Bayern-Fans eilt mitunter ein zweifelhafter Ruf voraus: Erfolgsfans. Opportunisten. Großmaule. Dass ich all diesen Stereotypen entschieden widersprechen würde, liegt auf der Hand. Ein anderes Klischee kann ich hingegen nachvollziehen und an meiner Person bestätigen. Trotz ungebrochener Erfolge neigen wir Bayern-Fans, ich insbesondere, dann und wann schon mal zu einem gewissen Pessimismus (Zweckpessimismus vielleicht). Da meldet man dann vor einem vermeintlich einfachen Heimspiel Zweifel an, dass die eigene Mannschaft das Spiel erfolgreich bestreiten wird, um dann doch wieder ganz entspannt und voller Genuss einen lockeren Sieg zur Kenntnis zu nehmen. Das Ganze erinnert dann zuweilen an die Streber, die vor der Rückgabe einer Klassenarbeit ihre persönlichen Horrorszenarien heraufbeschwören, um dann wieder eine glatte Eins in Empfang nehmen zu können. Für den eher durchschnittlichen begabten Klassenkameraden ein gleichsam absurdes wie nerviges Schauspiel. Und so können wir Bayern-Fans unseren nicht bayernaffinen Freunden schon einmal gehörig auf den Geist gehen, wenn wir wieder mal eine Klatsche hervorsehen, wohlwissend, dass es am Ende wohl doch entspannte drei Punkte geben wird.
Der Pessimismus, der sich bei mir am 22. September gegen viertel vor neun einstellte, war keine streberhafte Koketterie, sondern entsprang der festen Überzeugung, dass es an diesem Abend nicht zu einem Dreier, ja nicht einmal zu einem Remis reichen würde. Die erste Halbzeit im Heimspiel gegen den VfL Wolfsburg verlief ernüchternd. Kaum Chancen, wenig Ordnung, dafür große Lücken in der Abwehr, die in Caligiuris Führungstreffer mündeten und nach Neuers vogelwildem Ausflug beinahe in einem zweiten Tor geendet waren. Kurzum, es sah alles andere als positiv aus. Das würde heute wohl nichts geben, dachte ich mir und ahnte nicht, welch rauschhafte Wendung dieser Abend noch für die Bayern-Fans bereithalten würde.
Pep Guardiola tat, was er immer tut: Er änderte. Die Positionen, die Spieler, das System. Alles war anders in dieser zweiten Halbzeit, die ganz im Zeichen eines Spielers stehen sollte. Robert Lewandowski, in den ersten 45 Minuten auf der Bank schmorend, wurde für Thiago eingewechselt und erlebte DEN Moment seiner Karriere. Ein Moment, der ziemlich genau neun Minuten dauerte und Spieler, Verantwortliche und Fans atemlos zurückließ:
51. Minute: Angriff der Bayern über die rechte Seite. Vidal legt für Müller ab, dem aber ein Wolfsburger zuvorkommt und Robert Lewandowski auflegt, der nur noch vollenden muss. Tor. 1:1!
52. Minute: Das Spiel ist gerade wieder angepfiffen. Die Wolfsburger verdaddeln den Ball, Douglas Costa legt den Ball in den Lauf des Polen, der aus 18 Metern souverän vollendet. Lewandowski! Schon wieder. 2:1! Unglaublich!
55. Minute: Götze legt auf Lewandowski, der aus kurzer Distanz eigentlich nur vollenden muss. Pfosten! Der Ball prallt zu Lewandowski zurück. Neuer Versuch. Benaglio! Nein! Dritter Versuch. TOOOOR! 3:1! Der schnellste Hattrick der Bundesliga-Geschichte! 3 Minuten 19 Sekunden. Unglaublich! Unfassbar!
57. Minute: Douglas Costa nimmt mal wieder Tempo auf, flankt aus vollem maßgenau in die Strafraummitte, wo ein Bayer den Ball volle Wucht in die Maschen setzt. 4:1. Torschütze? Lewandowski! Schon wieder! Quadruple! Unglaublich! Unfassbar! Überragend!
60. Minute: Bayern-Angriff über rechts. Butterweiche Flanke von Götze Richtung Strafraumgrenze. Volleyabnahme... LEWANDOWSKI! TOOOOOOOR! 5:1! Was'n Ding! Unglaublich! Unfassbar! Überragend!
Fünf Tore in neun Minuten von einem Spieler, das hatte die Welt noch nicht gesehen. Was sich in diesen wenigen Augenblicken in der Allianz-Arena zugetragen hatte, sprengte die Vorstellungskraft jedes Fußballfans. Konnte das, was man soeben mit eigenen Augen beobachtet hatte, Wirklichkeit sein? War alles nur ein Traum? Eine skurrile Laune der eigenen Fantasie?
Wahrscheinlich wollte Robert Lewandowski nur alle Zweifel an der Wahrhaftigkeit des Erlebten wegwischen, als er knapp zehn Minuten später seine wohl größte Torchance des Abends ungenutzt ließ und aus wenigen Metern an dem für seinen geschlagenen Torwart klärenden Rodriguez scheiterte. Lewandowski war doch ein Mensch und das Erlebte real.
Und dennoch kam auch ich nicht umher, pausenlos "unglaublich, unglaublich" zu murmeln und hilflos in ähnlich getexteten Tweets und whatsapp-Nachrichten meiner Begeisterung Ausdruck zu verleihen. In Worte fassen konnte man die Wucht dieses Augenblicks nicht wirklich. Ob "LewanTORski" oder der Verweis auf die Geißens im Sinne eines fünffachen "ROOOOOBERT", kein Wortspiel vermochte die Magie des neunminütigen Augenblicks zum Ausdruck zu bringen. Wunderbar, beeindruckend, außergewöhnlich, aber in jedem Fall: Einzigartig. So etwas würde man wohl als Fußballfan in der Bundesliga nicht mehr erleben. Der Lewandowski-Rausch wird ein Unikat und genau deshalb in ewiger Erinnerung bleiben.
In meiner Ektase ob des Lewandowski-Festivals vergaß ich ganz die Bedenken, die mich noch wenige Minuten zuvor geplagt hatten. Hatte ich nicht eben noch große Zweifel gehegt, dass meine Bayern an diesem Abend überhaupt einen Punkt mitnehmen würden? Und nun? Begeisterte ich mich an Lewandowski und einem Spielstand, der keine Zweifel mehr zuließ. Ach ja, diese Bayern-Streber...
Was bleibt, ist die Erinnerung an meinen emotionalsten, schönsten, unvergesslichsten Sport-Moment des Jahres 2015. Danke, Robert Lewandowski.
Bemerkenswert ist vor Allem, dass noch Nummer 6 und 7 hätten fallen können oder gar müssen!
Nach der Hz dachte ich mir "OK, schaust erst bei Spielende aufs Handy, wie es ausgegangen ist ..."
Was ich natürlich nicht durchgehalten habe ... und dann schaue ich nach 15 Minuten der 2. Hz bei FotMob nach dem Zwischenstand und war mir 1000% sicher, dass das 5:1 ein Fehler sein muss, zumal ja immer Lewy der Torschütze da stand ...
Erst, als das auf allen anderen Seiten auch stand, habe ich mich kaputt gelacht ...
P.S. Schöner Blog, schöne Erinnerung.
Ich durfte live dabei sein, sogar auf der Pressetribüne. Unter uns: Beim fünften Tor, dem Seitfallzieher, musste ich mich etwas zusammenreißen, es bei einer nüchternen Notiz zu belassen...
Ich ärgere mich heute noch darüber, dass ich meine Karte verkaufen musste, weil ich verhindert war.