17.05.2011 um 20:43 Uhr
Geschrieben von Voegi
FCB-Augenblicke (IX)
Einmal Spielverderber sein
Wenn es im Meisterrennen um die Wurst geht, dann ist der FC Bayern immer mit dabei. So jedenfalls entspricht es dem eigenen Anspruch.
Im Jahre 1995 erfuhr dieses Mantra plötzlich eine ganz neue, unbekannte Interpretation. Am letzten Spieltag der Saison 94/95 trafen die Münchener im heimischen Olympiastadion auf Werder Bremen und spielten – ohne selbst Aussichten auf den Titel zu haben – eine entscheidende Rolle bei der Vergabe der Meisterschale. Denn während man selbst ziemlich abgeschlagen im vorderen Mittelfeld der Tabelle rumdümpelte, konnten sich die Gäste von der Weser mit einem Auswärtssieg den vierten Meistertitel der Vereinsgeschichte sichern.
Vor dem letzten Spieltag hatten die Bremer einen Punkt Vorsprung auf den Konkurrenten aus Dortmund und mussten wegen des schlechteren Torverhältnisses unbedingt doppelt punkten, um definitiv (also unabhängig vom Ausgang des Parallelspiels zwischen Dortmund und dem HSV) Meister zu sein. Seinerzeit gab es für einen Sieg übrigens nur zwei Punkte. Allerdings galt am 34. Spieltag der Saison 1994/95 letztmalig die sog. Zwei-Punkte-Regel, die mit dem Start der Folgesaison durch das noch heute gültige Punktsystem abgelöst wurde.
Werder Bremen musste an jenem 17. Juni 1995 also unbedingt in München gewinnen. Eine Konstellation, die die Gastgeber automatisch in die Rolle des potentiellen Spielverderbers rückte. Für den FC Bayern selbst ging an diesem letzten Spieltag praktisch um nichts mehr. Als Tabellensechster mit 2 Punkten und 14 Toren Rückstand auf die Borussia aus Mönchengladbach lag der UEFA-Cup-Platz in aussichtsloser Ferne. (Da die Borussia eine Woche später das Pokalfinale gewann und sich damit für den Europapokal der Pokalsieger qualifizierte, reichte den Bayern allerdings auch der sechste Platz zur Teilnahme am UEFA-Cup, den man im Folgejahr ja dann auch tatsächlich gewinnen sollte).
Die Bayern konnten dementsprechend völlig befreit aufspielen – und taten dies auch. Bei hochsommerlichen Temperaturen entwickelte sich so schnell ein gleichsam spannendes wie unterhaltsames Match, das die Zuschauer im Olympiastadion zu begeistern wusste. Unter den 63.000 Beobachtern in der ausverkauften Heimstätte des FC Bayern war damals auch ich. Mit 16 Jahren erlebte ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Heimspiel meines FC Bayern live und aus kürzester Entfernung.
Leider muss man das mit der kürzesten Entfernung durchaus wörtlich nehmen. Denn die räumlichen Gegebenheiten im zwar architektonisch beeindruckenden, aber funktional begrenzten Olympiastadion waren nicht zugeschnitten auf die Bedürfnisse von Rollstuhlfahrern. So konnte man sich mit seinem fahrbaren Untersatz entweder den Berg hinaufquälen und das Spiel oberhalb der Tribüne mit bestem Überblick, aber aus gefühlter Satelliten- Perspektive verfolgen oder aber nach einem Platz im Innenraum unterhalb der regulären Tribünenplätze Ausschau halten. Ich entschied mich für die zweite Option, wohl auch weil der Reiz eines Stadionbesuches für mich stets darin lag, möglichst nah am Geschehen zu sein.
Ich war also ganz nah dran, sah aber trotzdem praktisch nichts, da die Plätze so tief lagen, dass man das Spielfeld nur in Nuancen einsehen konnte. Blumenkübel, Trainerbänke und Fotografen versperrten mir den Blick auf das Geschehen und ließen mitunter nur vage Mutmaßungen bezüglich der Ereignisse auf dem Rasen zu. Vielleicht war es Ironie, vielleicht war es aber auch nur ganz einfach konsequent, dass man den Köperbehinderten die Plätze mit Sichtbehinderung zuwies.
So behindert wie mein Zustand und meine Sicht auch waren, so sehr genoss ich doch meinen ersten Nachmittag an der heiligen Stätte, die ich zuvor nur im Fernsehen hatte bewundern dürfen. Ein bisschen schade war es schon, dass es für die Bayern ja praktisch um nichts mehr ging. Ich konnte mich aber damit trösten, dass ganz Fußballdeutschland diesem Nachmittag gleichwohl nach München schauen würde. Denn wenn Bremen in München verlor, würde die Borussia aus Dortmund bei einem Sieg gegen den HSV zum ersten Mal in ihrer Bundesligageschichte Meister werden.
Die Bayern jedenfalls schien die Rolle des Spielverderbers zu gefallen. Schnörkellos und unverkrampft trugen sie ihre Angriffe vor und gingen bereits nach 13 Minuten durch einen Kopfballtreffer von Christian Ziege in Führung. Mario Basler gelang wenig später zwar der Ausgleich per Foulelfmeter. Doch die Gastgeber ließen sich davon nicht irritieren und erzielten durch Alexander Zickler kurz vor der Pause die erneute Führung.
Der BVB führte zu diesem Zeitpunkt bereits 2:0. Das Spiel in Dortmund war damit praktisch gelaufen, so dass sich alle Aufmerksamkeit auf die zweite Halbzeit in München richtete. Werder musste unbedingt noch zwei Tore schießen, tat sich gegen hochmotivierte Bayern aber sichtlich schwer und kassierte zwölf Minuten vor Ende das 3:1. Wiederum hieß der Torschütze Alexander Zickler. Die Meisterschaft war entschieden. Bayern hatte seine Rolle als Spielverderber verinnerlicht und den BVB in den siebten Fußballhimmel geschossen.
Ihrem kommenden Trainer Otto Rehhagel hatten die Bayern damit kräftig die Suppe versalzen, während man Ottmar Hitzfeld zum ersten Meistertitel seiner Bundesligakarriere verhalf. In gewisser Weise waren die Ereignisse dieses 34. Spieltags also durchaus richtungsweisend für das, was in den nächsten Jahren an der Säbener Straße passieren sollte.
Von diesen Entwicklungen ahnte man am 17. Juni 1995 natürlich noch nichts. Auch ich machte mir keine Gedanken über das, was in den Folgejahren auf den Bayern würde zukommen können. Ich genoss vielmehr die prickelnde Stimmung eines letzten Bundesligaspieltags, an dem die Emotionen eben immer eine ganz besondere Rolle spielen. Und noch heute erinnere ich mich gut an die Szenen nach Abschluss der Partie. Wie die zufriedenen Bayern-Spieler in die Kurve gingen, um sich den Applaus für eine höchst durchwachsene Bundesligasaison abzuholen. Wie Otto Rehhagel kopfschüttelnd auf seiner Trainerbank kauerte. Und vor allem wie Bremens Spieler begleitet von Monty Python's "Always Look On The Bright Side Of Life" geknickt vom Platz schlichen…
Wann immer ich nun heute dieses Lied höre, denke ich an meinen ersten Besuch des Olympiastadions und diese ganz besondere Stimmung nach dem Abpfiff. Hohn oder Genugtuung habe ich damals übrigens nicht empfunden. Mir taten die Bremer, für die ich in der Lemke-Ära eigentlich keine großen Sympathien hegte, ganz einfach leid. Aber der Monty Python's Song signalisierte mir, vor allem aber wohl den Bremern, dass man auch im Moment der Niederlage den Humor nicht verlieren darf. Und so halte ich es noch heute: Ist das Leben machmal auch große Grütze, give the audience a grin. Anyhow.
Aufrufe: 6343 | Kommentare: 13 | Bewertungen: 14 | Erstellt:17.05.2011
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KOMMENTARE
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18.05.2011 | 07:24 Uhr
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Das erste Spiel im Oly ist für jeden Roten eine sehr emotionaler Moment, und dir ist es gelungen diese Emotionalität in Worte zu kleiden. Wer hätte auch etwas Anderes von dir erwartet! Du kannst es eben!!!
Toller Blog über ein tolles Spiel mit großem Einfluß auf das Ergebnis der Saison! 10 P!
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Jedenfalls großen Respekt für das Gesamtpaket. Ja, Schreibstil mal wieder super, braucht man auch nicht groß erwähnen, obwohl es natürlich erwähnenswert ist.
Hat viel Spaß gemacht, zu lesen und hat einiges gebracht, sehr gut, deshalb verdiente und klare Ten Points.