11.02.2012 um 18:49 Uhr
Geschrieben von funkbarrio
Spielfrei zum 20er I/II
In wenigen Minuten fängt das Spiel an. Ganz Korsika fiebert seit zwei Wochen dem Anpfiff entgegen. Auf der neuen Tribüne schwenkt ein Meer aus Fahnen, es wird gesprungen und gesungen. Das berüchtigte Stadion von Furiani in Bastia hat den Gegnern immer schon Respekt eingeflößt. Heute wollen die 18.000 frenetischen Fans dem großen Marseille das Fürchten lernen. Es ist Halbfinal-Tag im französischen Pokal. Vor einer noch nie dagewesenen Rekordkulisse will der Sporting Club de Bastia das übergroße Marseille schlagen. Es ist das Spiel, dass den Zweitliga-Verein konsolidieren soll. Das Spiel für eine bessere Zukunft. Doch wird es niemals stattfinden. Um 20h20 beginnt die größte Fußballkatastrophe des Landes und Millionen Franzosen werden live vor dem Fernseher Zeuge sein.
Der inflationär benutzte Begriff der Katastrophe tritt in trauriger Regelmäßigkeit in Erscheinung. Flankiert von der hohen Anzahl Toter, Verletzter oder Vermisster. Ob Schiffsbrüche, Flugzeugabstürze, Sportunfälle, Massenpaniken oder Naturkatastrophen. Sie sind makabre Höhepunkte des allgemeinen Alltags. Momente der kollektiven Betroffenheit, der menschlichen Ohnmacht und medialer Treibjagden. Gepaart von Adrenalin, Ungläubigkeit und Sensationsgier wird ein Jeder zum Zeugen, verfolgt das Ereignis in Bildern und unter dem „Breaking News"-Banner im Live-Ticker. Pausengespräche mit Kollegen, Verschwörungstheorien unter Freunden, Verarbeitung mit der Familie am Essenstisch. Für eine kurze Weile hält sie im Bann, fesselt! Doch lässt die Katastrophe einmal los, liefert keine neuen Schlagzeilen, lässt sie der nächsten Nachricht Platz, schwindet ihre Präsenz, bis sie eines Tages nicht mal mehr im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft existiert. Einzig ein Jubiläum sorgt für einen kurzen Aufschrei: Da war ja was!
"Happy" Birthday, vergessener Tag
Ein solcher Gedenktag steht nun in Frankreich kurz bevor und wird dem Land zum zwanzigsten Mal in Erinnerung rufen, wie am 5. Mai 1992 achtzehn Menschen ihr Leben verloren und 2.357 verletzt wurden. Damals dachte ganz Europa, dass die schlimmsten Katastrophen in Fußballstadien bereits zurücklagen. Das vorangehende Jahrzehnt hatte für einige der tödlichsten Stadionunglücke gesorgt. So kamen bei der Massenpanik im Brüsseler Heysel-Stadion 39 Menschen um. Bereits zuvor hatte es im griechischen Piräus, im damals sowjetischen Moskau und im englischen Bradford mehrere Hundert Tote gegeben. Zum Ende der 80er Jahre gab es mit der Massenpanik von Sheffield und weiteren 95 Toten noch einen traurigen Höhepunkt. Strafen, heftige Diskussionen um die Sicherheit, Notfallpläne und der strengere Umgang mit Hooligans wähnten Europa in Sicherheit. Natürlich kam es anders. Das haben Katastrophen so an sich. Erst recht kommen sie mit verlässlicher Gewissheit, wenn man sie herausfordert. Und so kam dann auch der 5. Mai 1992.
Zu diesem Zeitpunkt ist der korsische Club SC Bastia seit einigen Jahren in der Versenkung der zweiten französischen Liga versunken. Der Vereinshöhepunkt „UEFA-Pokal"-Finale liegt fast auf den Tag genau vierzehn Jahre zurück. Zwei Wochen zuvor qualifiziert sich Bastia im eigenen Stadion gegen den Erstligisten AS Nancy. Erst das Elfmeterschießen und drei Paraden von Bastia-Keeper Bruno Valencouny sichern das Weiterkommen nach hochdramatischem Spiel mitsamt zweier Aluminiumtreffern. Das alte, doch wenig ehrwürdige Stadion Furiani erbebt, Fans stürmen auf den Rasen, ganz Korsika feiert die Mannschaft. Bereits einen Tag später findet die Auslosung für das Halbfinale statt. Bastias Präsident Jean-Francois Filippi sitzt im Studio. Der Nachrichtensprecher Patrick Poivre d’Arvor zieht die Plastikkugeln, der legendäre französische Fußballkommentator Thierry Roland assistiert. Bastia wird gleich zu Beginn gezogen und hat somit Heimrecht. In den drei restlichen Plastikkugeln warten noch die Erstligisten AS Cannes, AS Monaco und der südfranzösische Spitzenklub Olympique Marseille als Gegner.
Die Mannschaft aus der Phönizierstadt Marseille ist zu dieser Zeit das Maß aller Dinge in Frankreich und eine der absoluten Topmannschaften Europas. In der Saison 91-92 ist man amtierender Meister und war im Jahr zuvor erst im Finale des Landesmeister-Pokals im Elfmeterschießen an Roter Stern Belgrad gescheitert. Spieler wie Jean-Pierre Papin, Didier Deschamps, Chris Waddle, Abedi Pélé oder Basile Boli sind nur einige der namhaften Spieler die zu dieser Zeit bei OM spielen. Es kommt wie es kommen muss: Bastia empfängt Marseille. Roland prophezeit nichtsahnend, dass Furiani „explodieren" wird. Filippi, der Präsident, erwägt bereits in der Minute nach der Auslosung live im TV eine Vergrößerung des Stadions. Für die kleine korsische Küstenstadt bedeutet die Auslosung das Spiel der Spiele. Ein Spiel mit der Note „David gegen Goliath" und einer Geheimwaffe namens Furiani.
Ein "Makeover" in Rekordzeit
Das Stadion Furiani liegt im gleichnamigen Vorort von Bastia. Es wird auch „Stade Armand Cesari" genannt. Cesari war Anfang des letzten Jahrhunderts Spieler und Kapitän des SC Bastia und gewann mit dem Verein sechsmal die korsische Meisterschaft und fünfmal den Pokal. Im Alter von gerade mal 33 Jahren, verstarb Cesari 1936, woraufhin das Stadien ab 1937 auf seinen Namen umgetauft wurde. Glaubt man den Augenzeugenberichten hat sich seither bis Anfang der 90er wenig getan. Bereits während des UEFA-Pokals-Spiels 1978 hatten sich die Spieler des FC Torino über den Zustand des bedeutendsten Stadions Korsikas gewundert. Es ist ein unangenehmes Stadion. Der Rasen ähnelt meist einem Acker, die Fans sind ganz nah am Spielfeldrand, die Katakomben und Tribünen wenig einladend.
Um, wie angekündigt, die Kapazität zu steigern, wird noch in der Folgenacht der Auslosung eine Haupttribüne dem Boden gleichgemacht, obwohl Marseilles Präsident Bernard Tapie Bastia anbietet, das Spiel in Marseille zu halten und die gesamten Einnahmen zur Verfügung zu stellen. Doch stolz und auf den Heimvorteil bedacht winkt man ab. In aller Eile organisiert man eine Stahlkonstruktion, die bereits kurz zuvor bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Albertville im Einsatz war. Es bleiben nur ein paar Tage, um die Tribüne für rund 10.000 Zuschauer hochzuziehen. Einige Firmen winken ab, eine ("Sud Tribune") sagt zu. Der Countdown läuft.
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Der inflationär benutzte Begriff der Katastrophe tritt in trauriger Regelmäßigkeit in Erscheinung. Flankiert von der hohen Anzahl Toter, Verletzter oder Vermisster. Ob Schiffsbrüche, Flugzeugabstürze, Sportunfälle, Massenpaniken oder Naturkatastrophen. Sie sind makabre Höhepunkte des allgemeinen Alltags. Momente der kollektiven Betroffenheit, der menschlichen Ohnmacht und medialer Treibjagden. Gepaart von Adrenalin, Ungläubigkeit und Sensationsgier wird ein Jeder zum Zeugen, verfolgt das Ereignis in Bildern und unter dem „Breaking News"-Banner im Live-Ticker. Pausengespräche mit Kollegen, Verschwörungstheorien unter Freunden, Verarbeitung mit der Familie am Essenstisch. Für eine kurze Weile hält sie im Bann, fesselt! Doch lässt die Katastrophe einmal los, liefert keine neuen Schlagzeilen, lässt sie der nächsten Nachricht Platz, schwindet ihre Präsenz, bis sie eines Tages nicht mal mehr im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft existiert. Einzig ein Jubiläum sorgt für einen kurzen Aufschrei: Da war ja was!
"Happy" Birthday, vergessener Tag
Ein solcher Gedenktag steht nun in Frankreich kurz bevor und wird dem Land zum zwanzigsten Mal in Erinnerung rufen, wie am 5. Mai 1992 achtzehn Menschen ihr Leben verloren und 2.357 verletzt wurden. Damals dachte ganz Europa, dass die schlimmsten Katastrophen in Fußballstadien bereits zurücklagen. Das vorangehende Jahrzehnt hatte für einige der tödlichsten Stadionunglücke gesorgt. So kamen bei der Massenpanik im Brüsseler Heysel-Stadion 39 Menschen um. Bereits zuvor hatte es im griechischen Piräus, im damals sowjetischen Moskau und im englischen Bradford mehrere Hundert Tote gegeben. Zum Ende der 80er Jahre gab es mit der Massenpanik von Sheffield und weiteren 95 Toten noch einen traurigen Höhepunkt. Strafen, heftige Diskussionen um die Sicherheit, Notfallpläne und der strengere Umgang mit Hooligans wähnten Europa in Sicherheit. Natürlich kam es anders. Das haben Katastrophen so an sich. Erst recht kommen sie mit verlässlicher Gewissheit, wenn man sie herausfordert. Und so kam dann auch der 5. Mai 1992.
Zu diesem Zeitpunkt ist der korsische Club SC Bastia seit einigen Jahren in der Versenkung der zweiten französischen Liga versunken. Der Vereinshöhepunkt „UEFA-Pokal"-Finale liegt fast auf den Tag genau vierzehn Jahre zurück. Zwei Wochen zuvor qualifiziert sich Bastia im eigenen Stadion gegen den Erstligisten AS Nancy. Erst das Elfmeterschießen und drei Paraden von Bastia-Keeper Bruno Valencouny sichern das Weiterkommen nach hochdramatischem Spiel mitsamt zweier Aluminiumtreffern. Das alte, doch wenig ehrwürdige Stadion Furiani erbebt, Fans stürmen auf den Rasen, ganz Korsika feiert die Mannschaft. Bereits einen Tag später findet die Auslosung für das Halbfinale statt. Bastias Präsident Jean-Francois Filippi sitzt im Studio. Der Nachrichtensprecher Patrick Poivre d’Arvor zieht die Plastikkugeln, der legendäre französische Fußballkommentator Thierry Roland assistiert. Bastia wird gleich zu Beginn gezogen und hat somit Heimrecht. In den drei restlichen Plastikkugeln warten noch die Erstligisten AS Cannes, AS Monaco und der südfranzösische Spitzenklub Olympique Marseille als Gegner.
Die Mannschaft aus der Phönizierstadt Marseille ist zu dieser Zeit das Maß aller Dinge in Frankreich und eine der absoluten Topmannschaften Europas. In der Saison 91-92 ist man amtierender Meister und war im Jahr zuvor erst im Finale des Landesmeister-Pokals im Elfmeterschießen an Roter Stern Belgrad gescheitert. Spieler wie Jean-Pierre Papin, Didier Deschamps, Chris Waddle, Abedi Pélé oder Basile Boli sind nur einige der namhaften Spieler die zu dieser Zeit bei OM spielen. Es kommt wie es kommen muss: Bastia empfängt Marseille. Roland prophezeit nichtsahnend, dass Furiani „explodieren" wird. Filippi, der Präsident, erwägt bereits in der Minute nach der Auslosung live im TV eine Vergrößerung des Stadions. Für die kleine korsische Küstenstadt bedeutet die Auslosung das Spiel der Spiele. Ein Spiel mit der Note „David gegen Goliath" und einer Geheimwaffe namens Furiani.
Ein "Makeover" in Rekordzeit
Das Stadion Furiani liegt im gleichnamigen Vorort von Bastia. Es wird auch „Stade Armand Cesari" genannt. Cesari war Anfang des letzten Jahrhunderts Spieler und Kapitän des SC Bastia und gewann mit dem Verein sechsmal die korsische Meisterschaft und fünfmal den Pokal. Im Alter von gerade mal 33 Jahren, verstarb Cesari 1936, woraufhin das Stadien ab 1937 auf seinen Namen umgetauft wurde. Glaubt man den Augenzeugenberichten hat sich seither bis Anfang der 90er wenig getan. Bereits während des UEFA-Pokals-Spiels 1978 hatten sich die Spieler des FC Torino über den Zustand des bedeutendsten Stadions Korsikas gewundert. Es ist ein unangenehmes Stadion. Der Rasen ähnelt meist einem Acker, die Fans sind ganz nah am Spielfeldrand, die Katakomben und Tribünen wenig einladend.
Um, wie angekündigt, die Kapazität zu steigern, wird noch in der Folgenacht der Auslosung eine Haupttribüne dem Boden gleichgemacht, obwohl Marseilles Präsident Bernard Tapie Bastia anbietet, das Spiel in Marseille zu halten und die gesamten Einnahmen zur Verfügung zu stellen. Doch stolz und auf den Heimvorteil bedacht winkt man ab. In aller Eile organisiert man eine Stahlkonstruktion, die bereits kurz zuvor bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Albertville im Einsatz war. Es bleiben nur ein paar Tage, um die Tribüne für rund 10.000 Zuschauer hochzuziehen. Einige Firmen winken ab, eine ("Sud Tribune") sagt zu. Der Countdown läuft.
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