Ein Tag im Oktober
Wir schreiben den 24. Oktober. Draußen ist es richtig herbstlich, die gelben Blätter wischen über den nassen Asphalt, manchmal meint man, einen kurzen Sonnenhauch am Himmel fühlen zu können.
Christina hat offiziell seit 10 Uhr Schicht. Für Fußball hat sie sich nie interessiert. Viele bezeichnen sie als Erfolgsfan, aber was kann sie dafür, für das Glück der späten Geburt?
Christina arbeitet in einem Seniorenheim, es gibt Tage, an denen Sie ihre Arbeit mag, an anderen kommt sie kaum aus dem Bett. Aber heute ist ein Tag, an dem sie gerne aufgestanden ist. Denn ihr liebster Opa hat heute Geburtstag und wird 90. Der kann so herrliche Geschichten von damals erzählen, von denen sie die meisten gar nicht glaubt. Die anderen schmunzeln dann immer und nehmen ihn nicht ernst, aber Christina mag ihren liebsten Opa. Sie hatte schon immer ein Faible für Menschen, die etwas schief sind. Und wenn er dann erzählt, flackern seine Augen so schön.
Sie nennt die Menschen, die sie betreut, allesamt Opa oder Oma. Patienten würde sie niemals zu ihnen sagen, denn sie sieht ihre Aufgabe vor allem darin, Zeit mit den Opas und Omas zu verbringen. Neben ihnen zu sitzen, ihre Hände zu tätscheln und eben zuzuhören, wenn sie von früher berichten.
Heute hat also ihr liebster Opa seinen runden Geburtstag, Christina ist aufgeregt und bereits um 08:30 zur Arbeit erschienen, weil sie noch einen Kuchen backen wollte. Sie steht in der Küche, nimmt noch einen Zug von ihrer I-Zigarette und blickt durch das Fenster in den Essensraum.
Drüben sieht sie Angela und Horst an einem Tisch sitzen. Diese nennt sie Angela und Horst und nicht Oma und Opa, denn sie werden nicht von ihr, sondern von einem Kollegen betreut. Horst beugt sich weit über den Tisch, er fuchtelt herum und scheint Angela wieder einmal die Welt zu erklären. Angela ist ganz gedankenverloren und spielt an dem Gerät herum, das um ihren Hals baumelt und das sie drücken muss, wenn eine Schwester kommen soll. Für Christina sind das alles nur Menschen, die von früher erzählen, als die Birnen noch grün waren.
Christina schleckt den Rührstab ab, es gibt Marmorkuchen. Seitdem sie bei ihrem liebsten Opa damals in dessen ehemaligem Haus war, sein Garten zierten Marmorlöwen, macht sie für ihn immer Marmorkuchen, wenn ein besonderer Anlass ist. Als sie die Küche verlässt, sieht sie Siggi vor dem Fernseher sitzen. Siggi hat kein Wort mehr gesprochen, seitdem vor zwei Jahren sämtliche Windparks in Deutschland abgerissen wurden. Siggi starrt auf den Fernseher und rührt sich auch nicht, als Christina über seine Wange streichelt.
Ihr liebster Opa ist noch nicht da, gleich muss er aber kommen. Christina räuspert sich, wischt sich die Hände an ihrer Schürze ab und dreht sich zum Tisch mit Angela und Horst: "Ihr wisst, dass heute ein ganz besonderer Tag ist?" Horst winkt ab, er muss sowieso pinkeln, aaaah, erledigt. Kommt schon, heute ist ein besonderer Tag, und als Du, lieber Horst, vor vier Jahren 90 wurdest, haben wir auch ganz toll gefeiert, erinnerst Du Dich? Horst ist mürrisch, er zieht eine Schnute. "Und Du, liebe Angela, bist nächstes Jahr auch dran. Dann machen wir auch eine ganz tolle Sause. Vielleicht sogar mit Kirschwein, wenn wir welchen finden". Angela kichert, einen Schwips hatte sie schon so lange nicht mehr.
Dann kommt er herein, ihr liebster Opa. Er schreitet vielmehr mit stolzem Gang, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Schlank ist er, wie eh und je, drahtig. Das feine, verbliebene Haar ordentlich nach hinten gekämmt, der Schnurrbart akkurat gestutzt. Ihr liebster Opa hat die Angewohnheit, die Menschen nicht anzusehen, wenn er einen Raum betritt, sondern durch sie hindurchzuschweben, als sei alles um ihn herum Kulisse. Starrer, aber flackernder Blick. Christina setzt zu einem "Haaaappy Birthday" an und bleibt die Einzige, die singt. Siggi sagt nichts, Horst dreht sich angewidert um, Solidarität gibt es auch im hohen Alter, und Angela spielt immer noch mit dem Gerät herum, das um ihren Hals baumelt.
Ihr liebster Opa rauscht an Christina vorbei, ignoriert sie und ihren Gesang und setzt sich auf seinen Sessel. Dafür benötigt er ungefähr zwei Minuten, also für das Hinsetzen, als wolle er den Moment auskosten und als bilde er sich ein, ein Publikum würde ihm applaudieren.
Christina eilt mit dem Kuchen heran, mittlerweile trägt sie einen lustigen Partyhut schief auf dem Kopf. Ihr liebster Opa hat es sich auf dem Sessel bequem gemacht, er blickt unruhig im Raum herum. Wo sind die Kameras, wo sind die Mikrophone?
Als ihm der Kuchen überreicht wird, ist er erfreut, aber ein Hanuta hätte auch gelangt, flüstert er Christina vielsagend und augenzwinkernd zu. Dieses Mädchen mag er. Wie sie da sitzt und ihm ihre Aufmerksamkeit schenkt, das ist etwas Besonderes. Er rückt seine Krawatte zurecht und deutet ihr an, sie möge sich doch neben ihn auf den Klappstuhl setzen.
"Wo waren wir beim letzten Mal stehen geblieben?" fragt er sie und ein Lächeln überhuscht sein Gesicht. Er liebt es, Christina von seinen Erfolgen und Erlebnissen zu berichten.
Und dann berichtet er. Von dem Jahr 2000, als er in Süddeutschland einen Titel gewann und alle ganz beeindruckt waren. Er berichtet davon, wie er einmal in einem Fernsehstudio saß und alle seine Kontrahenten in Grund und Boden diskutierte. Mit hochroten Köpfen hätten sie da gesessen und ihm zugeschaut, wie er, damals noch mit weißen Tennissocken, die Welt verrückt hätte. Die Großkopferten waren abgemeldet, er, der Youngster, gab den Ton vor und war am Ende der Zeit im Recht, weil erfolgreicher. Wie er danach alle Möglichkeiten genutzt hätte. Wie er dann auserkoren wurde, ein Amt mit bundesweiter Verantwortung zu übernehmen. Weil er so gut war. In allem. Wie er die Leute mitreißen konnte, wie er umwerfend war. Die Menschen wären für ihn durchs Feuer gegangen. Wie er neue Methoden entwickelte, die alle nachgemacht haben. Wie er der Vorreiter für die Leute aus Dortmund und Barcelona gewesen wäre. Wie er ein hessisches Unternehmen erfolgreich vor dem Absturz retten konnte. Wie er die Domplatte in Köln ins Wanken gebracht hätte, nur durch sein Erscheinen.
Er erzählt und berichtet, manchmal kommt ein ruhrdeutscher Klang in seine Sprache, wenn er, beinahe heiser, von seinem Leben erzählt. Dabei kommt er doch aus dem Osten, aber er sehe sich als Europäer, als Weltmann, dem eine schöne Stadt im deutschen Westen eine Herzensangelegenheit sei.
Horst dreht sich plötzlich um. Er hat alles mit angehört und ist entsetzt. Das stimmt doch alles nicht, was Du da erzählst! brüllt er dem Jubilar entgegen, doch der hört gar nicht mehr zu und ist ganz verträumt. Sag endlich die Wahrheit schreit Horst. Nur, weil das Internet abgeschafft wurde und Du meinst, niemand könnte das nachverfolgen, brauchst Du doch nicht so einen Unsinn zu verzapfen. Horst kriegt sich nicht mehr ein. Siggi ist nach wie vor still, beinahe paralysiert, Angela denkt an den Kirschwein.
"Hörst Du mich?" brüllt Horst mit bayerischer Stimme. "Du sollst aufhören, so einen Schwachsinn zu erzählen, Herrschaftszeiten! Sei endlich still, Christoph!"
Doch das Geburtstagskind lächelt Christina nur an. Die ist eh auf seiner Seite. Schließlich ist er ihr liebster Opa, und der hat immer recht.
Deswegen gehen meine Punkte an dood!
Mein Gegner ist TheDood, das ist sein Blog:
http://www.spox.com/myspox/group-blogdetail/Genesis,210122.html
Und Ihr dürft voten, was Euch besser gefallen hat.