Ich mag Sepp Blatter nicht besonders. Stefan Kießling dagegen durchaus. Und doch meine ich: ersterer hat Recht, zweiterer nicht. Jedenfalls bezogen auf das Phantomtor.
Schweigen ist Gold
Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal die Fresse halten, sagt Dieter Nuhr und hat Recht. Wenn man ein schlechtes Gewissen hat, einfach mal die Mikros stehenlassen, könnte man seit Freitag ergänzen. Stefan Kießling ist ein fairer Sportsmann. Als Treter ist er nicht bekannt. Ich kann mich an keine gelbe Karte erinnern, die er wegen einer Schwalbe gesehen hat. Sein Ruf ist untadelig. War untadelig, muss man sagen. Seit dem 18.10.2013 ist er es nicht mehr.
Hätte er doch nichts gesagt. Die Verteidigung wäre so einfach gewesen. Der Schalker Held berief sich einst auf den Totalausfall des Kurzzeitgedächtnisses. Hat Manuel Neuer im WM-Achtelfinale 2010 gesagt, der Ball war drin? Hat einer der Nürnberger Ersatzspieler den Schiedsrichter auf den regulären Volland-Treffer am ersten Spieltag hingewiesen? Hat Helmer Jablonski geholfen? Nein. Alle anderen waren doch offenkundig auch verwirrt. Selbst der sky-Reporter rief "TOR!". Der Profi-Fußball ist Business. Zynisch, hart, geldgeil. Kießling ist Teil des Geschäfts. Klappe zu, Fairness tot.
Aber er hat etwas gesagt. Jürgen Klopp hat Recht. Man hätte den verhinderten Nationalstürmer einfangen und in der Kabine einsperren sollen. Stefan Kießling ist ein großer Junge. Aber er hätte vor sich selbst geschützt werden müssen. Im Zweifel für den Angeklagten gilt. Je schweigsamer der Angeklagte, desto größer in der Regel die Chance auf Zweifel. Lässt er sich ein, sind die Widersprüche vorprogrammiert. Dann nagen die Zweifel nicht an der Schuld, sondern am Angeklagten selbst. Quod esset demonstrandum.
Gegen die Geschichte, die Kießling nach dem Spiel erzählte, ist "Hänsel und Gretel" ein Doku-Drama. Er habe sich weggedreht und nichts gesehen. Plötzlich hätten alle gejubelt. Semiprofessionelle Lippenleser wollen später im Dialog mit Dr. Brych das Wort Außennetz entziffert haben.
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Kießling dreht sich weg, ja. Wie der Ball ins Tor kam, mag er verpasst haben. Aber er drehte sich weg, nachdem er gesehen hatte, dass er den Ball daneben setzte. Warum sollte er sonst die Hände vor das Gesicht schlagen? Ob er dem promovierten Juristen von einem Kopfball ans Außennetz berichtet hat, ist deshalb unerheblich. Er sah, dass der Ball danebenging. Mehr musste er nicht sehen, um die Szene aufzuklären.
Denn hat er das gesehen, muss er davon ausgegangen sein, dass es Abstoß gibt. Wie um alles in der Welt soll der Ball dann auf regulärem Weg in seinem Rücken wenige Sekunden nach seinem erfolglosen Schussversuch ins Tor gelangt sein? Brych ging ersichtlich davon aus, dass der Kopfball im Tor gelandet war. Das hätte Kießling aufklären können. Es hätte für eine Rücknahme des Tores gereicht und für den Fair-play-Preis auch. Er tat es nicht. Mit der Kritik daran muss er leben. Hätte er nach dem Spiel...nun die Fresse gehalten, wäre die Kritik vielleicht genauso groß gewesen, das ist wahr. Aber das Erregungspotential wäre erheblich geringer gewesen. Die Zweifel hätten sich zu seinen Gunsten ausgewirkt. So fragt man sich nicht nach dem fair play, sondern warum Kießling sich mit Halbwahrheiten behilft. Und doch...
Tatsachenentscheidungsfundamentalist
...bin ich und deshalb gegen eine Wiederholung des Spiels. Mir hat noch niemand plausibel erklärt, wo die Grenze gezogen werden soll, ab der der grüne Tisch das Spiel auf dem grünen Rasen übernimmt.
Manche sagen: ein gegebenes Tor, das keines war, ist etwas anderes als eine falsche Abseits- oder Elfmeterentscheidung. Das stimmt insofern, als es einen unbestreitbaren, unmittelbaren Einfluss auf das Endergebnis hat. Ein nicht gegebener Elfmeter hätte verschossen werden können, ein zu Unrecht wegen Abseits zurückgewunkener Spieler hätte die Chance trotzdem vergeben können. Für Leverkusen wird einfach ein Tor mehr notiert als sie erzielt haben. Nur: mal abgesehen von der Frage, ob Bayer nicht ohne Phantomtor weitere Treffer erzielt hätte, wo ist der Unterschied zu einem regulären Tor, das nicht anerkannt wurde? Der messbare Einfluss auf das Endergebnis ist der gleiche. Die Antwort auf Lampard und Volland war aber nicht Spielwiederholung, sondern die Forderung nach der Torlinientechnik. Ich verstehe den Unterschied nicht. Die Spielwiederholung ist der Einstieg in den Ausstieg aus der Tatsachenentscheidung.
Der Sündenfall
...nicht Präzendenzfall war Bayern gegen Nürnberg. Der DFB hatte 1994 ein Schlupfloch gefunden. Nicht das von Osmers gegebene Tor bildete den Ansatz für die Spielwiederholung. Ein Regelverstoß war der Hebel. Osmers hatte die Entscheidung an seinen Assistenten Jablonski, der damals noch Linienrichter hieß, abgetreten. Das war nicht erlaubt. Ergo Wiederholungsspiel. Die Wahrheit ist aber: es war nichts anderes als der Videobeweis durch die Hintertür. Hätte es die Fernsehbilder nicht gegeben, die eindeutig bewiesen, dass der Ball die Linie nicht überquert hatte, hätte es auch kein 5:0 gegeben. Die Frage, wer das Tor erkannt haben wollte, ist eine reine Formalie. Auf diese Formalie allein kommt es aber gar nicht an. Anderenfalls hätte jedes Spiel, in dem der Linienrichter (vor der Aufwertung zum Assistenten) letztlich die Entscheidung "Tor oder kein Tor" getroffen hat, wiederholt werden müssen und zwar völlig unabhängig davon, ob sie richtig oder falsch war oder sogar umstritten bleibt. Wembley...anyone?
Das fordert zu Recht niemand. Systematisch hing die Spielwiederholung somit am Nachweis der Auswirkung des Formfehlers auf die Richtigkeit der Entscheidung. Dieser Nachweis ist aber nur mit Fernsehbildern zu führen. Wenn das kein Videobeweis trotz entgegenstehender Tatsachenentscheidung ist, was dann?
Die Hoffenheimer wissen das übrigens selbst. Deshalb begründen sie den Protest auch vordergründig nicht mit der falschen Entscheidung. Die von Brych selbst nach dem Spiel geäußerten Zweifel und die Berufung auf den mangelnden Protest der Hoffenheimer sollen den Ausschlag geben, weil ein Tor nur gegeben werden darf, wenn sich der Schiedsrichter aufgrund eigener Wahrnehmung seiner Sache sicher ist. Das ist eine ziemlich formelle und verquaste Begründung, aber eben logische Folge der Helmer-Entscheidung. Kein Hahn kräht danach, ob sich ein Schiedsrichter bei seiner Entscheidung "sicher" ist, selbst wenn er zugibt, sich nicht sicher gewesen zu sein. Solange sie nur richtig ist. Die Protestbegründung lautet in Wahrheit nicht: Brych war sich unsicher. Sie lautet: Brych war sich unsicher und die Entscheidung war falsch. Oder technischer: das falsche Zustandekommen (unsichere Wahrnehmung) der Entscheidung hat sich ausgewirkt. Beweis: Fernsehbilder...
Dass Hoffenheims Trainer Gisdol im Sportstudio giftete, das alles sei lächerliche Paragraphenreiterei, ist verständlich. Nur hört man zwischen den Zeilen schon die Späne fallen, weil gehobelt wird. Lasst Gerechtigkeit walten, auch wenn die Welt einstürzt? Die FIFA hatte 1994 Recht. Sie hat heute Recht. Nach 90 Minuten muss Schluss sein. Auf dem Dorfsportplatz mit drei Handykameras genauso wie im WM-Finale mit 1 Milliarde Fernsehzuschauern. Ob die Entscheidungen formal richtig zustande gekommen sind, kann im Bewertungsbogen vermerkt werden. Solange alle nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt haben, ist das Spiel beendet, wenn der Schiedsrichter abpfeift. Der grüne (Fernseh)Tisch ist keine Lösung. Er ist der Anfang vom Ende. Wenn man Sportrecht studiert haben muss, um zu wissen, wie das Spiel ausgegangen ist, ist der Fußball kaputt. Ein kluger Mann sagte einst, die Leute gingen zum Fußball, weil sie nicht wüssten, wie es ausgeht. Man könnte ergänzen: sie gehen zum Fußball, weil sie sicher sind, dass das Ergebnis nach 90 Minuten feststeht.
Die beiden einzigen, die sich einen Vorwurf machen lassen muessen sind der Assi und der Hoffenheimer Platzwart. Die haben es verbockt und sowohl Brych wie auch Kiessling sind jetzt in der oeffentlichen Meinung die Dummen.
Ob es ein Wiederholungsspiel geben sollte weiss ich nicht. Ist fuer mich irgendwie ein 50% pro Tatsachenentscheidung und 50% pro Gerechtigkeitsgeschichte. Ich bin da komplett hin und her gerissen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass es Brych und Kies genauso geht.
Trotzdem ein sehr gut geschriebener Blog / Kommentar. Deutlich besser als der meiste Schund, der auf den einschlaegigen Websites diesbezueglich zu lesen war.
Tatsachenentscheidung ist auch etwas schwammig formuliert von der FIFA. Tatsache ist nun einmal, dass der Ball zuerst im Aus und dann im Tor war. Ist doch völliger Humbug in unserem Zeitalter lediglich auf das Auge eines Schiedsrichters zu vertrauen.
Ich stimme deinem Text zum Großteil zu, auch in der Hinsicht, dass kein Spiel 2 Wochen später entschieden werden sollte. ABER: Wo liegt das Problem einen 5. Offiziellen (gibt ja eh schon genug) in eine Kabine zu setzen, der dem Schiedsrichter sofort sagt "Fehlentscheidung! Schnell revidieren!" oder "Guck dir das mal nochmal an!" Dann geht der Schiedsrichter an die Seitenlinie, guckt sich die Geschichte 30 Sekunden an und sieht "Au ja, der war wohl nicht drin!" Dann würde die ganze Diskussion überflüssig.
Ich verstehe wirklich nicht, wie man sich gegen so etwas sträuben kann. Es ist unfassbar undankbar dem Schiedsrichter dieses Hilfsmittel zu untersagen, wenn 50 000 um ihn herum eine Situation auf der Leinwand sehen können. Ich fordere diese Möglichkeit nur bei klaren "Ja-Nein-Entscheidungen", nicht den Entscheidungen, bei denen im Doppelpass und 15 Minuten diskutiert wird und es drei verschiedene Meinungen gibt. Abseits ist auch manchmal unfassbar knapp, aber dann stehen dieses Wochenende zwei Spieler meterweit im Abseits (1:0 Augsburg und das andere habe ich vergessen) und es scheint niemanden zu interessieren.
Ich glaube das versteht mittlerweile niemand mehr. Ich schaue seit ueber 30 Jahren die NFL und seit 20+ Jahren die MLB und die NHL. Da hat man sich laengst an den Videobeweis gewoehnt und selbst bei dynamischen Sportarten wie Eishockey stoert sich kein Mensch dran, wenn die Schiris sich nach einen umstrittenen Treffer nochmal das Replay ansehen.
@Need4Sheed
Einen 5. Offiziellen finde ich hingegen nicht gluecklich. Damit nimmst Du dem Schiedsrichter im Endeffekt seine Autoritaet da draussen jemand sitzt der ihn im Zweifel ueberstimmen koennte. Einfach den Ref fuer ne Minute an den Spielfeldrand schicken und sich ne Wiederholung ansehen. Damit ist niemandem geschadet.
Nur um das kurz klarzustellen: IM Spiel bin ich für jede Diskussion über Hilfsmittel offen. Videobeweis, Oberschiedsrichter, Torlinientechnik etc. etc. Kann man alles diskutieren, ob und ggf. wie man dem Schiedsrichter bei seinen "Tatsachenentscheidungen" hilft.
Aber wie gesagt: wenn ich aus dem Stadion nach Hause gehe, will ich wissen, wie es ausgegangen ist.
@ KEMPERBoyd: Ich hatte mir das schon gedacht, bist immerhin gar nicht auf die Sitiuation im Spiel eingegangen. So stimme ich deiner Argumentation absolut zu. Wenn das Spiel vorbei ist, ist es vorbei.
versetz dich in die lage..
du köpfst, siehst die flugbahn geht ins aus, drehst ab und danach liegt der ball im tor.. die hoffenheimer beschweren sich nicht, der schiri deutet tor an.. alle sind zwar ein bisschen verwirrt aber diese situation gab es noch nie.. außerdem war es nicht so, dass der ball auf dem weg ins tor vom netz abgebremst oder "umgelenkt" wurde sondern es war eine einheitliche bewegung...
die ganze sache hat sich innerhalb weniger sekunden abgespielt und hier auch nur irgendjemand (außer vielleicht platzwart und linienrichter wegen der netzkontrolle) zu brandmarken ist nicht in ordnung!
davon abgesehen find ich deine meinung zum thema tatsachenentscheidung sinnvoll, richtig und gut..
kommt oft genug vor, dass ein spieler nach einem freistoß ein tor köpft, jedoch zu unrecht wegen abseits zurückgepfiffen wird (pfiff erst wenn der ball im tor liegt); hier wird nur einer mannschaft ein reguläres tor geklaut (welches auch gefallen ist) und nicht geschenkt
Das duerfte aber zum Teil vermutlich komplett haltlosen Diskussionen bei strittigen Situationen Tuer und Tor oeffnen. Wie dem auch sein: Der Videobeweis sollte langsam wirklich her. Mein Gott was sind 30 Sekunden oder eine Minute? Ein Italiener liegt laenger nachdem er zart mit dem Fuss gestreichelt wurde. ;) Nach so einer bizarren Situation wie am Wochenende schadet die momentane Situation doch allen unmittelbar Involvierten.
ich wohne in Leverkusen und alle Leute kommen jetzt mit stefan kiesling unterstützungs Aktionen! bei FB haben jetzt alle ein Foto von ihm im Profil usw.
Völlig absurd! er schlägt die Hände über den Kopf, weil er sieht das der ball vorbei geht! das hat einzig allein diesen Grund. und da spielt es auch keine rolle, ob der ball nachher im tor liegt! Kiesling weiß, das sein Kopfball ins seitenaus gegangen ist!
dazu kommt und das finde ich genauso schlimm, Sam und Kiesling reden beim Gang zur Mittellinie darüber! Dafür muss ich nicht Lippenlesen können.. Sam lacht sich sogar noch einen, während Kiesling die Sache langsam peinlich wird, weil er checkt was da gerade passiert ist! spätestens da zeige ich entweder Courage oder eben nicht..
ganz schlimm übrigens auch Reinartz der das auch ganz genau sieht, auch erst verärgert ist und dann zum großen jubel ansetzt!
ich finde kiesling hat dort die riesen Möglichkeit verpasst ein ganz großer zu werden..
Wenn er das Tor mit der Begründung nicht gegeben hätte und es wäre dann doch regulär gewesen, na das hätte er mal erklären sollen.
Daher: 100%-Zustimmung zu deinem Blog.