Der, um im modernen Euphemismussprech zu beginnen, nicht unumstrittene Fußballkommentator Marcel Reif hält den von der bayerischen Justiz Ulrich H. Genannten für vergleichbar mit dem "Helden" einer griechischen Tragödie. Das ist eine amüsante Halbwahrheit. Denn der Tragöde wird durch das Schicksal oder die Götter in eine ausweglose Situation manövriert. Er wird schuldlos schuldig. Davon kann beim Bayern-Präsidenten nicht die Rede sein. Nicht Zeus hat ein Konto in der Schweiz unter seinem Namen eingerichtet. Und nicht irgendwelche Schicksalsmächte haben die Entscheidung getroffen, die dort anfallenden Erträge nicht zu versteuern, sondern der nur vermeintlich tragische Held selbst. Die Tragik liegt eher in der kübelweise über dem mittlerweile fast kahlen Haupt ergossenen Häme. Es ist schon betrüblich, wer sich mittlerweile zum großen Schlachten des Metzgersohns berufen fühlt.
Compliance, Unschuldsvermutung und anderer Mumpitz
Das Urteil ist gesprochen. Tausendfach. Im Namen des Volkes. Der Moral. Der Ethik. Ein Steuerbetrüger kann nicht Aufsichtsratschef der FC Bayern München AG bleiben. Punkt. Da gibt es doch keine zwei Meinungen. Wie das praktisch gehen soll? Viele Wege führen nach Rom. Die Anzahl der Menschen, die in den letzten sechs Monaten auch an noch so alkoholumnebelten Stammtischen das Wort "Compliance" im Munde führen, ist schon beeindruckend. Die DAX-Konzern-Lenker, die das oberste Aufsehergremium des FC Bayern bevölkern, könnten in ihren eigenen Unternehmen dank der dortigen "Wohlverhaltens"-Richtlinien mit diesen Vorwürfen vor der Brust selbst keinen Tag im Amt bleiben. Wieso sägen sie den Steuerbetrüger nicht endlich ab?
Erwähnt man schüchtern nach tollkühnem Ausbruch aus der Schweigespirale, dass der Präsident des FC Bayern e. V. qua Amt Aufsichtsratsvorsitzender der FC Bayern AG ist, und dementsprechend nur von den Mitgliedern seiner korrelierenden Ämter enthoben werden könnte, erntet man bestenfalls schallendes Gelächter. Weil man diese juristische Hürde nicht überspringen kann, fährt die zur gehobenen Meinungsmacherintelligenzia aus Hamburg gehörende ZEIT Aktienrechtsexperten auf, die einem erklären, die ganze Unternehmens-Konstruktion bei den bajuwarischen Hinterwäldlern sei intransparent, ja amoralisch.
Die Unschuldsvermutung? Dümmliches Juristengeschwafel. Hoeneß hat sich doch selbst angezeigt. Was ist da zu beweisen? Es hat zwar ganz gute Gründe, dass ein Angeklagter selbst dann noch als unschuldig gilt, wenn er selbst gestanden hat. Die sehr viel Älteren werden in diesem Zusammenhang noch den Namen des verstorbenen Günther Kaufmann gewärtigen. Die Jüngeren kennen die einstige Fassbinder-Muse wohlmöglich noch von seinem bemitleidenswerten Auftritt im australischen Z-Promi-Würmerrestaurant (für die Trash-Liebhaber: 4. Staffel). Schuld ist individuell und in einem geordneten Verfahren nachzuweisen, das nach bestimmten Regeln abläuft. Richtig ist - Verfahren hin oder her - der Tatbestand der Steuerhinterziehung dürfte erfüllt sein. Umstritten sind nur die Voraussetzungen der Strafbefreiung. Nur macht diese den in einer rechtspositivistisch geprägten Gesellschaft entscheidenden Unterschied zwischen einem blütenweißen und einem vorstrafenbesudelten Führungszeugnis. Der ewigen Bluthochdruck-140-Zeichen-Wirklichkeit sind solche Differenzierungen natürlich viel zu blöd.
Gelegenheit macht Hiebe
Einen großen Vorteil hat allerdings das langwierige Verfahren bei Steuerfahndung, Staatsanwaltschaft und Gerichten: die vielen Etappen bieten Anlass zu immer neuerlicher Empörung. Selbstanzeige, Hausdurchsuchung, Festlegung der Kaution, Anklageerhebung, Anklagezulassung und Prozessbeginn sind je für sich Gelegenheit zur Entfachung eines Shitstorms. Zwischendurch bieten die langsam mahlenden Justizmühlen zudem schier unbegrenzte Möglichkeiten zur Spekulation. Und zum Verkauf von Nachrichten, die eigentlich kaum welche sind.
Schön zu beobachten an der Zulassung der Anklage, die jüngst vermeldet wurde. Das Zwischenverfahren gibt es aus gutem Grund. Ein (unabhängiges) Gericht soll überprüfen, ob die (weisungsgebundene) Staatsanwaltschaft eine stichhaltige Anklage formuliert hat. Der Maßstab ist, ob das Gericht in Übereinstimmung mit den Staatsanwälten eine Verurteilung für wahrscheinlich hält. Wird eine Anklage nicht zugelassen, bedeutete das nichts anderes als die gerichtsamtliche Feststellung grober Schlamperei der Anklagebehörde. Zum Glück, kann man sagen, kommt das relativ selten vor. Die Chance, dass das Verfahren gegen Uli Hoeneß in diesem Zwischenverfahren strandet, war dementsprechend minimal. Und doch wird die Zulassung der Anklage als sensationelle News verkauft, die sogar Gegenstand von BILD-Exklusiv-Meldungen wird.
Volkssport der oberen zehntausend
Solche "Neuigkeiten" bilden dann den Humus für die Verhängung der Höchststrafe der Mediengesellschaft. Das Gesicht des Fußballmanagers Uli Hoeneß wird zur Fratze des brutalstmöglichen Kapitalismus stilisiert. Der einst gute Name dient als punching ball drittklassiger Politiker, die bei jeder dieser Episoden die Möglichkeit sehen, aus ihrer wohlverdienten Bedeutungslosigkeit auszubrechen.
So verließ der SPD-Politiker Joachim Poß (Name vom Blogger nicht verändert) das Hussein'sche Erdloch der politischen Versenkung und sprach salbungsvoll, Hoeneß sei zur "Symbolfigur der Oberschichtenkriminalität geworden der Oberschichtenkriminalität mit Namen Steuerbetrug".
Tja, wo fängt man da an? Zunächst: den Namen "Poß" muss man nicht zwingend kennen. Der bald im Rentenalter angelangte Gelsenkirchener sitzt seit satten 33 Jahren als Vertreter seines Wahlkreises im deutschen Bundestag. Obwohl er seit gefühlt 31 Jahren als "Finanzexperte" seiner Fraktion firmiert, ist auch in seinem eigenen Verein noch niemand auf die Idee verfallen, ihm das Finanzministerium zu überlassen. Immer wenn die Partei gerade dran war, die Bundeskasse zu verwalten, wurden ihm Meister ihres Fachs wie Oskar Lafontaine, Hans Eichel oder Peer Steinbrück vorgezogen. Dass der Mann das Charisma eines aufgereckten Erdmännchens mit den Sympathiewerten einer unterdurchschnittlichen Fruchtfliege verbindet, dürfte nicht geholfen haben.
Des weiteren ist der Steuerbetrug die Beamtenbeleidigung der Finanzkriminalität. Diese wie jene gibt es nicht. Es gibt Steuerhinterziehung und Steuerverkürzung. Beides ist strafbar, aber beides klingt so unsäglich bürokratisch. Da macht sich die Assoziation mit einem fliegenden Händler, der einem eine Fußabtretermatte als Original-Perserteppich verkaufen will, viel besser.
Dass Steuerhinterziehung - wenn auch individuell nicht im Hoeneß'schen Umfang - in Deutschland Volkssport ist, hat der Finanzexperte verpasst. Ein kurzer Blick in die Schwarzarbeitsstatistik war wohl zu mühevoll. Wahrscheinlich hat sich die werte Gattin in den letzten dreieinhalb Dekaden um Nichtigkeiten wie Handwerkerrechnungen und absetzbare "Arbeitszimmer" mit Kickertisch gekümmert.
Die Großen lässt man laufen, die Kleinen hängt man
Es passt einfach zu gut ins schlichte Weltbild. Die da oben gegen uns hier unten. Herr Poß verkündet als echter Volksvertreter: "Die rechtsstaatliche und moralisch-ethische Ignoranz dieser Spitzenmanager schlägt dem Fass den Boden aus." Es ist diese verquaste Gedankenwelt, dieser bodenlose Populismus, der einen schaudern machen müsste. Dass die Firmenvorstände von VW und Co. Hoeneß nicht an der Mitgliederversammlung vorbei absetzen, ist also Ausweis rechtsstaatlicher Ignoranz. Aha.
Diese Saat geht auf. Wie oft durfte man in Foren verschiedenster Couleur in den vergangenen Monaten lesen, der "normale" Steuerhinterzieher wäre längst im Knast. Wenn unsere Volksvertreter die Schändlichkeit der oberen Zehntausend und ihrer Rechtsverdreherei schon erkannt haben, wird man das ja wohl sagen dürfen!? Äh...ja darf man. Weil in Deutschland - Gott oder Zeus sei es gedankt - jeder frei ist, himmelschreienden Unsinn zu verzapfen, wann immer ihm oder ihr danach ist. Freiheitsentzug ohne Urteil gibt es in Deutschland nur bei Flucht- oder Verdunklungsgefahr, die wohl beim normalen Steuerhinterzieher ohnehin nie gegeben wäre. Liegt ein Haftgrund vor, kann die Vollziehung durch Hinterlegung einer Kaution ausgesetzt werden. Die Kaution wird in einer Höhe festgelegt, die der Angeschuldigte aufbringen kann, deren Verfall aber im Fall der Flucht oder Verdunklung schmerzt. Dass ein Durchschnittsverdiener die siebenstellige Hoeneß-Kaution nicht aufbringen könnte, stimmt zwar. Nur sollte man hinzufügen, dass er das auch bei erdrückender Beweislast gar nicht müsste, um bis zum Hauptverfahren auf freiem Fuß zu bleiben. Aber wen interessieren solche Details? Herr Poß und seine Kombattanten haben da eben "andere moralische Vorstellungen als diese Herren."
"Hoeneß in den Knast!"
...singt die Dortmunder Südtribüne darob. Und wer will es ihnen verdenken. Macht doch Spaß. Häme ist nun mal der uneheliche große Bruder der Schadenfreude, die ja neben der Vorfreude eben doch die schönste ist. Und jeder empörte Bayern-Fan sollte sich fragen, ob man nicht den Namen des Präsidenten durch den des Dortmunder Geschäftsführers ersetzt und dasselbe intoniert hätte, würde sich herausstellen, dass dieser die Erträge aus seinem Schutzbekleidungsunternehmen in Liechtenstein geparkt hätte.
Man kann über das gerechte Strafmaß für Ulrich Hoeneß lange diskutieren. Vielleicht hat er eine Gefängnisstrafe verdient. Vielleicht ist er als Präsident jedenfalls moralisch nicht mehr tragbar. Was er nicht verdient hat, sind Provinzschranzen wie Poß, Pronold, Staeck und Konsorten, die an ihm ihr Mütchen kühlen. An solchen Feinden zeigt sich das ganze Ausmaß des öffentlichen Ansehensverlustes des Uli Hoeneß. Der wäre selbst mit einem praktisch ausgeschlossenen Freispruch erster Klasse nicht mehr aufzuwiegen. Was sind schon ein paar Monate Einschluss in der JVA gegen die unfreiwillige Rolle als Politkarrierebeschleuniger?
Die totale Emotionalisierung des gesamten Themas lässt alle Seiten die Scheuklappen aufsetzen. Auf der anderen Seite, das heißt im Verein, erzeugt das eine Wagenburgmentalität, die wahrscheinlich selbst für den FC Bayern letztlich kontraproduktiv, aber völlig menschlich ist. Natürlich ist es Unfug, die Verfehlungen des Uli H. mit millionenfacher Steuerverkürzung kleiner Handwerker, angeblich schlechten Arbeitsbedingungen bei Schalkes Aufsichtsrat oder anderen öffentlich ruchbaren Missetaten aufwiegen zu wollen. Und dass Hoeneß viel Gutes bewirkt und einen bislang einwandfreien Leumund hat, ist juristisch gesehen strafzumessungsrelevant, ändert aber an der mutmaßlichen Steuerhinterziehung nichts.
Dass die Bayern-Mitglieder sich ihren Präsidenten nicht von moralischem Stammtischfuror geltungssüchtiger Politiker hinwegsingen lassen wollen, ist aber auch nachvollziehbar. Die JHV wird sich in der nächsten Woche vermutlich erheben, wenn der große Kapitän einschwebt. So lässt sich die Freude über all das Silber mit dem bisweilen sektengleichen, wohlig-warmen Familiengefühl des "Mia san mia" und "Mia san Uli" verbinden. Sinnvoll ist das nicht. Menschlich verständlich schon. Und irgendwie auch buchstäblich tragisch. Aber das hatte Herr Reif sicher nicht gemeint.
kleine kritik: die poß-passage ist mir zu unsachlich ("erdmännchen", "fruchtfliege"), das wertet den insgesamt sehr sachlichen, wenn auch zuspitzenden beitrag ein wenig ab. das hätte es mE nicht gebraucht. und dennoch ein sehr gelungener einwurf!
Zur Thematik an sich will ich nichts sagen. Da wurde eh schon viel zu viel gesagt...