16.06.2010 um 19:20 Uhr
Konsequent defensiv
Tja, was sagt man zu so einem Spiel? Ich denke nicht, dass "Sensation" untertrieben ist. Wir reden hier immerhin vom amtierenden Europameister, der in zwei Jahren nur ein Spiel verloren hat. Aber ist es nicht das passende Resultat und Spiel für eine WM bei der alle stolz präsentieren, wie toll sie verteidigen können? Da ist ein solcher Sieg eines Teams, das eigentlich ja nur den Gegner am Spielen hindern wollte auch schon wieder konsequent. Nun ja, zum Spiel:
Spanien begann im erwarteten 4-3-3. Mit Iniesta am linken Flügel, dessen Mitwirken lange fraglich gewesen war. Keine überraschungen also bei den Spaniern.
Bei den Schweizern begann Barnetta rechts im Mittelfeld und Ziegler startete hinten links. Ottmar Hitzfeld setzte auf sein bewährtes 4-4-2, allerdings mit Derdiyok als sehr hängender Spitze, die sich tief ins Mittelfeld fallen ließ, so dass man die Formation auch als 4-4-1-1 oder 4-2-3-1 interpretieren könnte.
Es war von Beginn an das Spiel, das alle erwartet hatten. Die Spanier dominierten den Ballbesitz, ließen den Ball laufen und versuchten, die Schweizer Abwehr durch Personalrochaden im Mittelfeld auszumanövrieren. Die Schweiz konzentrierte sich zunächst ausschließlich auf die Defensive und unternahm gar nicht den Versuch, offensiv am Spiel teilzunehmen.
Blaise N'Kufo war die erste Schweizer Verteidigungslinie, oft schon in der gegnerischen Hälfte. Waren die Spanier an ihm vorbei, hielt er die Position, um eventuelle lange Bälle aus der Abwehr zu bekommen. Nun ja, in der Theorie zumindest. Ab und an wurde er dabei von Derdiyok unterstützt, der aber meist im Verbund mit den Mittelfeldspielern verteidigte. Dabei setzte Hitzfeld nicht auf zwei klare Viererketten in Mittelfeld und Abwehr. Stattdessen attackierte immer ein Mittelfeldmann den Ballführenden (oft, aber nicht immer Derdiyok), ein anderer (oft, aber nicht immer Huggel) ließ sich vor die Abwehr zurückfallen, fast wie im 4-1-4-1. Dabei schoben sich die Mittelfeldspieler so eng zusammen, dass die Mitte für die Spanier versperrt war und vor allem auch zwischen den Viererketten kein Raum entstand.
Die Abwehrkette stand nicht auf einer Linie, sondern bildete mit nach vorne gezogenen Außenverteidigern eher einen Schirm. Allerdings war der linke Verteidiger Ziegler im ersten Durchgang auch das Sorgenkind der Schweizer. Weil Silva die rechte Mittelfeldposition nicht hielt, rückte Ziegler immer weiter heraus, um Außenverteidiger Sergio Ramos in Empfang zu nehmen. Teilweise rückte er sogar an seinem Mittelfeldspieler Fernandes vorbei.
Das ergab natürlich jede Menge Lücken für die Spanier. Hier nur drei Beispiele:
18. Minute: Ramos überläuft Ziegler und kommt zum Abschluss.
23. Minute: Ziegler rückt zu weit heraus, die Spanier spielen den Steilpass in seinen Rücken, kommen aber nicht zum Schuss.
24. Minute: Die Krönung. Zieglers Stellungsfehler nach einer Ecke macht die Lücke auf für Piqués Riesenchance, die beste der Spanier vor der Pause.
Nach dem Seitenwechsel attackierten die Spanier diesen Schwachpunkt konsequenter, gleich der erste offensive Ball war ein Diagonalpass auf die rechte Seite. Aber Silva ließ sich weiterhin zu weit nach innen treiben und machte das Spiel der Spanier eng (so wie es die Schweizer wollten). Nach der Führung für Hitzfelds Mannen brachte Del Bosque mit Navas einen fast "englischen" Flügelspieler, der seine Position hält, das Dribbling sucht und Flanken schlagen will. Gleichzeitig stellte er auf 4-4-2 um und brachte mit Torres einen zweiten Stürmer, dem man allerdings überdeutlich anmerkte, dass er noch nicht fit ist.
Ab diesem Moment liefen praktisch alle spanischen Angriffe über rechts. Nur dass Ziegler jetzt seine Position hielt und Navas meist dazu brachte, nahe der Seitenlinie (und damit weit vom Tor weg) zu flanken. Navas' Hereingaben waren reihenweise harmlos und der Versuch, sich im Zusammenspiel mit Ramos zur Grundlinie durchzuspielen fand gar nicht statt. Dabei hatte Ziegler seine Schwächen im Positionsspiel gezeigt und nicht im eins-gegen-eins.
Die Schweizer Offensive war auch zu Beginn der zweiten Hälfte kaum ein Faktor. Und so fiel das Tor auf denkbar simple Weise: Langer Abschlag, Kopfballverlängerung, Stellungsfehler Puyol, der mit seinem Herausrücken die Mitte aufmacht und dann freie Bahn für Derdiyok und Fernandes murkst den Abpraller ins Tor. Ein Tor, wie von einem englischen Trainer in den Fünfziger Jahren erträumt. Ansonsten hatte die Schweiz noch die ein oder andere Konterchance, als Spanien aufmachte. Beinahe hätte Derdiyok sogar noch das 2:0 erzielt. Das war's aber auch schon.
Nach dem 1:0 hatten die Schweizer schon einmal einen Erfolg zu verbuchen: Sie zwangen Spanien, von Ihrer gewohnten Spielweise wegzugehen und mit 4-4-2 über die Flügel zum Erfolg zu kommen. Dass diese Mannschaft andere Dinge besser kann, war nicht zu übersehen. Trotzdem: Die indisponierten spanischen Offensivkräfte verstolperten mindestens drei oder vier vielversprechende Situationen. VOR dem Wechsel weg vom 4-3-3 hätten die Außenspieler Silva und Iniesta das spanische Spiel konsequenter breit machen müssen, da die Mitte ja dicht war.
In den ein oder zwei Situationen, in denen die Spanier kontern konnten, weil die Schweizer mal etwas mutiger nach vorne gegangen waren, zeigte sich genau, warum die Eidgenossen so vorsichtig spielten. In der 30. Minute verlor Hitzfelds Team den Ball nach einer Ecke und Grichting konnte Iniesta nur noch mit einem Foul stoppen, das Schiedsrichter Webb mit Gelb bestrafte. Hätten sich die Schweizer auf ein offenes Spiel eingelassen, dann hätte es eine böse Abfuhr gesetzt.
Die Schweiz kam also mit der einzigen Taktik zum Erfolg, die funktionieren konnte: Hinten ein Bollwerk, vorne extrem vorsichtig und auf die Hilfe vom lieben Gott hoffen. Dazu kamen Spanier, die ihr Niveau nicht abrufen konnten. Und fertig war die erste Sensation des Turniers. Nur: Es war ein ermauerter Sieg in einem bislang von der Defensive bestimmten Turnier. Wem das auf den Wecker geht, der dürfte sich über den Schweizer Sieg nicht allzu laut freuen. Denn Erfolgserlebnisse mit defensiver Einstellung führen lediglich dazu, dass immer mehr Trainer jedes Risiko scheuen werden, solange es nur geht.
Bis bald,
Andreas
Aufrufe: 1751 | Kommentare: 3 | Bewertungen: 2 | Erstellt:16.06.2010
ø 10.0
KOMMENTARE
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16.06.2010 | 19:47 Uhr
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hsver :
Doppelt?
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16.06.2010 | 20:20 Uhr
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Boggler :
Ich denke die Analyse ist alles in allem vollständig und korrekt. Ich denke die Spanier haben eigentlich ein Spiel abgeliefert das man als "ok" bezeichnen könnte.
Sie haben ihr Spiel durchgebracht, hatten in der vordersten Linie dann aber zu wenig Durchschlagskraft und wirkten gegen Ende auch zunehmend einfallslos.
Dennoch haben die Spanier mich nicht enttäuscht. Sie sind ihrer Linie treu geblieben und hatten auch ihre Chancen, das Tor sollte einfach nicht fallen. Natürlich wird Spanien auch weiterkommen, aber möglicherweise nur als 2ter was zu einem Achtelfinalduell mit Brasilien führen könnte...
Zur Schweiz bleibt zu sagen das sie diesen einen Weg, durch den sie gewinnen konnten, beschritten. Es bietet sich jetzt eine realistische Chance die gruppe zu gewinnen und die sollten sie nutzen.
Als Fazit könnte man feststellen das der (G)Ottmar es mal wieder gerichtet hat...
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