Wirklich Großes hatte ich ihm nicht mehr zugetraut. Mein Vertrauen, dass aus Bastian Schweinsteiger einmal ein echter Topspieler werden würde, ging im Sommer 2008 gen Null. Angewidert und genervt von der ganzen "Schweini"-Hysterie ließ ich mich dazu hinreißen, einer SPOX-Gruppe mit dem ambitionierten Titel "Verscherbelt Schweini an die 60er" beizutreten. Nicht gerade nett, aber eben doch Ausdruck einer wachsenden Skepsis gegenüber einem Spieler, bei dem Anspruch und Wirklichkeit so gar nicht zueinander zu passen schienen.
Inzwischen sind sieben Jahre ins Land gegangen und wie das so ist mit der Zeit, die weise macht, sehe ich die Sache inzwischen vollständig anders. Ich bin froh, dass man Schweinsteiger seinerzeit weder an die Löwen noch an irgendeinen anderen (hoffnungslosen) Club abgegeben hat. Aus dem vermeintlichen Schein-Talent Schweini wurde unter van Gaal, Heynckes und Guardiola einer der großen Protagonisten des FC Bayern: Leader, Identifikationsfigur, Persönlichkeit Lenker, Kämpfer, Vorbild. Ganz sicher nicht der spielerische Feingeist, eher ein Turm in der Schlacht mit unerschütterlichem Mia-san-mia-Impetus. Trotz verschossener Elfmeter und nicht nur wegen des Märtyrer-Auftritts von Rio. Bastian Schweinsteiger ist gereift. Aus Schweini wurde Schweinsteiger. Eine Marke, an der auch die Werbung schon lange nicht mehr vorbeikommt.
Dem FC Bayern hat er in all den Jahren gut getan. Weniger als wuselnder Trickser, für den ihn viele hielten und als der in den früheren Jahren seiner Karriere eingesetzt wurde, als vielmehr in der Rolle der zentralen Konstante. Schweinsteiger, die verlässliche Größe, die das Spiel der Bayern prägte, ohne es zu dominieren. Je unauffälliger er agierte, desto auffälliger wurde. Was nach einem unlogischen Paradoxon klingt, war der Schlüssel zum Erfolg seiner Karriere. Bastian Schweinsteiger brauchte keine narzisstische Selbstinszenierung, kein albernes Hacke-Spitze-Einszweidrei, kein krakeelendes "Hallo hier bin ich, schaut mal her". Sein wahrer Ruhm begann, wo der Glamour endete - jedenfalls auf dem Spielfeld.
Mit der Attitüde des bescheidenen Mannschaftsspielers avancierte Schweinsteiger zum Liebling der Bayern-Fans. Nicht zum kreischend bejubelten Teenie-Schwarm, dessen Beliebtheit auf oberflächlicher Effekthascherei gründet. Nein, die Wertschätzung der Bayern-Fans ist wahrhaftig und dauerhaft. Sie fußt nicht auf einer Bewunderung für einen makellosen, brillanten Spieler, um den einen die ganze Welt beneiden würde. Die Spielweise der Nummer 31 hat Ecken und Kanten, ist weit weg von der Perfektion und wirkt doch oder gerade deshalb so authentisch, dass man sie irgendwie liebgewinnen muss. Bastian Schweinsteiger ist in den letzten 13 Jahren zum Mr. FC Bayern geworden: Geradlinig, schnörkellos, glaubwürdig.
Trotz der gewachsenen Identifikation scheint nun der Zeitpunkt der Trennung gekommen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Schweinsteiger mit einem Wechsel (auf die Insel) liebäugelt. In den Interviews rund um die Länderspiele gegen die USA und Gibraltar verhehlte er seine Zweifel an einer Vertragsverlängerung nicht. Man werde sich im Sommer zusammensetzen und die Lage besprechen. Die Botschaft ist eindeutig: Die Wege könnten sich bald trennen. Nach Argumenten braucht man nicht lange zu suchen. Die Konkurrenz für Schweinsteiger im Mittelfeld scheint erdrückend: Xabi Alonso, Thiago, Lahm, Martinez, Rode - da bleibt mittelfristig nur die Perspektive der Nebenrolle, die ein Spieler seines Kalibers nicht spielen will, nicht spielen sollte. Doch zur Wahrheit gehört auch, dass Schweinsteiger inzwischen deutlich den Leistungszenit überschritten hat und nicht mehr über das Potential verfügt, um eine Mannschaft wie der des FC Bayern über eine ganze Saison hinweg wirklich bereichern zu können. Kurzum, es spricht vieles dafür, dass Schweinsteiger demnächst den FC Bayern verlassen wird, um seine Karriere andernorts ausklingen zu lassen. Dies wäre genauso bedauerlich wie folgerichtig. Dem Verein würde ein Stück seiner Identität fehlen. Und doch, der Schritt scheint unvermeidbar.
Als Fan, der Schweinsteiger einst zu den 60ern verwünschte, sehe ich die sich abzeichnende Entwicklung ambivalent - mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Ein Abgang scheint realistisch betrachtet kaum umgänglich. Und doch muss er einem beim nostalgisch verklärten Blick auf die letzten Jahre wehtun. Er wird und fehlen. Nicht nur insgeheim würde ich mir wünschen, er käme eines Tages zurück. Als Jugendtrainer, Manager, Scouter, Berater oder eben als bajuwarisches Faktotum. Er wird ein Roter bleiben - so oder so.
Mir würde definitiv das Herz bluten, wenn Schweinsteiger seinen und unseren geliebten FC Bayern verlassen würde. Daher hoffe ich sehr stark, dass er nochmal verlängert bei uns.