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21.06.2008 um 14:06 Uhr
Gefährliche Standards

Ja, der Franz. Da hat er mal wieder einen rausgelassen. Ich meine natürlich unseren Franz, den einzig wahren, den Kaiser. Bei den Kollegen der ARD war er im Studio nach dem deutschen Sieg gegen Portugal und tat eben mal locker alles ab, was bei dieser Europameisterschaft in der Vorrunde passiert war. Nur auf Ergebnis sei da gespielt worden, der echte Fußball beginne ja wohl erst in der K.O.-Runde.

Ich weiß, es ist eine Aussage vom Kaiser. Und trotzdem: Ich erlaube mir, anderer Meinung zu sein. Ich finde, wir haben bislang das offensivste große Fußballturnier seit langer Zeit gesehen. Viele hochklassige, temporeiche Spiele, deutlich mehr als bei der im Nachhinein positiv verklärten WM in Deutschland. Die eignet sich als Gegenargument zur Beckenbauerschen Aussage. Ab der K.O.-Runde regierte da nämlich der Angsthasenfußball. Motto: Bloß nicht verlieren – mit einer rühmlichen Ausnahme und die hieß Deutschland.

Gestern gab es dagegen die unrühmliche Ausnahme bei dieser EM: Das Spiel Kroatien – Türkei wird wohl nur die wenigsten aus dem Fernsehsessel gerissen haben, abgesehen von den letzten drei Minuten der Verlängerung und dem Elfmeterschiessen. Der Türkei mache ich für die vorsichtige Herangehensweise an dieses Spiel gar keinen Vorwurf. Die hatten Probleme mit Verletzungen und Sperren und wussten natürlich auch, dass Kroatien ohnehin die besser besetzte Mannschaft hat.

Die Kroaten waren sich dieser Tatsache auch bewusst - hoffe ich. An ihrem Spiel hat man es nämlich nicht erkennen können. Die Überlegenheit der Kroaten in den ersten 90 Minuten war deutlich, aber nicht so deutlich, dass dabei reihenweise Torchancen herausgesprungen wären. Denn auch die Mannen von Slaven Bilic ließen Vorsicht walten, erst recht in der Verlängerung, als das kroatische Angriffsspiel fast zum Erliegen kam, vor lauter Angst, dem Gegner Räume anzubieten. Und das kann ich nicht nachvollziehen. Wenn ich mit der Gewissheit in ein Spiel gehen würde, dass meine Mannschaft besser als der Gegner ist, dann müsste ich doch alles tun, um ein Elfmeterschiessen zu vermeiden. Da stehen die Chancen für mich dann nämlich nur noch Fifty/Fifty. Und damit schlechter als im Spiel.

Und prompt ging es schief. Nach dem späten Ausgleich der Türken war das allerdings nicht verwunderlich. Schließlich beschäftigten sich die Kroaten nach dem Schlusspfiff mit dem Schiedsrichter, haderten mit dem Schicksal, taten also alles andere, als sich auf das Elfmeterschiessen zu konzentrieren. Die Klagen in Richtung des Unparteiischen waren übrigens unberechtigt. Bilic haderte noch Minuten nach dem Ende mit Schiedsrichter Rosetti, weil der in der Verlängerung eine Minute nachspielen ließ. Dabei hatten sich das die Kroaten durch ihren ausufernden Jubel nach dem Führungstor durch Klasnic selbst eingebrockt. Der letzte Freistoss der Türken, den Rüstü vor das kroatische Tor brachte, wurde vor Ablauf der einen Minute Nachspielzeit ausgeführt, also gab es für die Klagen der Kroaten keine Grundlage.

Nachspielzeit, das ist ohnehin eins meiner Lieblingsthemen. In Deutschland wird die Nachspielzeit anders gehandhabt als in allen anderen Ländern aus denen ich regelmäßig Fußballübertragungen sehe. Dass teilweise sogar überpünktlich abgepfiffen wird (gerade zu Ende der ersten Halbzeit), das gibt es nur bei uns. Und auch am Spielende gelten in Deutschland zwei Minuten als großzügige Nachspielzeit. In England ist das zum Beispiel ganz anders. Da sind zwei Minuten am Ende das absolute Minimum. Die Regel sieht es so vor: Für jedes Tor und jede Auswechselung 30 Sekunden Nachspielzeit, dazu Verletzungsunterbrechungen, halbe Minuten werden aufgerundet. Nun müssen nur beide Mannschaften ihr Wechselkontingent in Hälfte zwei ausschöpfen und schon sind wir bei drei Minuten.

Da wir Deutschen so ziemlich die einzigen sind, die diese Vorgaben nicht umsetzen, ist es wohl an der Zeit, daraus die Konsequenzen zu ziehen und uns umzustellen. Statt bei jedem großen Turnier erstaunt zu sein, wie lange international über die Zeit gespielt wird.

Ein anderes Thema können wir dagegen zu den Akten legen: den gefürchteten Flatterball nämlich. Kein einziges Tor ging bei dieser EM bisher auf sein Konto. Zwar gab es durchaus Tore durch Distanzschüsse, aber Ballacks Freistoss gegen Österreich zum Beispiel hat alles getan, nur nicht geflattert. Trotzdem sind die Standardsituationen auffällig. Bei der letzten EM hatten sich die Griechen noch mit Ecke-Kopfball-Tor den Titel gesichert. Diesmal gab erst fünf Tore nach Ecken oder Freistössen von der Seite per Kopf. Ist man freundlich, zählt man noch den Abstauber von Italiens Verteidiger Panucci gegen Rumänien dazu, dem ein Kopfball vorausgegangen war.

Ausgerechnet unsere angeblich bei Standards so schwache deutsche Mannschaft führt diese Statistik nach den beiden Kopfballtreffern gegen Portugal an. Was völlig fehlt: Kopfballtore von Innenverteidigern. Ihr wisst schon, bei Ecken oder Freistössen von der Seite kommen immer die kopfballstarken Innenverteidiger mit nach vorne, um vor dem gegnerischen Tor für Gefahr zu sorgen. Sagt man. Zu sehen ist davon bei dieser EM bisher nichts. Das erste Kopfballtor eines Verteidigers bei diesem Turnier steht jedenfalls noch aus. Diese Situationen sind zwar weiterhin brandgefährlich, aber oft für die Mannschaft, die den Standard ausführt. Dann kann der Gegner nämlich ausgezeichnet kontern.

Im Fernsehen sieht man das meist nicht, aber üblicherweise bleiben bei den Standards nur zwei Mann zur Verteidigung hinten, natürlich die kleinsten. Bei Deutschland ist das zum Beispiel eine Aufgabe für Philipp Lahm. Wird nun die Ecke oder der Freistoss schnell abgewehrt oder zu weit getreten, hat der Gegner plötzlich jede Menge Platz, weil die Abwehr zwangsläufig nicht organisiert ist. Gerade gegen Mannschaften wie die Niederlande oder Russland, die außergewöhnlich schnelle Spieler haben, geht so etwas leicht ins Auge. Bestes Beispiel: Das 2:0 der Holländer gegen Italien. Voraus ging eine Ecke für die Italiener. Es gilt also: Standards bleiben gefährlich, allerdings auf beiden Seiten.

Bis bald,
Andreas
Aufrufe: 2879 | Kommentare: 6 | Bewertungen: 5 | Erstellt:21.06.2008
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KOMMENTARE
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Ste
21.06.2008 | 18:57 Uhr
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Ste : 
21.06.2008 | 18:57 Uhr
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Ste : 
Wir wissen doch alle, dass der Kaiser nicht immer mit seinen Aussagen Recht hat und manchmal ziemlich viel Stuss redet, aber natürlich war die KO-Runde nicht so, wie Beckenbauer sie beschrieben hat, beste Gegenbeispiele waren Spanien, Holland und Portugal.
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Tohdi
21.06.2008 | 19:28 Uhr
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Tohdi : 
21.06.2008 | 19:28 Uhr
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Tohdi : 
Ich denke der Kaiser hat seine Aussage auf die deutsche Mannschaft bezogen - dort trifft sie auch zu.
Ansonsten eine gute Zusammenfassung der EM. Insbesondere die Einschätzung der EM als offensiver gespieltes Großturnier halte ich für treffend.
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Red_7
22.06.2008 | 00:08 Uhr
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Red_7 : 10 P
22.06.2008 | 00:08 Uhr
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Red_7 : 10 P
Sehr interessant, besonders die Ausführungen über die Nachspielzeit in anderen Ligen. Das in den anderen Liegen mehr nachgespielt wird ist mir schon aufgefallen, das das aber so Durchdacht ist war bisher nicht bekannt.
Bei diesere EURO fehlt überhaupt einige Torarten. Weitschüsse, direkte Freistöße...
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weirdo
22.06.2008 | 03:57 Uhr
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weirdo : 
22.06.2008 | 03:57 Uhr
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weirdo : 
soviel ich weiss ist in dem moment über die deutsche mannschaft gesprochen worden und nicht über die vorrunde aller mannschaften
daher habe ich es auch so empfunden, dass der kaiser die aussage auch nur bezüglich der deutschen nationalmannschaft getroffen hat
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Essien
22.06.2008 | 15:16 Uhr
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Essien : 
22.06.2008 | 15:16 Uhr
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Essien : 
Das mit den Nachspielzeiten ist schon ein richtig grosser Unterschied nicht nur weil es am Ende mehr Nachspielzeit gibt sodern auch unter dem Spiel ist bei der Buli das viel zu lange Warten zB. Ausführung eines Freistosses ein Unterschied, man muss ja nur PL Spiele vergleichen und Buli Spiele, bei den PL Spielen sinds richtige 90 Minuten und meistens noch bei grossem Tempo.
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BVB09er
22.06.2008 | 15:56 Uhr
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BVB09er : ...
22.06.2008 | 15:56 Uhr
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BVB09er : ...
Beckenbauer ist doch der Edmund Stoiber des Fussballs ! Der meistens so einen Schwachsinn verzapft wie der eben genannte Politiker ! Da spielt die Nationalmannschaft in der ersten runde nach den Vorrundenspielen mal richtig gut und schon haut er eine Aussage raus,das das Turnier eh erst in der K.O. Runde richtig losgeht ! Mit etwas pech hätten wir die Vorrunde nichtmal überstanden ! Sehe es genauso das ab der K.O. Runde der Angsthasen-Fussball losgeht ! Das sieht man ja auch daran,das 2 der bisher 3 viertelfinalspiele in die verlängerung gegangen sind und vorher nicht allzu viel gewagt wurde !
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