa während der vergangenen vier Wochen anstellte, war Superstar-verdächtig. Auch im Finale zeichnete sich der vom AC Florenz an Juventus Turin verliehene Außenstürmer für nahezu jede gefährliche Offensivaktion der Azzurri verantwortlich, legte eine unglaubliche hohe Dynamik im Dribbling und Gier im Torabschluss an den Tag.

Kein Wunder, dass Julian Nagelsmann kein allzu großes Problem damit hätte, würden seine Vorgesetzten um Hasan Salihamidzic in den nächsten Wochen von ihrem coronabedingten Sparkurs abweichen und den 23-Jährigen zum FC Bayern holen. Er wäre zweifelsohne eine großartige Verstärkung für die Münchner - wie für jeden anderen Topklub.

Chiesa, so der Plan von Juves neuem alten Coach Massimiliano Allegri, soll in der neuen Saison aber eine noch wichtigere Rolle bei den Bianconeri einnehmen als unter dessen Vorgänger Andrea Pirlo und spätestens danach mittels einer Kaufoption von 40 Millionen Euro verpflichtet werden. Sollte es wider Erwarten anders kommen und sich im Sommer 2022 eine Chance bei Chiesa bieten, wäre es aus Sicht von Salihamidzic und so manch anderem Sportchef aus Europas Elite mehr als töricht, nicht in Turin vorstellig zu werden.