Der Fußball ist keine Vakuumblase, die geschützt vor allem Unbill durch die schlechte Welt fliegt, in der wir alle leben müssen, bis die Mars-Kolonie errichtet ist. Er ist mitten unter uns, tief verankert in dem, was man gemeinhin Gesellschaft nennt. Was ja auch Teil seiner Stärke ist. Immer wenn man meint, der geliebte Sport sei ein Refugium, in dem sich der ungestörte Spaß breitmacht, brüllt irgendein Depp eine rassistische Parole, rammt einem anderen Menschen ein Messer zwischen die Rippen, weil er das Trikot eines rivalisierenden Vereins trägt, oder stürmt mit ca. 150 Gesinnungsgenossen irgendeinen öffentlichen Platz und zerlegt ein Restaurant oder was gerade zur Hand ist, in seine Einzelteile. Nach kurzer Bestürzungspause ist die Erklärung gefunden: der Fußball werde hier Projektionsfläche gesellschaftlicher Fehlentwicklungen. Es ist wohl nicht falsch, das Lederkicken als eine Art Mikrobiotop zu verstehen, in dem sich das Gute und das Schlechte dieser Welt abbildet.
So bleibt es nicht aus, dass auch der Fußball mit den (scheinbar) moralischen Weltfragen unserer Zeit konfrontiert wird. Die Fan-Gemeinde kann sich global über Vereins- und Landesgrenzen hinweg relativ schnell auf die Dämonisierung des kleinen Wallisers und seiner gereontokratischen Mitstreiter an der FIFA-Spitze einigen. Man muss nur das Wort "Katar" in den Mund nehmen und der Applaus ist gesichert. Mich hat immer gewundert, dass bei all der Berichterstattung über die in der Tat beschämenden Bedingungen, unter denen offenbar im WM-Emirat Sklaven voll klimatisierte Stadien erbauen, niemand auf die Idee gekommen ist, dem FC Bayern die Moralfrage zu stellen. Schließlich fährt der deutsche Rekordmeister seit Jahren zum aktiven Erholungsurlaub im deutschen Winter in die Wüste. Es spricht wenig dafür, dass die luxuriöse Residenz der Bayern und die umliegenden Trainingsplätze von gewerkschaftlich organisierten Arbeitern mit Anspruch auf Überstundenausgleich und Krankentagegeld errichtet wurden. Und: der deutsche Michel kann nur eines besser als Erbsen zählen: moralisieren. So wurde denn dieser Tage "endlich" die Frage aufgeworfen, ob der vermeintliche Vorzeigeverein unbedingt das Lager für die kalten Tage in einem unterdemokratisierten Emirat aufschlagen muss, das die Existenz Israels allenfalls zähneknirschend zur Kenntnis nimmt.
Der Anlass war ein Spieler namens Dan Mori. Er ist Israeli und steht derzeit bei Vitesse Arnheim unter Vertrag. Vitesse wollte sein Wintertrainingslager in den Vereinigten arabischen Emiraten aufschlagen. Das führte zu einem Konflikt. Denn in den Emiraten dürfen Staatsbürger Israels grundsätzlich nicht einreisen. Vitesse wählte den Weg des geringsten Widerstandes und fuhr trotzdem. Mori blieb zu Hause. Eine tatsächlich ziemlich abstoßende Anekdote. Man könnte es bei beißender Kritik an Vitesse wegen Feigheit vor dem Antiisraelismus belassen und die Zustände in den VAE beklagen. Auf die Frage nach der Einflussnahme mittels Ölboykott könnte man in geübtem Zynismus "Folge: 3,50 Euro/Liter Super" antworten. Realpolitische Klappe zu. Affe lebt. Bis zum nächsten Skandal.
Aber nicht mit dem ethischsten Volk der Weltgeschichte. Die FAZ konstatierte in Übereinstimmung mit dem Gottvater der Zeitgeistwellensurfer, Heiner Geißler, die Erforderlichkeit des Ausschlusses der kompletten arabischen Halbinsel von den Olympischen Spielen. Keine Diskriminierung. Olympische Charta und so, Sie verstehen. Haben wir schließlich so aufgeschrieben. Seufzt der Kommentator aus Mainhattan abschließend fatalistisch-betroffen, es gebe eben die Werte in der Charta und die auf dem Konto. In ya face, FC Bayern. Noch Fragen? Äh...ja. Zum Beispiel: gehts noch?
Ich habe mich ja damit abgefunden, dass ich auch im Alltag keinen Furz mehr ohne globale Konsequenzen lassen kann. Autofahren ist heute nicht mehr grundsätzlich schlecht, weil man ein rund 1.000 kg schweres Vehikel schon bei 50 km/h nicht voll beherrschen kann und Kinder gefährdet, sondern weil dabei Abgase entstehen, die via Klimawandel und Meeresspiegelanstieg zum Versinken pazifischer Eilande führen, deren Existenz mir gar nicht bekannt war. In jeder Wohnung stehen heute vier Behältnisse, um den Müll in willkürlich gewählte Kategorien unterteilen zu können. Nachhaltigkeit und so.
Insofern ist es nur konsequent, dass ich jetzt wohl schamvoll aus dem FC Bayern München e. V. austreten soll, weil er sich als Volksbelustigung von antisemitischen, frauenfeindlichen und homophoben Regimen wie im Emirat Katar missbrauchen lässt. Kann ich eigentlich noch Bastian Schweinsteiger zujubeln, wenn der für facebook.com/qatarofficial dem Potentaten vom Golf oder seinen Hofschranzen die Hand schüttelt?
Ich lasse jetzt mal beiseite, dass sich in Mitteleuropa niemand mehr die Frage zu stellen scheint, wie unser Kulturkreis mit seinen rund 1 Milliarde Einwohnern (die USA, Japan und Australien zähle ich mal mit) eigentlich dazu kommt, dem Rest der Welt vorschreiben zu wollen, wie er zu leben hat, um in den Genuss olympischer Spiele, Fußball-Weltmeisterschaften oder eines Wintertrainingslagers des FC Bayern kommen zu dürfen. Und wende mich der Frage zu: wo endet eigentlich dieser missionarische Eifer, der sich jetzt schon in den Fußball gefressen zu haben scheint?
Wo also kann der FC Bayern im Januar 2015 noch sein Lager aufschlagen, ohne sich der ethischen Ambivalenz anheimzugeben? Warm sollte es sein, gute Trainingsbedingungen würden helfen, nach Möglichkeit nicht allzu viele Zeitzonen zu durchreisen sein, bis man ankommt. Und eben vollkommene, ja deutsche, moralische und rechtsstaatliche Integrität. Nord- und Mitteleuropa scheiden wegen der jahreszeittypischen Kälte leider aus. Süditalien ist wegen der ungeklärten Halbfreiheit von Berlusconi unmöglich. Spanien geht auch nicht. Deren Vorzeigeclub kauft mit deutschen Steuermillionen Gareth Bale. Brasilien disqualifiziert sich von der weiten Anreise abgesehen durch seine ebenfalls bestenfalls fragwürdigen Arbeitsbedingungen auf den WM- und Olympiabaustellen. USA? NSA! Außerdem zu kalt. Und zu weit. Marokko, Tunesien, Ägypten? Sind alles graduell unterschiedlich schlimme Diktaturen. Türkei? Schon mal was von Gezi gehört? Südafrika gleitet auch immer weiter in prä-diktatorische Zustände ab. Kuweit und die VAE gehören in dieselbe Abteilung wie Katar, sind eher schlimmer. Gegen Bahrein und Saudi-Arabien muss ich wohl nicht ernsthaft argumentieren, oder? Dachte ich mir. Bliebe Israel. Das wäre natürlich möglich. Wobei: früher oder später würde wohl irgendein Minderbemittelter, der unter dem Deckmantel des vermeintlich palästinafreundlichen "Antifaschismus" dem Antisemitismus frönt, "Apartheid" brüllen. Bleibt wohl nur die Säbener Straße.
Aber vergessen wir das Trainingslager. Wie kommen wir eigentlich dazu, Fußball-Weltmeisterschaften bzw. Qualifikationen dazu unter Beteiligung kommunistischer Superschurken wie China und Vietnam auszutragen? Warum dürfen Simbabwe, Nordkorea und der Iran an olympischen Spielen teilnehmen? Wie kann es sein, dass BATE Borisow aus der letzten Diktatur Europas Bayern München bespielen durfte? Ich erwarte natürlich von Borussia Dortmund, dass sie die Champions League 2014 abschenken. Oder will man in die Heimatstadt des Anführers des homophoben Regimes der russischen Föderation reisen?
Aber worüber mache ich mir Gedanken? Wie können wir überhaupt Fußball spielen? In Syrien sterben jeden Tag Menschen durch Krieg. Im Irak kann man keine 2 km gehen, ohne befürchten zu müssen, von einer Bombe zerrissen zu werden. Wie kann man überhaupt ins Stadion gehen und sich vergnügen und am nächsten Morgen in den Spiegel gucken, ohne rot zu werden? Wie kann der FC Bayern seinem neuen Stürmer ca. 45 Mio. Euro Gehalt zuzüglich Sozialabgaben garantieren? Auf der Welt hungern Menschen, Herr Gott.
Im Ernst: ich habe nichts gegen Moral. Von mir aus auch vergemeinschaftet, nicht nur individuell. Natürlich ist Antisemitismus weder lustig noch akzeptabel. Und widerspricht auch dem Völkerverständigungsgedanken, der dem Sport immanent sein sollte. Ich will jetzt auch nicht den Unsinn propagieren, man solle geradezu sportliche Großereignisse an Länder mit autoritären Regimen vergeben, damit das Licht der Weltöffentlichkeit auf die dortigen Missstände fallen möge. Nur ein bisschen was ist schon dran am Gedanken des Wandel durch Annäherung. Der Fußball kann schon mittels seiner wirtschaftlichen Macht dazu beitragen, langsam, aber stetig auch politische Veränderungsprozesse anzustoßen. Aber sicher nicht mittels Boykott.
Vor allem aber: wir werden in dieser Welt leben und Fußball spielen müssen. Man kann sich in der warmen Stube eine andere backen und da hocken bleiben, bis Realität und Keks eins sind. Die Moralisierung muss Grenzen haben. Aber die Reaktion auf das Elend des Globus kann nicht sein, dass wir uns in Mitteleuropa einbunkern, bis die ganze Welt unsere rechtsstaatlichen Standards erfüllt hat. Am deutschen Wesen will und wird die Welt nicht genesen. Und ganz ehrlich: Gott sei's gedankt.
Inhaltlich sehe ich das diesmal ein wenig anders als du, KemperBoyd.
Ich habe eine generelle latente Abneigung gegen Moralapostel und Menschen, die mir vorschreiben wollen, was richtig und was falsch ist, weil sie glauben sie hätten das absolute Wissen. Das fängt beim Vegetarismus an und hört bei der Frauenquote auf.
Vor allem aber halte ich den Fussball als von seinem Wesen her tief unpolitisch, als schlichte Volksvergnügung und Freizeitbeschäftigung, die eben glücklicherweise viele Anhänger hat. Nicht mehr aber auch nicht weniger. Und das ist auch gut so.
Ich verteidige sonst auch den FCB und sein Personal gegen alle Kritik, aber ich muss sagen, dass auch ich nicht ganz glücklich bin mit der Trainingslagersetzung in Katar oder früher Dubai.
Vor allem, wenn ich bedenke, welche positive Publicity das für die Kataris ist, dass dort weltbekannte Stars hofieren. Wenn ich dann noch überlege, welche finanziellen Vorteile wir vermutlich daraus ziehen, dort jedes Jahr für ein paar Wochen unsere Zelte aufzuschlagen...
Naja, es ist für mich beileibe kein Skandal, vermutlich zahlen wir ja auch genug Geld für Öl, Gas etc. damit die dort ihren Lebensstil auf dem Rücken der Bevölkerung hochhalten und das fällt gewiss nicht unter "Andere Länder, andere Sitten". Da muss man keinen westeuropäischen Maßstab anlegen, da reicht die UN-Charta, die Katar im Übrigen ja auch unterzeichnet hat. Irgendwas muss man ja als objektiven Maßstab anlegen.
Es wäre einfach ein schönes Zeichen, wenn der deutsche Rekordmeister ein wenig vorbildlicher wäre als viele andere Bundesligisten.
Du hast Recht. Fängt man damit an, müsste man auch an anderen Stellen konsequenter auch sein, aber teilweise sind deine Aufzählungen sicher nicht ganz ernst gemeint. Spanien auf eine Stufe mit Katar zu stellen, ist sicher nicht sachgemäß und ist wohl auch mehr zur Verdeutlichung deines Standpunktes gedacht.
Nur möchte ich zu bedenken geben, dass man es als Staat/Verein/Person sicher nicht besser macht, wenn man auf der einen Seite von sozialer Verantwortung und Nächstenliebe im Inland redet und dann die Hände jener schüttelt, die das Sinnbild für genau das Gegenteil sind. Warum man es dennoch macht? Man muss ja auch Geld verdienen :)
Wandel durch Annäherung mag ein sehr griffiger und schöner Begriff sein, aber da wir meist als Bittsteller (für Geld, Öl oder Exportaufträge) in eben solche Regionen reisen sollte zumindest der Gedanke erlaubt sein, ob jene Machthaber überhaupt einen Sinn darin sehen sich uns anzunähern
bei so manch (verborgener) ironie konnte man schon schmunzeln.
und im allgemeinen halte ich den grundtenor des blogs für durchaus richtig und angebracht
„Nicht das einzige Land mit Sonne im Winter"
Dann nenn mal ein anderes, in das ich bedenkenlos fahren kann. Deswegen habe ich das ja im Text durchdekliniert. Das ist natürlich sarkastisch überzeichnet. Aber mein Grundeindruck ist schon, dass wir uns in D mittlerweile eine Grundüberheblichkeit angeeignet haben, in deren Augen sogar Italien und Spanien fragwürdige Länder geworden sind.
Zu Landauer: ja er war Jude. Vor allem aber war er ein pragmatischer Visionär. Er hat in den 1920ern (!) professionelle Strukturen aufgebaut und Spieler bezahlt, als andere noch von der Schönheit der „Leibesertüchtigung" fabulierten. Ich glaube kaum, dass er die Marketingmöglichkeiten in Nahost ignoriert hätte. Obwohl er sich ganz sicher – genauso wenig wie ich übrigens – keine Illusionen über das Regime in Katar gemacht hätte.
Und was ist die Realität? Die arabische Welt ist ein wichtiger Markt. Sie wird Israel in absehbarer Zeit nicht anerkennen. Die Araber, die es getan haben, haben es teuer bezahlt. Irgendeine demokratisch gewählte, katarische Regierung würde das übrigens auch nicht tun. Das kann man reaktionär finden und abstoßend, tu ich ja auch. Es IST aber so. Fährt der FC Bayern nicht hin, macht es jemand anders. Kaufen wir das Öl nicht, kauft es China. Und was ist die Alternative? Handelssanktionen? Totale Isolation, bis sie einen homosexuellen, demokratisch gewählten Emir haben, der Tel Aviv besucht? Krieg gegen alle Golfstaaten? Und der FC Bayern soll das erste Zeichen setzen?
Ich übertreibe, aber man muss das doch vom Ende her denken. Diese Art von destruktiver Kritik wie „da darf der FC Bayern nicht hinfahren, da machen sie sich mit dem und dem Bösen gemein" führt doch zu nichts, außer vielleicht dazu, dass man sich selbst besser fühlt.
„Chamberlain" juhu wir schwingen die Nazi-Keule. Totschlagsargument. Wer ist denn bei der Reise nach Katar ..., wenn ich mal fragen darf? Ich sehe keinen, nirgends. Weder in Katar noch in VAE noch im Iran. Insofern danke an bobby fischer. Und München 1938 war nicht Wandel durch Annäherung, sondern ein gelungener Erpressungsversuch.
Diese Reduzierung von Neville Chamberlain auf „München 1938" ist im übrigen unsolides Viertelwissen. Es war NC, der den Beistandsvertrag mit Polen geschlossen hat. Es war NC, der Nazi-D den Krieg erklärt hat, als es Polen angegriffen hatte. Es war DIE Fehleinschätzung schlechthin der Nazis, zu glauben, England und der vermeintlich trottelige NC würden schon die Füße stillhalten. Tat er nicht, weil er die Natur des ...-Regimes sehr wohl erkannt hatte. Insofern empfinde ich das gar nicht als Beleidigung, auch wenn es vermutlich so gemeint war.
Nimms mir bitte übel. Bei Dir fällt mir ein, was man sagt: "Für einen selbst ist der Tod nicht schlimm. Man merkt ja nix! Bei der Dummheit ist es genau so."
Ob der Krieg damit verhindert worden wäre? Keine Ahnung. Wohl eher nicht, auf jeden Fall hat man das NS-Reich mit dem Appeasement in seinem Selbstvertrauen immens gestärkt.
Einige Engländer, wie z.b. Lloyd George haben das NS-Regime in den 30er-Jahren besucht und alles ganz toll gefunden und in der Heimat davon berichtet, wie super dort alles liefe.