Der Spielmacher von Welt trägt heute eine Nummer, die früher die Trikots von Verteidigern schmückte, die eine herbe Klinge zu schlagen wussten. Oder im Maschinenraum schufteten, während die Edeltechniker mit der legendären 10 im Rücken auf dem Sonnendeck für mehr oder weniger magische Momente sorgten. Die Sechs. Technisch Minderbegabte wie Martin Demichelis oder Christian Nerlinger trugen sie bei dem heute mit elf Rastellis besetzten Bayern München. Die Sechs, das war immer mehr Hacki Wimmer als Günter Netzer. Das hat sich grundlegend gewandelt. Bei aller Flexibilität und Positionsungebundenheit, die man von allen modernen Fußballern heute verlangt, sind 6er DIE Schaltstation einer Mannschaft schlechthin geworden. Ihr Wirkungskreis ist wie bei allen modernen Mittelfeldspielern fast das ganze Spielfeld. Aber ihre Kernkompetenz ist im besten Fall die Verteilung der Bälle und die Initiierung von Angriffen bzw. das Abfangen gegnerischer Vorstöße in einer 30 bis 50 Meter vor dem eigenen Tor gelegenen Zone.
"Thiago oder nix!"
...ist mittlerweile ein geflügeltes Wort geworden wie "Ich habe fertig!". Die Forderung nach einem Transfer seines einstigen Schützlings hat Pep Guardiola einen Eintrag ins Sprichwörterbuch und den Bayern einen gerade knapp 23-jährigen Spieler eingebracht, der tatsächlich die Qualität der üppig besetzten Zentrale des FC Bayern nochmals erhöht hat. Die schlimme Nachricht nach dem Spiel gegen Hoffenheim waren nicht die trotz 3:1-Vorsprungs verspielten zwei Punkte, sondern die wahrscheinlich saisonbeendende Verletzung von Alcantara. Er ist bei allem Respekt vor Kroos, Lahm und Schweinsteiger der wohl einzige wirklich unersetztliche Mittelfeldspieler im bayerischen Starensemble. Weil er
der Prototyp des neuen Spielmachers auf der Position vor der Abwehr ist. Ein nahezu kompletter Sechser.
Und das will etwas heißen. Denn der Spielmacher vor der Viererkette muss heute alle Elemente des Offensivspiels beherrschen. Verglichen mit ihren Stehgeiger-Vorläufern auf der 10, die Abwehrarbeit selbst unter Androhnung von Waffengewalt verweigert hätten und sich nicht selten nur in (von ihnen selbst) ausgewählten Momenten dazu herabließen, in auffälliger Weise am Spiel teilzunehmen, steht der Mann auf der Hacki-Wimmer-Position heute ständig im Feuer. Und setzt im Idelfall die Fußballwelt in Brand. 100 Ballkontakte und 150 Pässe sind heute keine Seltenheit für den wichtigsten Umschaltspieler. Raumdeuter und Initiator soll er sein. Pass- und Ballsicherheit auch in Drucksituationen ist verlangt. Idealer Weise kann der Mann vor der Abwehr 1-gegen-1 Situationen auflösen, ist also dribbelstark wie weiland Netzer oder Maradona. Denn die Einleitung des Angriffs verlangt, die erste Welle des (Gegen-)Pressing zu überwinden. Mit einem Pass auf die Außenbahnen, der das Spiel breitmacht und den Gegner zum meist nicht fehlerfrei durchzuführenden Verschieben zwingt. Aber vor allem mit relativ kurzen Vertikalpässen in die Räume zwischen den gegnerischen Ketten. Die Bälle über 5 bis 20 Meter in die Tiefe, die Xavi und Iniesta salonfähig und das Kurzpassspiel so attraktiv machten. Diese Pässe lassen den Gegner die Ordnung verlieren und ermöglichen erst die Räume für 8er und 10er. Die tödlichen letzten Pässe mögen weiterhin die Dribbler mit der Doppelnummer spielen. Impuls und Startsignal jedes Angriffs gibt der Mann mit der ersten Nummer nach der 1 und den vier Abwehrspielern.
Beherrscht der wichtigste Umschaltspieler dann noch die Kunst, die man früher "Spiel lesen" nannte, schaltet sich in den richtigen Momenten nach vorne ein und entwickelt selbst Torgefahr, ist ein feuchter Trainertraum Realität geworden. Und lässt ihn schon mal öffentlich apodiktisch nach einer 25-Millionen-Investition rufen.
"Leider wunderbar!"
Wie ist die Verschiebung des wichtigsten Postens im Fußball Richtung eigenes Tor zu erklären? Zwar stehen heute 10 Angreifer und ebensoviele Verteidiger - wohlgemerkt in jeder Mannschaft - auf dem Platz. Diejenigen, die man früher "defensive Mittelfeldspieler" nannte, müssen dem entsprechend wie jeder andere Spieler mehrere Positionen ausfüllen. Die Übergänge von 6 zur 8 zur 10 sind fließend. Dennoch: positionsloser Fußball ist eine Illusion. Es ist wohl unstrittig, dass die wichtigste Schalstelle im modernen Fußball eben nicht mehr der Spieler direkt hinter den Spitzen ist, sondern der unmittelbar vor der eigenen Viererkette.
Der moderne Fußball mit dem überall zu hörenden Ideal des "hohen" Verteidigens hat die Spielräume für den klassischen Zehner schlicht abgeschafft. Die äußerst kompakte Anordnung im Defensivverbund lässt verglichen mit der früheren Aufstellung mit Libero und zwei bis drei Verteidigern, die meist am eigenen Strafraum auf die gegnerischen Wellen warteten, keinen Raum und auch keine Zeit für Fußballintellektuelle wie Uwe Bein oder eben Netzer, denen man bisweilen den Denkerfinger an der in Falten gelegten Stirn anzusehen glaubte, bevor sie eines ihrer Anspiele in die Tiefe irgendeines Raumes absandten, den sonst niemand gesehen hatte. Das Spiel vor sich zu haben, ist aber Grundvoraussetzung, um es gestalten zu können. Angesichts des meist auf einen Korridor von ca. 30 Metern um die Mittellinie herum verengten Spiel wäre ein Spielmacher klassischer Prägung im modernen Spiel zu weit vorne angeordnet.
Wahr ist aber auch: den oft beschworenen "klassischen" Spielmacher aus der Abteilung Stehgeiger gab es nur für einen sehr kurzen Zeitraum in den siebziger Jahren. Schon die berühmteste Nummer 10 der Fußballgeschichte, Pele, war - abgesehen davon, dass er gelernter Stürmer war - keine stumpf im offensiven Zentrum joggende Ballverteilmaschine, sondern ein torgefährlicher Alleskönner, der sich nicht selten vor den auf ihn Jagd machenden Verteidigern ins Mittelfeld flüchtete und Bälle schleppte bzw. aus der Tiefe der eigenen Hälfte Angriffe initiierte.
Der vermeintlich klassische Athletikallergiker Diego Maradona dehnte zumindest bei Ballbesitz seinen Aktionsradius auf das gesamte Spielfeld aus und war eine Art Urahn von Lionel Messi, beispielhaft zu erkennen an seinem Jahrhunderttor (ohne Hand) gegen England bei der WM 1986. Spätestens als Stürmer wie Roy Makaay die einst wichtigste Nummer trugen, war sie entweiht und die Bedeutung verloren.
Eine Art Vor-Sechser war Zinedine Zidane. Er verkörpert die Symbiose von klassischem Spielmacher mit den großen Momenten und Aufbauspielern, die die kleinen Dinge mit der großen Wirkung machen. Er führte zusammen, was zusammengehört. Der alte10er und der moderne Sechser sind die freien Radikalen des Fußballs. Der Spielmacher ist nicht an seinen Arbeitsplatz gebunden. Mal spielt er auf einer Höhe mit den eigenen Manndeckern, dann bietet er sich in den Halbpositionen als Anspielstation für die Außenstürmer an, mal dringt er in den gegnerischen Strafraum für Abschlussaktionen ein. Das Paradebeispiel ist das aus Leverkusener Sicht bedauerliche Tor im CL-Finale 2002. Scheinbar unbeteiligt schleicht der letzte große 10er (mit der Nummer 5 auf dem Rücken) unserer Tage Richtung Strafraum, bevor er zu seinem Jahrzehntschlag ausholt.
Die Zehner waren also so wenig eine absolut homogene Spielergattung wie es heute die Sechser sind. Staubsauger wie Sven Bender, Javi Martinez oder Sami Khedira gibt es heute genauso wie Arbeitsbüffel wie Wolfgang Overath oder Lothar Matthäus früher. Der Spielmacher, ob früher auf der 10 oder heute auf der 6 hat viele Gesichter. Eines davon ist das des Aggressivleaders aus der Abteilung Mark van Bommel oder Stefan Effenberg.
Nummernsalat / Ausblick
Letzterer trug in seinen größten Jahren um die Jahrtausendwende die Nummer 11. Mittlerweile scheinen die Ziffern von 1 bis 11 für die Positionsbeschreibungen nicht mehr auszureichen. Die Bezeichnung als "Neuneinhalb" geht heute vielen genauso leicht über die Lippen wie die Bezeichnung "Libero" früheren Generationen. So wie Beckenbauer den freien Mann erfand, hat Lionel Messi das Patent für den Spieler zwischen Abschlussmonster und Spielgestalter. Eigentlich gegen jede Logik und Lehre des Fußballs machte Pep Guardiola den einstigen reinen Außenstürmer zum Zentralgestirn seiner Fußballmaschine in blau und rot. Ein 1,70 Meter großer Zielspieler scheint verwegen. Aber es funktionierte.
Angesichts von Spielern wie Messi oder Mario Götze mag man die Frage aufwerfen, ob der wahre neue Spielmacher nicht viel eher der Neuneinhalber und nicht der Sechser ist. Aber so wie der frühere Spielmacher hinter den Spitzen von seinem hinter ihm positionierten Wasserträger lebte, so hinge die gesamte Offensivreihe ohne das Schanier im defensiven Mittelfeld in der Luft. So bleibt es bei der Überschrift: 6 ist die neue 10. Die Neuneinhalb ist nur ein Knipser mit Technik.
Sonst super geschrieben!
Oder nicht?