Neunzig Minuten laufen, schießen, Tore und Jubel. Currywurst, Erbsensuppe, Bier und Zigaretten. "Böklunder-Box" und Werbezeppeline in Fünf-Sterne-Stadien, zwanzig Euro für die Stehplatzkarte, VIP-Logen mit Kanapees, gepolsterte Klappsitze. Rauchschwaden und Feuersbrünste, Stadionverbote, Megafone und Vorsänger. Neonazis, ...grüße, homophobe und rassistische Gesänge, Affenlaute und Transparente gegen vermeintlich linke Ultrá-Gruppierungen.
Für jede und jeden von uns bedeutet Fußball etwas anderes. In diesem Jahr habe ich oft den Satz gehört: "Die sollen mich mit ihrer Politik in Ruhe lassen - Politik gehört nicht ins Stadion!" Die Politik prallt also an den Stadiontoren ab, sie soll nicht den vermeintlich reinen Geist des Fußballs stören, sie soll uns nicht ablenken von dem, was wirklich wichtig ist - nämlich die Unterstützung unseres Vereins. So oder so ähnlich äußerten sich Fanvertreter und Vereinsverantwortliche unter anderem in Braunschweig und Dortmund im Verlauf des Jahres. Geradezu hilflos stehen viele Vereine - vor allem, aber nicht nur - in Ostdeutschland dem wachsenden Problem mit gewaltbereiten Neonazis gegenüber, die sich längst in ihren Fankurven breitgemacht haben.
Das Fazit vorneweg
Mein persönliches Fazit aus dem, was ich im Jahr 2013 in den Stadien erlebt habe: Gesellschaftliche Realitäten lassen sich nicht an Stadiontoren abgeben. Wenn Menschen andere Menschen wegen deren Herkunft, der Hautfarbe oder der sexuellen Orientierung im "richtigen Leben" diskriminieren, dann tun sie dies auch im Stadion. "Schwuuuuler, schwuler Beee-Vau-Beee!" tönte es aus meiner eigenen Fankurve, jahre- und jahrzehntelang beim Derby. "Lieber 'ne Gruppe in der Kritik, als Lutschertum und Homo...!" wurde 2012 auf der Dortmunder Südtribüne gezeigt, und auch in diesem Jahr hat man es dort nicht geschafft, der rechtsradikalen Einflussnahme in der eigenen Kurve (von Gruppen wie Desperados und Northside) Einhalt zu gebieten. Die dortige Ordnerstruktur ist unterwandert, das hat sich auch im neuen Jahr nicht geändert, und der Verein steht zumeist wort- und tatenlos daneben, ohne einzugreifen. In Braunschweig gehört es zum guten Ton auf der Tribüne, eine antirassistische Ultrá-Initiative aus dem Block zu prügeln.
Wenn mir also jemand diesen berühmten Satz "Politik gehört nicht ins Stadion" entgegenschmettert, meist mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck, der die eigene Überlegenheit oder zumindest die eigene Politikerverdrossenheit symbolisieren mag, dann werde ich meist ziemlich nachdenklich. Manchmal lasse ich mich sogar auf ein Gespräch mit der- oder demjenigen ein, einfach um die Hintergründe zu erfahren. "Zahlst du denn gerne 20 Euro für einen Stehplatz?", frage ich dann zurück. Oder ob die "Böklunder-Box" in der Halbzeitpause oder die repressiven Maßnahmen an fremden Stadiontoren so gefallen, wenn sich 17-jährige Mädchen bis auf die Unterwäsche ausziehen müssen, um sich von vermeintlichen "Sicherheitsdiensten" begaffen und betatschen zu lassen. Oder ob es okay ist, wenn der Vorsänger der größten Dortmunder Ultrágruppe "The Unity" unter Androhung körperlicher Gewalt von seinem Podest befördert wird, weil er ein T-Shirt mit einer antirassistischen Botschaft trägt. Oder ob es okay ist, wenn Menschen mit einer anderen Hautfarbe sich von Leuten aus dem eigenen Fanlager als "Nigger", "Judenschwein" oder "Chinesenfotze" beschimpfen lassen müssen. Und dass es nicht okay ist, wenn man am Wochenende den Frust rauslässt, den man unter der Woche so aufstaut.
Wen betrifft das denn schon?
Die gesellschaftlichen Diskussionen machen nicht vor den Stadiontoren Halt, sie beschäftigen alle. Vor allem aber betreffen sie alle! Armut und Reichtum etwa kommen spätestens bei der Debatte über die Ticketpreise wieder auf den Tisch. Angst und Ressentiments gegenüber Menschen mit anderen Hautfarben oder sexueller Orientierung werden immer wieder thematisierbar, wenn etwa in München Affenlaute von der Tribüne schallen oder in Dortmund schwulenfeindliche Transparente in der Kurve gezeigt werden. Da können wir uns alle gern hinstellen und darüber schwadronieren, dass das doch nicht ins Fußballstadion gehöre, dass wir uns davon nicht beeinflussen lassen wollten, dass wir doch in erster Linie unseren Verein unterstützen wollen. Fakt ist, dass wir selbst in den neunzig Minuten, die eigentlich unserem Klub gehören sollten, unter der Knute der Realität stehen - so sehr wir uns vielleicht auch eine Auszeit davon wünschen.
Natürlich ist die bittere Erkenntnis nicht neu, dass immer mehr Menschen von der Politik oder vielmehr den Politikern, die sie prägen, frustriert sind. Wie sonst ist es erklärbar, dass bürgerliche und gesellschaftliche Umwälzungen in unserem Land nur schleppend vorankommen? Der Politikstil der letzten zwanzig oder dreißig Jahre hat sich trotz diverser Regierungswechsel kaum verändert - und wenn basisdemokratische Ansätze, die Mitbestimmung und Teilhabe in den Fokus rücken, an den Start kommen... dann endet das so wie bei der Piratenpartei, die sich in innerparteilichen Scharmützeln und unkonzentriertem Gehampel quasi selbst demontierten. Nicht viel anders laufen Debatten und Entscheidungsprozesse im Fußball ab - das beste Beispiel dafür ist die unsägliche Debatte rund um die Pyrotechnik, die nicht mehr von Tatsachen und Fakten, sondern nur noch von Ideologie und Vorurteilen geprägt wird.
Alles nicht so ernst gemeint?
Und dann kommen wir wieder an den Punkt, an dem die "Es ist doch nur Fußball"-Fraktion darauf hinweist, dass das ja alles nicht so ernst gemeint sei. Dass das doch alles nur Gefrotzel sei. Dass man halt beim Derby eben "Tod und Hass dem BVB" skandiert, und dass das doch fast das Gleiche sei. Nein, ist es eben nicht. Selbst im Derby gibt es Grenzen, die nicht überschritten werden. Die Grenzen der Menschlichkeit. Wissen alle, die das singen, was das bedeutet, wenn sie dazu auffordern, "die Grabstätte" des "Feindes" zu schänden? Werden Texte von Kurvenliedern kritisch hinterfragt - gerade auch von denen, die sie dorthin tragen, also den Ultrás? Und wenn nicht, müsste das nicht längst passieren oder zumindest von irgendeiner Institution angeschoben werden?
Der französische Diplomat und ehemalige Widerstandskämpfer Stéphane Hessel hat im Oktober 2010 ein Essay unter dem Titel "Empört euch!" veröffentlicht. Darin fordert er Leserinnen und Leser auf, ihr Leben engagiert zu gestalten, sich einzumischen und nicht alles nur stumm hinzunehmen. Auch Fußballfans sollten sich das Büchlein, das es schon für vier Euro im Buchhandel zu kaufen gibt, dringend einmal zu Gemüte führen, denn ihre Rechte werden genau so auf den Prüfstand gestellt, ihre Lebensführung genau so beeinflusst, ihre Privilegien genau so beschnitten wie die aller anderen Menschen. Der olle Bert Brecht konstatierte seinerzeit, dass diejenigen, die kämpfen, zwar verlieren können, diejenigen aber schon verloren haben, wenn sie auf den Kampf von Anfang an verzichten. Bei allem Verständnis für die Ohnmacht gegenüber der scheinbar erdrückenden Welle derjenigen, die alles akzeptieren - etwas Widerstand schadet nie, und es bricht niemandem ein Zacken aus der Krone, wenn sie oder er mal bestimmte Zusammenhänge und vermeintliche Fakten hinterfragt.
Es ist auch die Aufgabe von Fanorganisationen, genau das zu tun und zu leisten. Ultrá, Hooligan, Kutte oder "Normalo" - es ist Zeit, sich der eigenen Wichtigkeit mal wieder bewusst zu werden. Wir haben es in der Hand - jede und jeder Einzelne von uns, wenn es darum geht, unsere Lebensbedingungen zu bestimmen. Auch und gerade in den deutschen Stadien. Ich habe jedenfalls keine Lust, dass meine kleine Tochter, die jetzt fünf Monate alt ist, später einmal nicht mit mir ins Stadion gehen kann, weil dort Hass, Menschenhass, Feindlichkeit gegenüber Andersdenkenden und Neonazismus den Takt schlagen. Protest lebt von aktiver Beteiligung, nicht von stiller Zustimmung. Und so muss man allen sagen, die irgendetwas zu kritteln haben an dem, was um sie herum so passiert: Macht es besser! Macht es anders! Aber vor allem: MACHT ES!
Als Fazit halte ich für mich fest - und möchte das gern vielen Menschen nahe bringen - wir sind - solange es noch Reste von Mitwirkungsmöglichkeiten in Fussballvereinen gibt und nicht alles unternehmensgesteuerte Kapitalgesellschaften sind - selbst für unser Stadionerlebnis verantwortlich.
Wegschauen und leugnen, dass Politik überall in den Stadien ist, bringt da reichlich wenig und eröffnet denen, die ihre Politik betreiben nur die Möglichkeit, dies ungestört zu tun.
Schöne Zitate, schöner Text, sollten hier einige User als Pflichtlektüre lesen müssen, und wenn es nur dazu führt, den eigenen Standpunkt einmal zu hinterfragen.
Macht doch aus unbeherrschten aufdringlichen unreflektierten Schreihälsen nicht gleich irgendwelche ...isten, das schmeckt wirklich sehr jugendlich.
Nach 2 Jahrzehnten Abstand zu 2 Jahrzehnten antifaschistischem Engagement in meinem Leben weiß ich recht gut daß da sehr oft auf beiden Seiten mit hohlen Phrasen eigentlich nur aneinander vorbeigeredet wurde. Hausrecht haben die Vereine in den Stadien. Nur sie können geeignete Maßnahmen ergreifen daß dort die Dumpfheit in manchen Köpfen sich nicht gewaltsam artikuliert, daß keiner Angst haben muß in ein Stadion zu gehen.
Ich denke den meisten Leuten, die schon einmal im Stadion waren, haben schon einmal etwas mitgesungen für das sie sich im Nachhinein schämen oder dies besser täten.
Es fängt schon mit dem klassischen 3-4 Beleidigungen beim Abschlag des gegnerischen Torwarts an und geht bei manchem vielleicht soweit das U-Bahn-Lied nach einem Derby-Sieg mitgesungen zu haben.
Ich nehme mich da nicht aussen vor und habe schon das ein oder andere bewusst mitgesungen oder über bestimmte Dinge, die ich da gerade singe nicht genau nachgedacht.
Ich teile deine Meinung und habe leider mittlerweile einige Erfahrungen in Stadien gemacht, die das Spiel Fussball in Kombination mit gewissen Fanszenen für mich immer befremdlicher werden lassen.
Identifikation wie sie sich bei vielen im Fansein äussert, muss sich auch innerhalb des Stadions wiederfinden und nicht gegen Hass getauscht werden. Im Stadion scheint sich oft der gesellschaftliche Prozess der vielen letzten Jahre, auch durch "blauäugiges" Mitsingen, noch nicht durchgesetzt zu haben.
Zusatz: Wenn Fans eines Vereins einen Anhänger/Spieler eines anderen Vereins nur aufgrund seiner Trikotfarbe beleidigen oder angreifen, geht das für mich in eine ähnliche Richtung wie Rassismus. Sticheleien gehören dazu, aber blinde Wut wegen einer anderen Vereinszugehörigkeit erinnert mich an Stammesverhalten, das nicht in unsere Zeit passt.
Besonders bei der Problematik der Fangesänge.
Es wird einfach stumpf nachgesungen!
Ich hatte Anfang diesen Jahres ein Gespräch mit einem Dresden Fan welches mich extrem shockiert hat!
Er fing an mit es gebe keine Politik in seiner Fangruppierung und keinen Rassismus und pi pa po. Alles würde nur von den Medien falsch dargestellt!
Dann hab ich ihn gefragt wie oft er in den letzten Monaten das U-Bahn Lied, was da leider noch sehr verbreitet ist, gesungen bzw gehört hat.
Er meinte was das jetzt mit der Politik im Stadion zu tun habe??
Da war ich kurz sprachlos und habe ihn dezent darauf hingewiesen das er mal überlegen solle was genau er da singt.
Da ist dem studierten Ingenieur doch ein Licht aufgegangen und er war von sich selbst geschockt und hat eingesehen was das für ein Mist ist!!!!
Ein perfektes Bsp dafür das nicht darüber nachgedacht wird was da oft geäußert wird!!
Deshalb KLAPPE AUF!!!
Sogar ein vermeintliches unter Freunden hingeworfenes "ach komm du Schwuchtel" ist Homophobie.
Das ist natürlich bei den meisten nicht böse gemeint trotzdem sollte es nicht als "NORMAL" hingenommen werden.
Da muss sich die Denkweise ändern.
Sollte man jemanden sticheln, ärgern oder was auch immer will gibt es in der weiten deutschen Sprache genügend andere Möglichkeiten!
Jedoch sollte Homophobie Rassismus Antisemitismus nichtmal ansatzweise irgendwo Platz haben!
Schalke und der FCN!
Sehr guter Kommentar, genau richtig und gelungen formuliert!
Ist ja (fast) alles gesagt worden!