12.07.2010 um 23:56 Uhr
Geschrieben von AndreasRenner
Defensiv seziert
Es war eine tolle WM! Es war eine enttäuschende WM! Beides konnte man nach dem Ende der Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika lesen und hören. Und was davon richtig und was totaler Blödsinn ist, hängt wahrscheinlich von den Erwartungen ab, die man an das Turnier hatte. Wer viele offensive, attraktive und torreiche Spiele erwartete, der wurde vermutlich enttäuscht. Wer zum Feiern auf den Fanmeilen war und hauptsächlich die deutschen Spiele gesehen hat, der fand es sicher total klasse.
Aus taktischer Sicht ist diese Diskussion dagegen etwas sinnlos, weil zur Beurteilung von taktischen Merkmalen "attraktiv" eher kein sinnvoller Maßstab ist. "Torreich" dagegen schon, denn das bedeutet, dass etwas mächtig schief gelaufen ist.
Die taktische Formation des Turniers war das 4-2-3-1, wie auch schon bei der vergangenen EM. Und natürlich ist 4-2-3-1 als Formation erst einmal neutral und nicht offensiv oder defensiv. Nehmen wir das Halbfinale Spanien – Deutschland und das Finale Spanien – Niederlande, so haben alle drei Mannschaften eine Variante von 4-2-3-1 gespielt, die allerdings je nach Stärken und Schwächen der einzelnen Akteure und Ausrichtung des Trainer durchaus unterschiedlich aussahen.
Über die etwas schräge Raumaufteilung der Spanier habe ich bei dieser WM schon genug geschrieben, aber es war natürlich auffällig, wie häufig Mannschaften bei dieser WM zumindest in der Offensive wenig Wert auf eine ausgewogene Balance in der Raumaufteilung legten. Da wurden manche Räume einfach ignoriert und gar nicht besetzt, wie teilweise der rechte Offensivflügel bei den Iberern oder Chile. Ob das allerdings ein neuer Trend wird, wage ich erstmal zu bezweifeln. Ich behalte mir aber hiermit das Recht vor, diese Auffassung zu revidieren.
Klar war aber auch, dass Spaniens 4-2-3-1 wesentlich offensiver war als das deutsche im Halbfinale und das holländische im Endspiel. Um das noch einmal zu verdeutlichen: Ob ein Team offensiv oder defensiv spielt, hängt nicht vom System ab. Sondern von der Ausrichtung, die der Trainer vorgibt. Und vom Gegner. Spanien, das auch 4-4-2, 4-3-3 und 4-1-4-1 zumindest phasenweise verwendete, war immer offensiv ausgerichtet und bemühte sich in jeder Partie, das Spiel zu diktieren und seine Spielweise durchzubringen. Das gelang nur einmal nicht, nämlich in den ersten 60 Minuten beim 2:1 Sieg gegen Chile.
Richtig gelesen: Beim Sieg gegen Chile. Das war nämlich das schlechteste spanische Spiel der WM und nicht etwa die 0:1 Niederlage gegen die Schweiz. Denn zur Beurteilung, ob eine Mannschaft taktisch und spielerisch ihren Job erledigt hat, spielt es keine Rolle, ob der trottelige Mittelstürmer nur den Pfosten trifft oder doch das Netz. Das Chancenverhältnis gegen die Schweiz war 8:3 für Spanien, gegen Chile 4:4. Im einen Spiel war Spanien haushoch überlegen und verlor durch ein Stolpertor. Im anderen ging man durch ein Glückstor in Führung und kontrollierte die Partie erst in gewohnter Manier, als Chile sein lästiges Pressing einstellte. Tatsächlich war das Spiel gegen die Schweiz also gar nicht so schlecht und alles andere ist ergebnisorientierte Interpretation. Und die verabscheue ich. Mit gutem Grund. Als Sportjournalist spreche und schreibe ich nämlich über Fußballspiele. Und wenn wirklich nur das Ergebnis zählen würde, dann könnte ich mir das ganze Gelaber und Geschreibsel sparen. Sky müsste während des Spiels lediglich oben das Ergebnis einblenden und SPOX hätte nur zwei Seiten. Auf der einen stehen die Ergebnisse. Und auf der anderen die Tabellen.
Für das deutsche Team gilt aus meiner Sicht: Gut gemacht! Ich hatte vor dem Turnier gehofft, dass unsere Mannschaft sich achtbar aus der Affäre zieht und guten Fußball spielt. Auftrag erfüllt, würde ich sagen. Dass es am Ende nicht ganz gereicht hat, lag sicher daran, dass Spanien im Moment eben noch stärker ist. Und daran, dass uns das sprichwörtliche deutsche Glück verlassen hat. England, Argentinien und Spanien auf dem Weg ins Finale, das war schon der ganz harte Zwieback. Uruguay im Halbfinale wäre halt einfacher gewesen. Oder Paraguay, USA und Südkorea, wie 2002. Glaubt denn irgendjemand ernsthaft, wir hätten damals das Finale erreicht, wenn wir im Viertelfinale schon gegen Brasilien ran gemusst hätten. Also ich nicht!
Aber eins sei noch angemerkt zum deutschen Team: Ja, es hat phasenweise begeisternden Fußball gespielt und die meisten Tore erzielt. Aber eins darf man nicht falsch verstehen: Meist gelang das aus einer defensiven Grundhaltung. Die Kantersiege gegen England und Argentinien waren möglich, weil unser Team früh in Führung ging, sich dann zurückziehen konnte und den Gegner kommen ließ. Die sich so bietenden Konterchancen wurde dann aber vorbildlich und konsequent genutzt. Wer allerdings von deutschem Offensivfeuerwerk schwärmt, der hat nicht richtig hingeschaut. Das waren präzise Nadelstiche oder von mir aus ein Sezieren mit ganz feiner Klinge, aber niemals wirklich Dominanz.
In der Tat wird es interessant, wie sich das deutsche Team in der EM-Qualifikation verkauft, wenn die Gegner wieder tief stehen und nur das deutsche Spiel zerstören wollen. Dann muss es der Mannschaft gelingen, gegen diese defensiv eingestellten Gegner dominant aufzutreten und Chancen zu erarbeiten. Das zu schaffen ist die nächste Aufgabe auf dem Weg zur absoluten Weltspitze. Die Partien gegen Ghana und Serbien haben aber gezeigt, dass dem deutschen Team in dieser Beziehung noch ein bisschen fehlt.
Trotzdem, man darf nie vergessen, wo der deutsche Fußball vor zehn Jahren stand. Ganz ehrlich, wir sind immer noch im Umbruch, auch wenn er sich dem Ende entgegen neigt. Vergleicht mal die Perspektiven von 2002 mit denen von heute. Da werde ich doch lieber diesmal Dritter als damals Zweiter. Denn erst mit Klinsmann/Löw wurde nach der EM 04 konsequent das neue Zeitalter eingeleitet. In dieser kritischen Phase zweimal bei der WM Dritter zu werden und bei der EM gar das Finale zu erreichen, das ist eine Leistung, auf die Deutschlands Fußballer ruhig stolz sein dürfen.
Bis bald,
Andreas
Aus taktischer Sicht ist diese Diskussion dagegen etwas sinnlos, weil zur Beurteilung von taktischen Merkmalen "attraktiv" eher kein sinnvoller Maßstab ist. "Torreich" dagegen schon, denn das bedeutet, dass etwas mächtig schief gelaufen ist.
Die taktische Formation des Turniers war das 4-2-3-1, wie auch schon bei der vergangenen EM. Und natürlich ist 4-2-3-1 als Formation erst einmal neutral und nicht offensiv oder defensiv. Nehmen wir das Halbfinale Spanien – Deutschland und das Finale Spanien – Niederlande, so haben alle drei Mannschaften eine Variante von 4-2-3-1 gespielt, die allerdings je nach Stärken und Schwächen der einzelnen Akteure und Ausrichtung des Trainer durchaus unterschiedlich aussahen.
Über die etwas schräge Raumaufteilung der Spanier habe ich bei dieser WM schon genug geschrieben, aber es war natürlich auffällig, wie häufig Mannschaften bei dieser WM zumindest in der Offensive wenig Wert auf eine ausgewogene Balance in der Raumaufteilung legten. Da wurden manche Räume einfach ignoriert und gar nicht besetzt, wie teilweise der rechte Offensivflügel bei den Iberern oder Chile. Ob das allerdings ein neuer Trend wird, wage ich erstmal zu bezweifeln. Ich behalte mir aber hiermit das Recht vor, diese Auffassung zu revidieren.
Klar war aber auch, dass Spaniens 4-2-3-1 wesentlich offensiver war als das deutsche im Halbfinale und das holländische im Endspiel. Um das noch einmal zu verdeutlichen: Ob ein Team offensiv oder defensiv spielt, hängt nicht vom System ab. Sondern von der Ausrichtung, die der Trainer vorgibt. Und vom Gegner. Spanien, das auch 4-4-2, 4-3-3 und 4-1-4-1 zumindest phasenweise verwendete, war immer offensiv ausgerichtet und bemühte sich in jeder Partie, das Spiel zu diktieren und seine Spielweise durchzubringen. Das gelang nur einmal nicht, nämlich in den ersten 60 Minuten beim 2:1 Sieg gegen Chile.
Richtig gelesen: Beim Sieg gegen Chile. Das war nämlich das schlechteste spanische Spiel der WM und nicht etwa die 0:1 Niederlage gegen die Schweiz. Denn zur Beurteilung, ob eine Mannschaft taktisch und spielerisch ihren Job erledigt hat, spielt es keine Rolle, ob der trottelige Mittelstürmer nur den Pfosten trifft oder doch das Netz. Das Chancenverhältnis gegen die Schweiz war 8:3 für Spanien, gegen Chile 4:4. Im einen Spiel war Spanien haushoch überlegen und verlor durch ein Stolpertor. Im anderen ging man durch ein Glückstor in Führung und kontrollierte die Partie erst in gewohnter Manier, als Chile sein lästiges Pressing einstellte. Tatsächlich war das Spiel gegen die Schweiz also gar nicht so schlecht und alles andere ist ergebnisorientierte Interpretation. Und die verabscheue ich. Mit gutem Grund. Als Sportjournalist spreche und schreibe ich nämlich über Fußballspiele. Und wenn wirklich nur das Ergebnis zählen würde, dann könnte ich mir das ganze Gelaber und Geschreibsel sparen. Sky müsste während des Spiels lediglich oben das Ergebnis einblenden und SPOX hätte nur zwei Seiten. Auf der einen stehen die Ergebnisse. Und auf der anderen die Tabellen.
Für das deutsche Team gilt aus meiner Sicht: Gut gemacht! Ich hatte vor dem Turnier gehofft, dass unsere Mannschaft sich achtbar aus der Affäre zieht und guten Fußball spielt. Auftrag erfüllt, würde ich sagen. Dass es am Ende nicht ganz gereicht hat, lag sicher daran, dass Spanien im Moment eben noch stärker ist. Und daran, dass uns das sprichwörtliche deutsche Glück verlassen hat. England, Argentinien und Spanien auf dem Weg ins Finale, das war schon der ganz harte Zwieback. Uruguay im Halbfinale wäre halt einfacher gewesen. Oder Paraguay, USA und Südkorea, wie 2002. Glaubt denn irgendjemand ernsthaft, wir hätten damals das Finale erreicht, wenn wir im Viertelfinale schon gegen Brasilien ran gemusst hätten. Also ich nicht!
Aber eins sei noch angemerkt zum deutschen Team: Ja, es hat phasenweise begeisternden Fußball gespielt und die meisten Tore erzielt. Aber eins darf man nicht falsch verstehen: Meist gelang das aus einer defensiven Grundhaltung. Die Kantersiege gegen England und Argentinien waren möglich, weil unser Team früh in Führung ging, sich dann zurückziehen konnte und den Gegner kommen ließ. Die sich so bietenden Konterchancen wurde dann aber vorbildlich und konsequent genutzt. Wer allerdings von deutschem Offensivfeuerwerk schwärmt, der hat nicht richtig hingeschaut. Das waren präzise Nadelstiche oder von mir aus ein Sezieren mit ganz feiner Klinge, aber niemals wirklich Dominanz.
In der Tat wird es interessant, wie sich das deutsche Team in der EM-Qualifikation verkauft, wenn die Gegner wieder tief stehen und nur das deutsche Spiel zerstören wollen. Dann muss es der Mannschaft gelingen, gegen diese defensiv eingestellten Gegner dominant aufzutreten und Chancen zu erarbeiten. Das zu schaffen ist die nächste Aufgabe auf dem Weg zur absoluten Weltspitze. Die Partien gegen Ghana und Serbien haben aber gezeigt, dass dem deutschen Team in dieser Beziehung noch ein bisschen fehlt.
Trotzdem, man darf nie vergessen, wo der deutsche Fußball vor zehn Jahren stand. Ganz ehrlich, wir sind immer noch im Umbruch, auch wenn er sich dem Ende entgegen neigt. Vergleicht mal die Perspektiven von 2002 mit denen von heute. Da werde ich doch lieber diesmal Dritter als damals Zweiter. Denn erst mit Klinsmann/Löw wurde nach der EM 04 konsequent das neue Zeitalter eingeleitet. In dieser kritischen Phase zweimal bei der WM Dritter zu werden und bei der EM gar das Finale zu erreichen, das ist eine Leistung, auf die Deutschlands Fußballer ruhig stolz sein dürfen.
Bis bald,
Andreas
Aufrufe: 11031 | Kommentare: 16 | Bewertungen: 32 | Erstellt:12.07.2010
ø 8.3
KOMMENTARE
Um bewerten und sortieren zu können, loggen Sie sich bitte ein.
13.07.2010 | 13:47 Uhr
0
Armister :
Chile hat doch einen auf dem rechten flügel.
Sanchez ?!
Sonst ein guter blog.
Das meiste sehe ich ähnlich...
0
13.07.2010 | 13:34 Uhr
-7
2
13.07.2010 | 12:42 Uhr
0
mrpink27 :
"Glaubt denn irgendjemand ernsthaft, wir hätten damals das Finale erreicht, wenn wir im Viertelfinale schon gegen Brasilien ran gemusst hätten."Der Vergleich ist ein bisschen unfair, weil wir ja alle wissen, das Brasilien uns im Finale geschlagen hat.
Die Frage sollte sein, hätten wir uns gegen den Halb- oder Viertelfinalgegner von Brasilien 2002 durchgesetzt und bei dieser WM: Hätten wir gegen die Brasilianer im Viertelfinale bestanden?
2
13.07.2010 | 11:47 Uhr
0
mrpink27 :
"Die taktische Formation des Turniers war das 4-2-3-1, wie auch schon bei der vergangenen EM. Und natürlich ist 4-2-3-1 als Formation erst einmal neutral und nicht offensiv oder defensiv."Kaum entwickelt sich ein "Verständnis" für Taktik in der Fußball konsumierenden Öffantlichkeit, wird die Formation als solches immer weniger aussagekräftig.
Ein System muss eben mit leben gefüllt werden und das ist abhängig von den Spielern und ihrem Können.
Eigentlich schade, dass sich zum Teil so auf die Formation fixiert wird. Symetrie ist ist ja ganz schön aber nicht der einzige Punkt bei der Bewertung der Aufstellung (vor allem nicht der wichtigste). Dazu stellt sich immer die Frage wie sich "ein System" entwickelt hat. Kommt das 4231 aus einem 442, aus einem 433 oder dem brasilianischen 4222?
Das brasilianische System wurde zu Beginn der WM noch als 4231 dargestellt, später als 442 mit Raute. Am Ende war es ein Mischung aus allem und nichts, es richtet sich einfach nach dem Fähigkeiten der Spieler und den Schwachpunkten heutiger Systeme. Ein extrem Offensiver Außenverteidiger mit Maicon und Robinho, der für den Gegner links kaum greifbar war. Um dem RAV Platz zu geben wurde das Spiel oft auf die linke Seite verlagert, daher wirkte es unsymetrisch (siehe Tore gegen Nordkorea). Robinho oder David Villa verwirrten dagegen links die Verteidiger in dem sie sich immer zwischen den Gegnerischen Positionen bewegten: Zu zentral für den gegnerischen AV, zu weit außen für den IV und oft zu weit vom Tor weg für beide Spieler.
War Spaniens Formation wirklich ein 4-2-3-1? Mit Torres im Zentrum, Villa auf links und Iniesta rechts (eher zentral) war es eher ein 4-2-2-2 mit einem nach links gerückten Stürmer und einem ROM. Mit Pedro und ohne Torres war es wesentlich symetrischer, aber ähnelte mit dem Pressing eher einem 4-2-1-3 als einem vermeindlich defensiveren 4-2-3-1.
3
13.07.2010 | 09:20 Uhr
0
Nur wie bereits angemerkt. Deutschland hat gegen Spanien die falsche Taktik gewählt. Wenn man "chilenisch" gespielt hätte und vll mit Jansen anstatt von Poldi wäre auch gegen die Iberer was gegangen. Das aggressive Pressing sollte auf Jogis Trainingsliste ganz nach oben rücken, und nicht wie gegen Spanien zu sehen war, erst 35m vor dem eigenen Tor die Zweikämpfe annehmen.
Denn mit solchem Pressing werden auch die "kleinen" Nationen zu Fehlern im Spielaufbau gezwungen, die dann im Laufe der EM-Quali auf uns treffen.
1
COMMUNITY LOGIN
Statistik
Es darf doch angemerkt sein, dass Deutschland nicht mit Ballbesitz in den Ko-Runden zu den hohen Ergebnissen gekommen ist sondern über Konter.
Löw hat es sogar zugegeben. Gegen England hat man dem Gegner den Ball überlassen weil man wusst, dass die Engländer Probleme haben das Spiel zu machen und "gerne" den Ball verlieren. So konnte Deutschland nach der Führung auf Konter setzten.
DIESER schnelle Konterfußball hat ja die Welt begeistert, zumindest mehr als der kontrollierte Ballbesitzfußball der Spanier. Der was zwar fußballerisch noch höher zu bewerten, leider führte er "nur" zu 1:0 Siegen in den Ko-Runden.
Bei Spanien schöner anzusehen ist das frühe Pressing. Sie treten sehr dominant auf, egal ob durch das Passspiel oder bei der Balleroberung. Spanien wartet nicht ab was passiert, sie wollen immer den aktiven Part. Sie wollen den Ball, denn mit dem Ball lässt sich (bei Bedarf) etwas gestalten, ohne Ball kann man nur den Raum verwalten.