Nach dem überraschenden EM-Titel vor zwei Jahren steht die Niederlande erstmals im Finale der Frauen-WM (ab 17 Uhr live auf DAZN und im Liveticker). Es ist das Ergebnis eines langen Prozesses.
Als sich Jackie Groenen in der Verlängerung des Halbfinales zwischen der Niederlande und Schweden ein Herz gefasst und aus 20 Metern einen strammen Flachschuss auf das Tor von Hedvig Lindahl abgegeben hatte, war der Mittelfeldspielerin wohl kaum bewusst, dass sie gerade nicht nur ihre Mannschaft ins WM-Finale geführt, sondern auch einer beispiellosen Erfolgsgeschichte ihre vorläufigen Höhepunkt verpasst hatte.
"Ich habe ein Loch gesehen und mich daran erinnert, dass die Mädels mir immer sagen, ich soll häufiger schießen. Und dann habe ich den Schuss genommen", äußerte sich die 24-Jährige, die zuletzt beim 1. FFC Frankfurt in der Frauen-Bundesliga unter Vertrag gestanden hat, im Anschluss an die Partie. Nicht nur für Groenen, auch für die Niederlande, ist mit ihrem Treffer in der 99. Minute ein Traum zur Realität geworden.
Zwei Jahre, nachdem sich die Oranje Leeuwinnen im eigenen Land zum Europameister gekrönt haben, steht die Niederlande bei ihrer zweiten Teilnahme an einer WM-Endrunde erstmals im Finale. Eine Tatsache, die insbesondere vor dem Hintergrund erstaunlich ist, dass der niederländische Verband KNVB erst 2007 die Eredivisie Vrouwen ins Leben gerufen hat. Was also steckt hinter dem aktuellen Aufschwung des niederländischen Frauenfußballs?
gettyFür die Niederlande hat die Entwicklung des Frauenfußballs oberste Priorität
Rückblick in die frühen 90er Jahre: Damals lautete die Prämisse, dass Jungen und Mädchen möglichst lange gemeinsam Fußball spielen sollten. Durch den ständigen Vergleich mit dem anderen Geschlecht verbesserte sich das Niveau des Frauenfußballs erheblich. Den Grundstein für die Erfolge, die in den letzten Jahren folgten, legte der KNVB allerdings 2001 mit dem Jeugdplan Nederland,der eine bessere Umgebung für die heranwachsenden Talente des niederländischen Fußballs schaffen sollte.
Doch um eines Tages zu den anderen Nationen aufschließen zu können, die im Frauenfußball bereits mehrere Jahre Vorsprung hatten, musste der niederländische Verband zunächst strukturelle Veränderungen durchführen. Mit der Gründung der professionellen Eredivisie Vrouwen, die damals die Hoofdklasse ablöste, sollte verhindert werden, dass sich weitere Spielerinnen gezwungen sahen, ins Ausland wechseln zu müssen, um auf hohem Niveau zu spielen.
Die neue Liga war aber nicht von langer Dauer und wurde bereits 2012 durch die BeNe League, einem Zusammenschluss belgischer und niederländischer Vereine, ersetzt. Nachdem jedoch mehrere Vereine mit finanziellen Problemen zu kämpfen hatten, reagierte der KNVB damit, das gemeinsame Unterfangen zu beenden und die Eredivisie wiederzubeleben.
Parallel wurde 2007 das Centrum voor Topsporten Onderwijs (CTO) in Amsterdam ins Leben gerufen, eine zweite Einrichtung folgte 2013 in Eindhoven. Unterstützt vom Ministerium für Gesundheit, Wohlergehen und Sport, finden die besten Athleten des Landes hier ideale Trainingsbedingungen, um sich auf ihre Wettbewerbe vorzubereiten. Insbesondere das CTO in Eindhoven, das sich auf Frauenfußball spezialisiert hat, leistet einen großen Beitrag zur Ausbildung von Spielerinnen zwischen 13 und 17 Jahren.
Die Plan des niederländischen Verband beginnt Früchte zu tragen
Die ersten Erfolge ließen nicht lange auf sich warten. 2009 sicherte sich die Niederlande erstmals das Ticket für die Teilnahme an einer Frauen-EM. Unter der Leitung von Trainerin Vera Pauw, die zwischen 2004 und 2010 die Geschicke beim KNVB leitete, kamen die Oranje Leeuwinnen bis ins Halbfinale und mussten sich dort erst gegen England (1:2) geschlagen geben. "Sich für die EM zu qualifizieren, war für uns der Durchbruch", betonte Bert van Oostveen, ehemaliger Direktor des niederländischen Verbandes, einst im Gespräch mit der uefa.com: "Das war der Moment, in dem wir unsere Bewerbung für die Ausrichtung der EM abgegeben haben."
Doch 2011 verpasste die Niederlande die Frauen-WM erneut und scheiterte bei der EM 2013 bereits in der Vorrunde. Zwei Jahre danach hatte das Warten aber ein Ende: Mit Sarina Wiegman an der Seitenlinie freute sich das Land mit 17 Millionen Einwohnern über die erste WM-Teilnahme. Hinter Kanada und China belegten die niederländischen Spielerinnen in Gruppe A den dritten Platz, allerdings endete das Abenteuer nur eine Runde später gegen Japan (1:2).
Es folgte die Frauen-EM im eigenen Land. Durch drei Siege in drei Spielen beendete die Niederlande die Vorrunde auf dem ersten Platz vor Dänemark, Belgien und Norwegen. Im Viertelfinale besiegten die Oranje Leeuwinnen zunächst Schweden mit 2:0 und feierten im Halbfinale ein 3:0 über England. Doch der Einzug ins Finale war noch nicht der größte Erfolg bei diesem Turnier. Ein 4:2 gegen Dänemark mit Toren von Vivianne Miedema (10., 89.), Lieke Martens (28.) und Sherida Spitse (51.) sicherte der Niederlande zur allgemeinen Verwunderung den EM-Titel.
Sie alle stehen auch bei der diesjährigen Frauen-WM im Kader und dürfen nach 2017 vom nächsten Erfolg mit ihren Landesfarben träumen. Dabei musste die Niederlande in der Qualifikation zur WM-Endrunde zunächst den Umweg über die Playoffs gehen und hatte auch zu Beginn der Gruppenphase mit einem schweren Start ins Turnier zu kämpfen.
"Als wir hierher kamen, hat in der Heimat jeder gesagt, dass wir Weltmeister werden - und das hat uns unter Druck gesetzt", äußerte sich Miedema zuletzt bei einer Pressekonferenz. Spätestens seit dem Aufeinandertreffen mit Japan (2:1) hat sich die Niederlande aber gefangen und hat nun die Chance, im Finale gegen Top-Favorit USA am Sonntag den ganz großen Coup zu landen.
Der niederländische Frauenfußball erlebt eine "gewaltige Explosion"
Doch auch im Nachwuchsbereich zeigen sich die Auswirkungen der Reformen, die der KNVB 2001 im Frauenfußball eingeleitet hatte. Aktuell gibt es 3.000 Vereine in den Niederlanden, davon stehen 2.500 in Verbindung mit Frauenfußball. 2016 waren zudem fast 152.000 Mädchen und Frauen als Spielerinnen beim niederländischen Verband registriert. "Das macht uns zu dem am schnellsten wachsenden Sport in den Niederlanden, denn wir haben doppelt so viele Spielerinnen wie noch vor zehn Jahren", betonte van Oostveen. Diese Entwicklung soll nun gestärkt werden.
Einen ersten Schritt hat der KNVB bereits 2009 unternommen, als die Nationalspielerinnen mit Profiverträgen ausgestattet wurden, um sich ganztägig auf den Fußball konzentrieren zu können. Mit dem Einzug ins WM-Finale wird die Anerkennung des Frauenfußballs nun vorangetrieben. Das weiß auch Wiegman: "Jede Generation leistet die nötige Vorarbeit für die nächste Generation. Als Pauw noch Trainerin war, hat sie beim KNVB eine Plattform geschaffen, die es uns ermöglich hat, die Bedingungen für den Frauenfußball zu verbessern."
Der niederländische Frauenfußball hat aus den Fehlern der letzten Jahre gelernt und verstanden, dass es besser ist, auf lange Sicht zu planen. "Das Potenzial war schon länger vorhanden, aber die Einrichtungen noch nicht", sagte Wiegman nach dem späten Erfolg im Halbfinale gegen Schweden. Die Gründe für den Aufschwung liegen auf der Hand: "Es ist die gesamte Entwicklung in den Niederlanden, auch die Spielerinnen machen größere Schritte."
WM-Finale: Niederlande Außenseiter gegen die USA
Für die ehemalige niederländische Nationalspielerin Anouk Hoogendijk ist der aktuelle Erfolg ebenfalls nicht vom Himmel gefallen: "Der Frauenfußball ist seit Jahren auf dem Vormarsch - und nun auch wirklich angekommen", sagte die 34-Jährige gegenüber De Volkskrant.
Gegen den dreimaligen Weltmeister aus den USA geht die Niederlande jedoch als Außenseiter ins Finale. "Ob sie nun das Finale gewinnen oder verlieren, sie haben den Frauenfußball wieder auf die Karte gesetzt: Alle reden darüber", zieht Foppe de Haan, einst Assistent von Wiegman, bereits eine positive Bilanz vom Turnier: "Der Frauenfußball erlebt eine gewaltige Explosion."
Der Name des Gegners wird die Oranje Leeuwinnen jedenfalls nicht einschüchtern: "Die Spielerinnen haben an einigen Turnieren teilgenommen und sind daher inzwischen auch sehr erfahren. Sie glauben daran, ihre Leistung bringen zu können", hat Wiegman Vertrauen in ihre Schützlinge: "Und der Glaube kann verwirklichen."