Heute sieht Osvaldo Bagnoli ein wenig aus wie Woody Allen. Beide tragen eine schwarze runde Brille und sowohl im Gesicht des mailändischen Fußballelehrers, als auch in dem des Filmemachers aus Brooklyns ist etwas Intellektuelles zu finden. Wache Augen und ein nicht genau zu verortender Zug um den Mund. Stolz? Wissen? Überhaupt haben die beiden noch mehr gemeinsam. Beide sind Jahrgang 1935 und beide haben in ihrer Arbeit immer auf das Detail geachtet. Die kleinen Dinge waren es, auf die sowohl Bagnoli, als auch Allen Wert legten. Akribie, Fleiß und Offenheit. Während Allen aber mit der Präzision und Kraft eines 25-jährigen Wunderkindes trotz seiner 79 Jahre Filme macht wie eh und je und dabei sein geschultes Handwerk immer versierter präsentiert, ist Bagnoli längst von der großen Bühne verschwunden. Seit über zehn Jahren. Sein großer Auftritt ist Vergangenheit. Im Sommer jährt er sich zum 30. Mal. Bagnoli feierte in einer magischen Saison mit Hellas Verona sensationell den Gewinn der Serie A. Mit einem 17-Mann-Kader. Mittendrin ein blonder Deutscher mit dem Namen Hans Peter Briegel.
Maradona macht Briegels Weg frei
Celestino Guidotti war ein Mann mit Ambitionen. Ein wenig narzisstisch, aber mit dem Herzen am rechten Fleck. Als er im Sommer 1984 mit Osvaldo Bognoli zusammen saß, war Hellas Verona in der Liga gerade Sechster geworden, ein gutes Ergebnis für die Venetier. Der Präsident und sein Trainer tranken Pinot auf der Terrasse Guidottis und redeten über Fußball.
"Briegel?", fuhr Guidotti aus der Haut, "wer zur Hölle soll das sein?" Bognoli schob seine Brille ein wenig nach unten und sah seinen Vorgesetzten ungläubig an. "Du führst einen Fußballverein und kennst nicht Briegel? Mio dio!" Bognoli hatte dem Hellas-Präsidenten gerade mit einem Portfolio seinen Wunschspieler präsentiert, eben jenen Briegel, 29, aktiv beim 1. FCK, Europameister 1980.
Begehrtes Importgut: Deutsche Fußballer in den 80ern. Hier: Briegel mit Rummenigge (Inter)
Guidotti aber hatte andere Visionen von der Zukunft seines Klubs. "Wir brauchen keinen Deutschen. Die sind zwar kampfstark, aber mehr nicht. Ich will einen Namen. Einen Techniker. Ich will um den Scudetto mit spielen, Osvaldo!", erklärte Guidotti sein Ziel. Celestino ist verrückt geworden, dachte Coach Bagnoli verdrossen und trank seinen Wein aus.
Ein paar Wochen später flogen Bagnoli und Guidotti nach Paris. Ins Herz der gerade laufenden EM 1984. Briegel hatte mit Neapel verhandelt, die dann als zweiten damals erlaubten Ausländer einen gewissen Diego Armando Maradona verpflichteten, was den Weg frei machte für Hellas Verona. Bagnoli hatte Guidotti von den Qualitäten Briegels überzeugt. Noch in Paris wurden die Vertragsdetails ausgehandelt und nach der EM ging es für den Deutschen über die Alpen nach Venetien.
Der Alchmist formt
Bagnoli, den sie in Italien wegen seiner akribischen Arbeitsweise und taktischer Strebsamkeit den Alchimisten oder den Schweizer rufen, hat längst einen Plan. Er will einen kleinen Kader mit flexiblen Spielern. Neben Briegel ist der Däne Preben Elkjaer-Larsen neu beim norditalienischen Klub, ein 26-jähriger Stürmer, der aus Belgien vom KSC Lokeren kam. Ein Import mit noch weniger Glamour als Briegel, Guidottis großer Name war Wunschdenken des Präsidenten geblieben. 20 Spieler, darunter die drei A-Jugendlichen Residori, Terrcciano und Matteano, ein heute undenkbar dünner Kader, der dennoch genau so war, wie Bagnoli ihn haben wollte. Eine Finanzspritze während der Saisonvorbereitung lehnte er ab. Stattdessen stand Training auf dem Plan, das Briegel so nicht kannte. Wir haben hart trainiert, zweimal drei Stunden am Tag. Aber immer mit Ball. Waldläufe oder Sprints kamen bei Bagnoli quasi nicht vor. Stattdessen immer wieder Unter- und Überzahlspiel. Wir waren ein verschworener Haufen. Top eingespielt, erzählt Briegel vom Hellas di Bagnoli, von dem Team, das der Alchimist zu einem Champion formte.
Zunächst war das Ziel Rang fünf und selbst das schien ein wenig zu hoch gesteckt. Juve, Inter, Milan, Roma waren die Namen die unerreichbar für Hellas erschienen. Guidotti hatte derweil seine eigene Motivationstaktik. Er bestellte seinen neuen Führungsspieler Briegel in sein Büro. Mit bierernster Miene empfing er den Deutschen, der zunächst dachte einen Einlauf auf venetianisch zu kassieren. "Hans Peter", sagte der Präsident in grauenvollem Englisch, "schießt du zehn Tore, bekommst du einen Maserati!" Briegel lächelte, unsicher ob Guidotti den Verstand verloren hatte oder sich einen Scherz erlaubte. Dass dies völlig Ernst gemeint war, erfuhr Briegel erst später, als er dem Rennwagen erstaunlich nahe war.
Herkules Briegel
Am 16.9 war es so weit, das Schreiben einer sensationellen Geschichte begann für Hellas mit einem Heimspiel gegen den SSC Neapel, der mit dem heiligen Maradona ins "Marcantonio Bentegodi" kam. Ein Heer von Fotografen belagerte die argentinische Nummer Zehn, während die Tifosi das ausverkaufte Stadion zum Beben brachten. Bagnoli bot ein 3-5-2 auf. Briegel ließ sich als offensiver Mittelfeldspieler immer wieder fallen und kam so Maradona ins Gehege. Schon nach wenigen Minuten hatten die Hellas-Fans den Deutschen in ihr Herz geschlossen. Er war schnell, sprungstark, hatte gewaltige Oberschenkel und er nahm Maradona, mit dem Briegel noch heute befreundet ist, locker leicht den Ball ab.
In der 26. Minute zwirbelte Pietro Fanna, italienischer Nationalspieler, Linksfuß und Halbglatzenträger eine Ecke von rechts in den Strafraum. Briegel stieg hoch und nickte ein. "Hellas' Herkules erlegt Diego", titelte die Gazzetto. Weiter im Text: "Briegel spielte wie ein Teutone, wie ein Panzer". Hellas gewann 3:1 und läutete eine überragende Hinrunde ein.
Hellas' Herkules: Briegel wurde schnell zum Liebling der Medien und Massen
Nur ein Spiel wurde verloren, lediglich sechs Tore kassierte das Bagnoli-Team, dessen überragender Kern aus Tricella, Di Gennaro, Volpati, Briegel, Fanna, Galderisi und Elkjaer-Larsen bestand. Vor dem sehr sicheren Torhüter Garella verteidigte das Trio Tricella, Fontolan und Marangon. Tricella brachte es auf elf Länderspiele, Marangon immerhin auf eines. Das Mittelfeld mit dem athletischen Ex-Leichtathleten Briegel, dem Strategen Di Gennaro (15 Länderspiele), dem beidfüßigen Laufwunder Fanna (14 Länderspiele) und Volpati, der mit starker Antizipation die Defensiv-Struktur aufrecht erhielt. Volpati war es auch, den Bagnoli als seinen wichtigsten Spieler bezeichnete. Vorne spielten der pfeilschnelle Elkjaer-Larsen und Galderisi, ein wendiges Schlitzohr, das zehn Mal für die Squadra Azzura auflief.
Am fünften Spieltag schlug Hellas das große Juve mit Rossi, Boniek und Platini mit 2:0. Der Taktiker Bagnoli hatte auf vier Verteidiger umgestellt und setzte auf Konter gegen die von Trappatoni trainierte Alte Dame. Sein Konzept ging auf, Galderisi per Kopf und Elkjaer-Larsen mit einem maradona-esken Solo trafen - 2:0 und ein taktisch optimales Spiel der Norditaliener.
Wie ein Champion
Vor Beginn der Rückrunde prophezeihten viele Experten Hellas einen Einbruch. Nichts dergleichen geschah, unbeirrt spielte Verona seinen taktischen Fußball weiter. Obwohl man nach dem Rückspiel gegen Neapel (0:0) kurz nur Zweiter ist, bleibt Bagnoli ruhig. Die nächsten neun Spiele bleibt Hellas ungeschlagen, obwohl man nacheinander gegen Inter, Juve und Rom spielt. Bemerkenswert auch das wilde 5:3 über Udinese am 18. Spieltag, das zeigt wie sehr Verona diesen Titel wollte. Fanna flankt auf Briegel: 1:0. Galderisi staubt ab: 2:0. Langer Schlag auf den spekulierenden Larsen, der lupft sehenswert: 3:0. Das Spiel gelaufen? Mitnichten. Innerhalb von 14 Minuten gleicht Udinese aus. Hellas reagiert wie eine Spitzenmannschaft auf den Schock durch die ersten drei Gegentore in einem Spiel der Saison. Larsen und Briegels linker Außenrist: 5:3. Stark auch das reife 1:0 gegen die Roma drei Wochen später. Rom mit Carlo Ancelotti beginnt dominant und aggressiv. Verona liefert sein Meisterstück, beißt sich heran und gewinnt angetrieben vom überragenden Fanna mit 1:0 (Tor: Larsen).
Der Alchimist: Trainer Bagnolo im Moment des Triumphes
Am vorletzten Spieltag reicht ein Punkt gegen Atalanta. Elkjaer-Larsen holt ihn mit seinem Tor, Verona ist zum ersten Mal Meister. Fahnenmeer, jubelnde Männer in Feinripp-Unterhemden. Unvergleichliche Bilder. Bagnoli wird geschultert, Hellas feiert seinen Alchimisten und natürlich seinen blonden Teutonen. Das letzte Match wird zum Triumphzug für die Helden von Verona. Blau-gelbe Luftballons, Farbbeutel verdunkeln die venetianische Sonne, Flugzeuge fliegen eine Ehrenrunde und die Tiffosi sind außer sich. Und für Briegel geht es sogar noch um den Maserati. Neun Tore hat er vor dem Spiel gegen Avellino auf dem Konto. Zehn braucht er für das Rennauto, das ihm die Präsident versprochen hat. "Im letzten Spiel der Saison gab es einen Elfmeter, und meine Mannschaftskameraden haben zu mir gesagt, ich solle doch schießen. Ich habe geantwortet: Nein. Ich möchte die zehn Tore aus dem Spiel heraus erzielen. In diesem letzten Spiel haben wir zwar mit 4:2 gewonnen, und ich habe als Mittelstürmer gespielt, aber das zehnte Saisontor habe ich leider trotzdem nicht mehr geschafft", erinnert sich Briegel.
Ein Mann mit Vision
Statt einem Maserati bekommt er einen wertvolleren Titel: Er wird Deutschlands Fußballer des Jahres 1985. Als erster Legionär und Nachfolger gewisser Spieler wie Beckenbauer, Seeler, Müller oder Rummenigge. Der Junge vom Betze ohne Schienbeinschoner war der König Italiens und Deutschlands und war nun auch Herrn Guidotti bestens bekannt.
"Habe ich doch gesagt, dass wir mit Briegel Meister werden", sagt Guidotti zwei Jahre später zu Bagnoli. Der lächelt wissend hinter seiner runden Brille. Celestino ist verrückt geworden, denkt er.
"Die Wahrheit ist, es hat niemals auf der Welt viele bemerkenswerte Leute gegeben. Die meisten stützen sich ständig auf den Typ gerade neben ihnen - und fragen, was sie tun sollen" hat Woody Allen einmal gesagt. Bagnoli sagt seinem Präsidenten nicht, wie es in Wahrheit gewesen ist. Er weiß, wer der wahre Konstrukteur des Titels von 85 ist. Er ist einer der Großen, von denen Allen spricht, einer von denen, die selbst machen und nicht machen lassen. Einer von denen, die eine Vision haben und alles dafür tun. Und wenn das heißt, seinen Vorgesetzten auf dessen Terasse von den Qualitäten eines großen Deutschen aus Kaiserslautern zu überzeugen.
Sehr schön geschrieben und für solche Geschichten wie die von Hellas und solche Typen/Präsidenten wie Guidotti liebt man doch den Calcio ;)
in Verona sind Briegel und Larsen bis heute noch Helden, setzt Euch bei nem Besuch nur an eine x-beliebe Theke in der Stadt und sprecht mit Einheimischen
(edit: funktioniert vielleicht auch nur bei Dänen/Deutschen )
Toller Blog.
Klarer 10er.
Geschichten die man immer mal wieder am Rande mitbekommt, aber aufgrund des eigenen Alters nicht miterlebt hat.
Gerne mehr davon. Lasse die absolut berechtigten 10 Punkte hier.