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10.10.2008 um 22:53 Uhr
Systemkritiker
Ein Kommentatorenkollege bei Premiere warf neulich nach getaner Arbeit folgende These in die Runde: "Also das ganze Gerede von den Systemen ist doch totaler Quatsch. Ich glaube, die Trainer lachen sich eins, wenn wir ihnen mit den Systemen kommen."

Na, da bin ich aber ganz anderer Meinung. Kann schon sein, dass ein Trainer lachen muss, wenn ihn Journalisten zu seinem System fragen. Es kommt eben auch darauf an, was man dazu fragt. Mein Eindruck ist eher, dass wir in Deutschland erst seit der vergangenen EM überhaupt ernsthaft über Systeme diskutieren. Nachdem wir diesen großen Schritt gemacht haben, müssen wir ja nun nicht gleich alles wieder über den Haufen werfen. Im Übrigen sind die Systeme im Fußball ja keine neue Erfindung. Als man ganz zu Beginn noch mit 9 Stürmern und einem Verteidiger spielte, da war das auch ein System. Herberger hatte eins, Schön auch. Geredet hat nur keiner darüber.

Aber die System = Quatsch Gleichung findet, das will ich nicht verschweigen, auch bei Trainern und Managern (einige wenige) Anhänger. Auf meine Frage, ob er das 4-2-3-1 seines Vorgängers übernehmen würde, antwortete mir der damals neue Paderborner Trainer Holger Fach so: "Wissen sie, wenn man über Systeme diskutiert, zeigt man damit, dass man nichts vom Fußball versteht. Darauf kommt es nämlich nicht an." Was einerseits illustriert, warum der charmante Holger Fach bei mir und vielen meinen Kollegen Jahr für Jahr der Kandidat Nummer eins für die Kategorie "Sympathischster Trainer des Jahres" ist. Und zum anderen folgende Frage aufwirft: Wenn Systeme nicht wichtig sind, warum spielt dann jedes Profiteam mit einem?

Die Antwort lautet natürlich: Weil es nämlich doch darauf ankommt. Aber – und das ist die wichtige Einschränkung- das System alleine entscheidet nicht über Sieg und Niederlage. Wer also glaubt, dass der 3:2-Sieg der deutschen Nationalmannschaft gegen Portugal bei der gerade vergangenen EM nur auf Jogi Löws taktischen Schachzug, vom 4-4-2 auf ein 4-2-3-1 umzustellen zurückzuführen sei, der ist natürlich schief gewickelt.

Keine Angst, von Laufbereitschaft, Einsatzwillen und Zweikampfverhalten fange ich jetzt nicht an. Das sind Grundlagen, ohne die es nicht geht. Aber um erfolgreich Fußball zu spielen braucht man noch ein bisschen mehr. Da ist zum einen das System. Aber dazu kommt noch eine Philosophie oder Spielidee des Trainers (oder Sportdirektors) und zuletzt entscheidet natürlich das Personal darüber, wie der Fußball aussieht, den man dem Publikum anbietet.

Was genau tut denn nun das System? Nun, es legt fest, welche Räume von welchem Spieler in der Offensive und Defensive beackert werden. Und da fällt natürlich eine Vorentscheidung, wie offensiv die Grundausrichtung einer Mannschaft ist. Grob gesagt sind 4-4-2, vor allem mit Raute im Mittelfeld, und 4-3-3 eher offensive Formationen und 4-2-3-1 (bzw. 4-5-1 im Allgemeinen) und 3-5-2 stärker defensiv orientiert. Durch die Philosophie eines Trainers und durch die Spieler, mit denen er die jeweiligen Positionen besetzt kann das Ganze aber auch völlig anders aussehen.

Das 4-4-2 mit Raute im Mittelfeld ist eine in Deutschland sehr beliebte Formation, die beispielsweise in England extrem selten zu sehen ist. Das klassische englische 4-4-2 baut auf zwei zentrale Mittelfeldspieler, die eher defensiv orientiert sind und zwei Flügelspieler, die fast an der Seitenlinie kleben. Das 4-4-2 mit Raute dagegen hat zwei Stürmer, einen zentralen offensiven Mittelfeldspieler (den Typ Spielmacher, den die wenigsten englischen Teams einsetzen), zwei Halbpositionen und einen defensiv orientierten Spieler vor der Abwehr. Üblicherweise werden die Halbpositionen offensiv besetzt. Beispiel: Werder Bremen gegen Hoffenheim. Da spielte Frings vor der Abwehr, Özil und Hunt auf den Halbpositionen, Diego zentral offensiv hinter den Spitzen Pizarro und Rosenberg. Das sind fünf offensive Leute und das trauen sich nicht viele Trainer. Aber nur eine Absicherung vor der Abwehr heißt eben auch Räume für den Gegner. Ihr erinnert euch sicher: Das Spiel endete 5:4.

Man kann die Raute aber auch ganz anders spielen: Beispiel VfL Bochum in der Vorsaison. Hinter dem offensiven Mittelfeldmann Ono spielten da teilweise Zdebel und Dabrowski auf den Halbpositionen und Imhof vor der Abwehr. Drei ausgemachte Defensivspezialisten. Bleiben mit Ono und den beiden Stürmern (damals meist Sestak und Auer) noch genau drei Offensive. Und schon wird das eigentliche offensive System mit Raute ziemlich defensiv.

Oder man macht es wie Benno Möhlmann bei Greuther Fürth in dieser Saison. Der besetzte nämlich teilweise alle vier Mittelfeldpositionen mit offensiv denkenden Spielern. Und auf den rechten Verteidigerposten stellte er dann auch noch den etatmäßigen Rechtsaußen Schröck. Macht insgesamt 7 offensive Spieler. Man könnte auch Harakiri dazu sagen. Fürths Tordifferenz nach 7 Spielen: 20:12. Mit die meisten geschossen, mit die meisten in der oberen Tabellenhälfte kassiert. Das ist natürlich kein Zufall.

Anderes Beispiel: Das eigentlich offensive 4-3-3 System. Praktiziert unter anderem von Schalke 04 und ihrem holländischen Coach Fred Rutten. Wie oft hört man da folgenden Satz: "Schalke, mit drei Stürmern, voll auf Offensive eingestellt." Ach ja? Schauen wir mal genau hin: Hinter den drei Stürmern Kuranyi, Farfan und Halil Altintop spielte zuletzt folgendes Mittelfeld: Westermann, Engelaar und Jones. Ein umfunktionierter Abwehrspieler, zwei defensiv orientierte Mittelfeldleute. Macht am Ende genau drei Offensive. Und das ist nicht viel. Schalkes Torverhältnis nach 7 Spielen: 11:7. Das sind die wenigsten Gegentore der Liga, aber in der oberen Tabellenhälfte hat nur Hertha BSC seltener getroffen. Kein Zufall. Sondern das Resultat der vorsichtigen Marschrichtung des Trainers.

Im Übrigen denken viele Trainer heute gar nicht mehr in den etablierten Kategorien Stürmer oder Mittelfeldspieler. Stattdessen wird eher von Offensiven oder Defensiven gesprochen. Und die Frage lautet immer: Wie viele von jeder Sorte bringe ich, damit die Balance stimmt? Damit ich vorne genug Torgefahr produziere ohne hinten die Bude voll gehauen zu bekommen. Darauf kommt es an. Und der Rest ist Geschmackssache.

Denn eines habe ich bei dieser Diskussion bewusst außen vor gelassen: Gut oder schlecht, falsch oder richtig. Schließlich sollen die Trainer gewinnen. Und dafür müssen sie die richtige Mischung finden: nämlich die aus System, Spielphilosophie und dem zur Verfügung stehenden Personal.

Bis bald,
Andreas

P.S.: ab dem kommenden Donnerstag werde ich für Spox wöchentlich einen Fußball-Podcast produzieren. Zu Wort kommen darin Kollegen von Premiere, aber auch andere Fußballschaffende, z.B. Trainer, Spieler oder Journalisten. Wäre schön, wenn ihr mal reinhören würdet.
Aufrufe: 6360 | Kommentare: 30 | Bewertungen: 23 | Erstellt:10.10.2008
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KOMMENTARE
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DerDugen
11.10.2008 | 13:13 Uhr
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DerDugen : 
11.10.2008 | 13:13 Uhr
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DerDugen : 
sehe ich auch so herr bunsen.
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Rombach
11.10.2008 | 14:13 Uhr
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Rombach : 
11.10.2008 | 14:13 Uhr
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Rombach : 
Wertung:10

Aber ich sehe die Aufgaben eines Trainers wohl doch noch differenzierter...Welcher Spieler ein Offensiver ist und welcher ein Defensiver weiß glaube ich jeder Trainer nach 2 Wochen Training. Die Schwierigkeit des Trainers besteht im Endeffekt wieder aus einer Art "Systemfrage" nämlich:

In welchem System stelle ich meine Offensivspieler auf und welchem system meine Defensiven?
Eine reine Pauschalisierung in Offensive und Defensive scheint mir persönlich zu Oberflächlich.
;)
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jackoncrack
11.10.2008 | 14:27 Uhr
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11.10.2008 | 14:27 Uhr
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Ja, schön erklärt, das man eine anscherinend offensive Taktik auch eher defensiv sein kann, oder auch umgekehrt, jedoch ist doch klar gewesen, dass auch der Spielertyp einen gewissen Einfluss auf die Position hat, in der er eingesetzt wird, bzw. auch auf die Positionen auf die er evtl. ausweicht, so während des Spiels. Am Ende sollte es sich nur irgendwie halbwegs ausgleichen,mehr oder weniger zu Offensive oder defensive tendieren.Sollte nicht zu unverhältnismäßig werden...zudem auch nicht den Gegner ausser Betracht lassen,bezüglich wie man aufstellt!
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La_Pulga
11.10.2008 | 14:27 Uhr
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La_Pulga : 
11.10.2008 | 14:27 Uhr
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La_Pulga : 
Das Erfolgsrezept ist doch im Prinzip folgendes: Der Trainer muss ein System entwickeln, dass zu den Spielern einer Mannschaft passt:
Spanien hat gegen Russland (nach Villas Verletzung) und im Finale gegen Deutschland mit einem 4-1-4-1 gespielt. Villa war verletzt, der 12. Mann der Spanier hieß Fabregas und ist bekanntermaßen Mittelfeldspieler, also muss ein Trainer das System eben ändern.
Grundsätzlich ist meiner Ansicht nach das 4-1-4-1, das Beste System, weil man einfach unglaublich variabel ist. Da können alle Spieler überall auftachen, weil es mit einer offensiven 4er Rheie nicht schwer ist alle Positionen zu besetzte.
Allerdings muss man dafür natürlich die richtigen Spieler haben und das ist ein dickes Problem...

Neben der Aufstellung darf man aber nicht das WICHTIGSTE vergessen, nämlich die Taktik. Ballorientiert Verteidigen, Verschieben, die Abstände zwischen den Mannschaftsteilen usw...
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Dreumex
11.10.2008 | 14:56 Uhr
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Dreumex : 
11.10.2008 | 14:56 Uhr
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Dreumex : 
Toller Blog! Gerne gelesen...
Da bringt jemand sein geballtes Fussballwissen mal gut geschrieben in einen Text. Klasse
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cruiser
11.10.2008 | 17:01 Uhr
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cruiser : 4-4-2 oder 3-5-2 oder Tannebaum?
11.10.2008 | 17:01 Uhr
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cruiser : 4-4-2 oder 3-5-2 oder Tannebaum?
Tja, die ewige System-Frage. Seit der Libero in Frage gestellt und schließlich abgeschafft wurde, wird über die Relevanz von Systemen diskutiert. Dabei hört man tatsächlich immer wieder verächtliche Kommentare von Trainern, die Journalisten darüber belächeln sich an Systemfragen abzuarbeiten. Ganz ehrlich, lieber Andreas Renner - ich glaube den Praktikern und bin im Gegensatz zu dir der Ansicht, das die sogenannten Grundlagen, die du aufgezählt hast immer wieder die entscheidende Rolle spielen. Die Gedanken eines Trainers kreisen in erster Linie um die Fragen : wie schaffe ich es, das meine Spieler genug Selbstvertrauen, Biss, Einsatzwillen, Siegermentalität, Kaltschnäuzigkeit, Mannschaftsgeist und spielerische Klasse auf den Rasen bringen. Und das hängt von unheimlich vielen Faktoren ab, aber nicht davon, was für ein System gespielt wird. Die Theorie des Fußballs ist heute kaum komplizierter als früher, und alle sind in etwa auf dem gleichen Stand, spielentscheidende Fehler auf diesem Sektor, so behaupte ich mal, sind relativ selten. Entscheidend ist immer wieder - wie wird es umgesetzt.

Ich will hier nicht zu sehr mit meinen Fußballweisheiten prahlen, aber wenn du ein Beispiel brauchst, dann erinnere ich nur an die Euro 2004. Wer hat da noch mal gewonnen und mit welchem System?
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Isi
11.10.2008 | 17:03 Uhr
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Isi : 
11.10.2008 | 17:03 Uhr
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Isi : 
Guter Blog, wenn auch nix neues (für mich jedenfalls)...zu der These dass es einige Trainer gibt die die Systemfrage vernachlässigen: Wer den Fußball in den verschiedenen internationalen Ligen regelmäßig beobachtet findet jedes Wochenende dutzende....ja fast schon Beweise dafür ;)
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La_Pulga
11.10.2008 | 17:24 Uhr
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La_Pulga : 
11.10.2008 | 17:24 Uhr
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La_Pulga : 
@cruiser: Ja und mit welcher Spielweise haben die Griechen gewonnen?! Defensiv, Abwehrbollwerk, das will niemand sehen!
Und das würden die niemals wiederholen können mit Libero!
Außerdem haben die verdammt viel Glück gehabt!
Und ich würde eine EM oder WM nie als Maßstab sehen, weil da immer Spieler über sich hinauswachsen, sind ja auch nur 4 Wochen!
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Voegi
MODERATOR
11.10.2008 | 17:55 Uhr
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Voegi : 
11.10.2008 | 17:55 Uhr
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Voegi : 
Schöner analytischer Beitrag!

Freue mich schon auf den Podcast!
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AndreasRenner
11.10.2008 | 17:57 Uhr
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AndreasRenner : @cruiser
11.10.2008 | 17:57 Uhr
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AndreasRenner : @cruiser
Cruiser,

wenn Du Recht hättest, dann bräuchten Fußballmannschaften keine Trainer, sondern Psychologen. Die Position, die Du vertrittst ist in der Tat gerade im deutschen Fußball noch verbreitet. Aber der deutsche Fußball hat sich durch die Umstellung von Mann- auf Raumdeckung so stark verändert, dass nur ein bißchen heißmachen vor dem Spiel nicht mehr reicht. Deine These "Die Theorie des Fußballs ist heute kaum komplizierter als früher..." ist heute total unhaltbar. Das Gegenteil ist wahr.

Durch meinen Job habe ich wöchentlich die Gelegenheit, mit Profitrainern zu sprechen. Die überwiegende Mehrheit ist gerne bereit, über fußballerische Inhalte zu sprechen. Und die Oldtimer, die Deine Thesen vertreten, sterben langsam, aber sicher, aus.

Und wenn Du schon die Griechen anführst, dann lass uns mal nicht vergessen, was denen bei der jüngsten EM mit dem gleichen Trainer und dem gleichen taktischen Ansatz passiert ist.
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