04.10.2010 um 22:46 Uhr
Geschrieben von Voegi
BP: Ottmars Rotationen
Was meine prognostischen Fähigkeiten für meine Bayern betrifft, sollte ich mich besser in Schweigen hüllen. Zumeist sind meine Prophezeiungen nämlich so zielgenau wie die Analysen von Udo Lattek. Mario Gomez traute ich zu, im Bayern-Trikot zum Torschützenkönig zu avancieren. In Giovane Elber sah ich einen der größten Fehleinkäufe aller Zeiten. Und selbst Jürgen Klinsmann hielt ich anfänglich für eine gute Trainer-Lösung. Der größte Irrtum meines Fan-Seins resultiert allerdings aus dem Jahre 1998. Damals entschied man sich an der Säbener Straße nach einer eher misslungenen Saison unter Giovanni Trapattoni für einen personellen Umbruch. Mit Effenberg, Jeremies, Salihamidzic und Linke gestaltete man den Kader grundlegend neu und fand in Ottmar Hitzfeld, der sich in Dortmund auf den Posten des Sportdirektors zurückgezogen hatte, den Coach, der den vermeintlich untrainierbaren Haufen endlich wieder zu dauerhaftem Erfolg führen würde.
Ich selbst glaubte damals nicht an eine Erfolsära Hitzfeld und lag mit dieser Prognose, wie eben so oft, grundlegend falsch. Die vermeintliche Verlegenheitslösung Hitzfeld entpuppte sich schnell als absolute Idealbesetzung. Der neue Trainer erwies sich als die Führungspersönlichkeit, auf die die Bayern so lange gewartet hatten. Dank seines gleichsam menschlichen wie autoritären Führungsstils verschaffte er sich schnell Respekt unter den Spielern und bereitete der nervigen Epoche des FC Hollywood schließlich ein Ende. Hitzfeld gelang es dabei, die Unzufriedenheit der Spieler auf ein Minimum zu reduzieren und aus der komplexen Mannschaft eine homogene Einheit zu formen.
Der taktische Schlüssel war dabei das Rotationssystem. Dank des breiten Kaders, in dem praktisch jede Position doppelt besetzt war, konnte Hitzfeld fast nach Belieben wechseln und so jedem Spieler zu hinreichenden Einsatzzeiten verhelfen. Was nach einem Notbehelf aussah, war letztlich reines Kalkül. Denn das Rotationssystem war mehr als nur ein verzweifelter Schachzug, um die Kicker dauerhaft bei Laune zu halten. Hitzfeld erhob es zum Prinzip und sorgte nebenbei dafür, dass die Spieler das umfangreiche Programm mit Liga, Champions League und Pokal nahezu problemlos bewältigen konnten.
In der Saison 1998/99 operierte man bei den Bayern, wie seinerzeit in Deutschland üblich, noch mit dem klassischen Libero. Die Aufgabe des freien Mannes fiel zumeist Matthäus zu, den in seiner Abwesenheit Jeremies oder Helmer vertraten. Die beiden Innenverteidigerpositionen wurden unter Linke, Helmer, Babbel und Kuffour aufgeteilt. Im Mittelfeld übernahm Effenberg die Führungsrolle und wurde als einer der wenigen Akteure nur selten geschont. An seine Seiten gesellten sich wahlweise Jeremies oder Fink. Lizarazu bzw. Tarnat auf Links und Strunz auf Rechts, der in der zweiten Saisonhälfte häufiger durch Salihamidzic bzw. Babbel ersetzt wurde, komplettierten das Mittelfeld. Die drei Offensivpositionen in Bayerns 3-4-3 wurden derweil unter Elber, Jancker, Basler, Salihamidzic, Zickler, Daei und später auch Scholl aufgeteilt.
So sah es aus, das Rotationsmodell der Saison 98/99, das unter Ottmar Hitzfeld bis zur Perfektion praktiziert wurde. Besonders in der Liga ergab sich daraus eine Dominanz, wie sie die Bayern bis heute so nicht mehr erlebt haben. Mit 15 Punkten Vorsprung wurde man am Ende souverän Meister und beherrschte die Liga – bis auf eine kleine Schwächephase Anfang April – quasi nach Belieben. Bayern spielte dabei aber nicht nur erfolgreich, sondern auch schön. Die Mannschaft wirkte trotz des Rotationsmodells eingespielt wie nie und präsentierte phasenweise begeisternden Kombinationsfußball. Auch die Defensive zeigte sich gefestigt und bescherte Oliver Kahn einen neuen Rekord: Erst am 3. April kassierte er das erste Liga-Gegentor im Jahre 1999 – insgesamt 736 Minuten war er bis zu diesem Tag ohne Gegentreffer geblieben. So etwas hatte es in der Bundesliga-Geschichte bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gegeben.
Liebte nicht nur im Beruf die Rotation: Ottmar Hitzfeld.
Am 9. Mai, drei Spieltage vor Schluss, machte man mit einem 1:1 gegen Hertha BSC die Meisterschaft perfekt. Es sah alles danach aus, als könnte es die größte Saison der Vereinsgeschichte werden. Selbst der verletzungsbedingte Ausfall Giovane Elbers, der sich beim Gastspiel in Hamburg einen Kreuzbandriss zugezogen hatte, konnte dem gefestigten Team nichts anhaben. In der Champions League erreichte man nach zwei klaren Siegen gegen den FCK im Viertelfinale und einem Kraftakt in der Vorschlussrunde gegen Dynamo Kiew das Finale. Auch im nationalen Pokal schaffte man es ins Endspiel. Das Triple schien greifbar nahe.
Es kam gleichwohl anders. Der hinlänglich bekannte Sekundentod von Barcelona verhinderte nicht nur das Triple, sondern vereitelte wohl letztlich auch das nationale Double. Die geknickten Bayern unterlagen auch im Pokalfinale – Werder Bremen siegte mit 6:5 im Elfmeterschießen.
Sich mit einem Meistertitel nicht zufrieden zu geben, mag vordergründig Ausdruck des bayrischen Selbstverständnisses sein. In der Saison 1998/99 aber war die Meisterschaft keine angemessene Würdigung für die Leistung des FC Bayern. Dafür agierte die Hitzfeld-Mannschaft schlicht zu stark, zu dominant und vor allem zu konstant. Es war die womöglich beste Saison der Bayern, der am Ende jedoch die verdiente Krönung versagt blieb.
Dennoch lohnt es sich auf diese Spielzeit zurückschauen, in der beim FCB alles wie am Schnürchen lief – bis auf den Schluss. Zeitweilig spielten sich Effenberg, Elber & Co. in der Saison 98/99 in einen echten Spielrausch, erzielten Traumtore wie Giovanes Elbers Kunstschuss in Rostock, erreichten Kantersiege und hielten die Konkurrenz stets auf Abstand. Es lief alles so gut, vielleicht am Ende einfach zu gut.
Die Gründe für die Dominanz dieser Spielzeit liegen auf der Hand. Das qualitativ und quantitativ überzeugender Personal und ein in jeder Hinsicht starker Trainer mit der genialen Idee des Rotationsprinzips. Bliebe die Frage, ob dieses Modell nicht auch in der Gegenwart Anwendung finden könnte. Heute operieren nur noch weniger Trainer mehr mit dem Prinzip des systematischen Wechsels, das Kräfte schont und Missstimmungen verhindert. Das Beispiel Mainz zeigt jedoch, dass Rotation auch heute noch ein Schlüssel zum Erfolg sein kann. Louis van Gaal verzichtet hingegen darauf, das Spielerpersonal kontinuierlich zu variieren. Die zweite Garde wirkt in diesen Tagen einfach nicht stark genug, möglicherweise auch weil man ihr zu lange kein Vertrauen geschenkt hat – ein Teufelskreis der Konstanz, dem man mit einer frühzeitigen Rotation hätte zuvorkommen können. Und so ist man derzeit von der Dominanz der Spielzeit 98/99 weiter entfernt denn je.
Aufrufe: 7204 | Kommentare: 27 | Bewertungen: 32 | Erstellt:04.10.2010
ø 8.8
KOMMENTARE
Um bewerten und sortieren zu können, loggen Sie sich bitte ein.
05.10.2010 | 13:18 Uhr
0
ploy :
find ich gut.der ottmar war ein moderner, scharfsinniger zauberer. selten ist ein trainer derart selbstlos bei der sache. wenn man den mit vg vergleicht, wird das sehr deutlich.
rotationsprinzip braucht einen sehr homogenen und hochwertigen, dennoch breiten kader (was glück und vorbereitung/aufbau bedingt - etwas, das in den neunzigern, also bevor uns ulli alt wurde, wohl auch auf dem zenit angelangt war), mit maximal zwei, drei feldspielern, die als "unentbehrlich gelten". damals waren das der libero und der spielmacher, heute gibt es diese beiden rollen nicht mehr. weder ist van bommel ein spielmacher, noch schweinsteiger oder die angebliche "10" im 451.
dennoch ist heute rotation möglich, zumal tuchel ja eine stufe weiter geht und das system während des spielverlaufs dynamisch wechseln läßt (bei barca gibts nur positions, aber keinen direkten systemwechsel). das könnte schon eine richtung sein, die den fussball weiterbringt, aber von den spielern einiges an geistiger frische und loyalität abverlangt. da werden dann auch wieder switcher wichtiger, die verlängerten arme der trainer auf dem platz. ein van bommel oder schweinsteiger wären da überfordert, sie spielen zu sehr aus eigener bequemlichkeit heraus. "der harte kampf" ist bei denen ja eher ein eitles chauvimotiv, mehr nicht.
0
05.10.2010 | 12:12 Uhr
0
Famos :
für mich nicht mehr als ein solider blog mit 7 punkten.
kann diese uneingeschränkten lobeshymnen nicht ganz nachvollziehen.
mein herz hat damals geweint als ottmar zum fc bayern ging obwohl er ja keinn trainer mehr sein wollte. trotzdem war es für ihn persönlich das beste was er machen konnte.
elber, effenberg, scholl etc. war schon eine geile mannschaft und hitzfeld hat das beste rausgeholt.....
es wird ihm nie wieder einer nachmachen mit zwei deutschen mannschaften die CL zu gewinnen........
0
05.10.2010 | 11:47 Uhr
0
Boggler :
Klasse Blog. Wie immer eigentlich...
Ich finde auch das Thema sehr gut weil diese Bayern - Mannschaft damals alles hatte was man von einer großen Mannschaft sehen möchte. Sie hatten absolute Charakterköpfe gepaart mit absoluter individueller Klasse. Dazu ein Trainer der Laden im Griff hatte und dabei strategisch wie auch taktisch die Mannschaft auf ein neues Level brachte und damit die Bundesliga überrannte.
Bezüglich deiner Einschätzung im Vorfeld der Saison 98/99 muss ich mich ebenfalls outen. Ich war damals auch sehr sicher das Hitzfeld scheitern würde da ich aufgrund der taktischen Ausrichtung Querelen in der Mannchft vorhersagte. Ich konnte mir damals nicht vorstellen das er von dem 3:5:2 (damals quasi ungeschriebenes Gesetz) abweichen würde. Aber genau diese Systemumstellung + die Rotation waren die absoluten Big Points in dieser Saison.
Wenn man das Gesammtpaket betrachtet bestimmt die kompletteste Bayern - Mannschaft die ich in meinem Leben bezeugen konnte.
0
05.10.2010 | 10:21 Uhr
0
fcbm007 :
ja, was soll man bei einem Blog von Voegi noch sagen ? Lobeshymnen lassen sich einfach nicht steigern ! ich drück es einfach mal so aus... Das war wieder ein Voegi, mehr muss man bei deinen Blog`s nicht mehr sagen
Aus Heiko wird nun Voegi... so schnell kann das gehen^^
10 Punkte
0
05.10.2010 | 10:01 Uhr
-1
mrpink27 :
Ich fang mal mit Klugscheißen an: Deine Pronosen hauen wohl nicht hin weil es doch nur Prophezeiungen sind.Außerdem sehe ich Rotation nicht als Taktik (auf dem Feld) sondern als Strategie. Teams wie Mainz machen es aber aus anderen Gründen als die Bayern damals. Hitzfeld musste Spieler bei Laune halten und hatte pro Woche 2 Spiele.
Tuchel stellt einfach die nach seiner Taktik und für den Gegner am besten passenden Spieler auf. Da ist Rotation der Taktik geschuldet.
Klopp hatte vor der Saison auch Rotation angekündigt, bisher rotiert er aber wenig.
Zum 3-4-3 der Bayern. In der Tat ein beliebtes System in Europa zu der Zeit, aber wenn man pingelig sein will war das bei den Bayern oft ein 5-4-1. Kahn - Loddar - Babbel, Kuffour, Helmer, Lizarazu - Salihamidzic, Effe, Jeremies, Scholl - Elber
aber gegen 2 Mittelstürmer (im 4-4-2 oder 3-5-2) keine schlechte Wahl.
Das war wirklich ein Team der großen Persönlichkeiten und Egos, und Hitzfeld wusste mit ihnen umzugehen.
0
05.10.2010 | 09:04 Uhr
0
Kaiser01 :
Ja, die Rotation damals hat einfach perfekt geklappt, genauso wie heute bei Mainz.Sehr schöner Rückblick auf einen Teil der Philosophie von unserem Ottmar.
0
05.10.2010 | 09:03 Uhr
0
mayoble :
10 von mir, und das obwohl Fussball keine Mathematik ist!
Sehr schön geschrieben, an das Elber-Tor kann ich mich auch noch erinnern!
0
05.10.2010 | 07:49 Uhr
0
10 Was sonst ?
0
COMMUNITY LOGIN
Statistik
Dem ich übrigens auch sehr skeptisch gegenüberstand als man ihn holte.
Gomez hielt ich auch für einen genialen Transfer (und bin nach wie vor der festen Überzeugung, dass er bei jedem anderen Trainer außer vG auch eingeschlagen hätte), nur wie man sich was von JK als Bayerntrainer versprechen konnte, das ist mir ein absolutes Rätsel
PS mein größter Prognose-Fehlgriff war wohl der, dass ich mich gefragt habe, warum man einen neuen TW verpfichtet - Aumann ist doch super!
Und dann für so viel Geld diesen Jungspund aus Karlsruhe... Das kann ja nicht gutgehen