05.07.2012 um 06:18 Uhr
Geschrieben von vanGaalsNase
Taktiktrends 2008-2012 II
4. kompaktes Zentrum
Aufgrund des extrem dominanten Spielstils des spanisch-katalanischen Tiqui-taca und des damit einhergehenden Fortschritts im allgemeinen Passspiel, wurden Verteidigungsstrategien entwickelt, die sich weg vom aktiven und ballorientierten Pressing hin zu einem eher passiven und stärker raumorientierten Deckungsverhalten nahe des eigenen Sechzehners entwickelten.
Während früher alle Glieder einer Viererkette Richtung Ball verschoben, um in seiner Nähe den Raum zu verengen,
geht mittlerweile nur noch der ballnahe Außenverteidiger auf den Ballführenden Gegenspieler. Die übrigen Verteidiger verbleiben im Zentrum und postieren sich tiefer. Gedoppelt wird dabei nicht.
Durch die stärkere Raumorientierung soll verhindert werden, dass die eigenen Abwehrreihen in Bewegung gebracht werden, wodurch sich zwangsläufig Räume öffnen, die für den finalen Pass genutzt werden können.
Einige Teams - wie etwa Italien im Vorrundenspiel der EURO gegen Spanien - stellen daher auf eine Dreierkette um, um so weitere Vorteile für das Defensiv-verhalten zu bekommen, indem man mit den sich zurückfallenlassenden Außenbahnspielern eine Fünferkette bildet und die Schnittstellen zwischen den einzelnen Spielern verengt. Wegen der tiefen und engen Stellung, sowie des geringeren Drucks gegen den Ball bewegt sich der Defensivverbund weniger und lässt kaum Lücken für einen finalen Pass zu.
Auffällig bei der Änderung im Defensivverhalten ist aber, dass mit Spanien und Italien die beiden EM-Finalisten das stärkste und höchste Pressing spielten. Obwohl der allgemeine Trend also Richtung passiver Raumdeckung geht, war das Pressing einer der Schlüssel zum Erfolg.
5. Rückkehr des Libero?
Italien nutzte gegen Spanien den spielstarken de Rossi im Zentrum der Dreierkette, während neben ihm die Zweikampfstarken Chiellini und Bonucci agierten. Ob de Rossi dabei als Libero agierte, ist eine falsche Herangehensweise an dieses taktische Element der Italiener. Denn der Libero ist der Wortherkunft nach "frei". Und zwar frei von der Aufgabe, einen direkten Gegenspieler zu decken, wie in der reinen Manndeckung. Italien spielte aber mit einer ball- und raumorientierten Dreierkette und nicht mit Manndeckung. Daher kann de Rossi unmöglich Libero gewesen sein. Dreierketten verteidigen immer ball- und raumorientiert, aber eben nicht in Manndeckung.
De Rossi als Libero zu bezeichnen, weil er eine ausgeprägte Ballsicherheit besitzt, ist ebenfalls fragwürdig. Auch hier zeigt sich nur, dass technisch und taktisch vielseitige Spieler verschiedene Positionen besetzen können. Bei Barca bekleidet auch Sergio Busquets als zentraler Mittelfeldspieler regelmäßig die Position des zentralen Spielers in der Dreierkette. Libero ist er damit nicht.
Schlussbetrachtung
Auf Grundlage des starken Kurzpassspiels soll der Zufall nun auch bei eigenem Ballbesitz verringert werden. Die Folge davon ist, dass es zu weniger Flanken von den Außen kommt, weil diese kaum zu berechnen sind. Ferner sorgt das kompakte Zentrum der zunehmend raumorientierten Defensive dafür, dass stets genügend Verteidiger im eigenen Strafraum sind, um mögliche Kopfballduelle erfolgreich zu gestalten. Dieser Umstand lässt Flanken noch unkalkulierbarer erscheinen.
Als Resultat daraus wird nunmehr vorwiegend durchs Zentrum angegriffen, was angesichts der ohnehin engen Mitte besondere Herausforderungen bedeutet. Der Einsatz inverser Außenspieler verstärkt das "flügellose Spiel", sodass Flanken in den Strafraum immer seltener genutzt und noch seltener zum Erfolg führen.
Im Umkehrschluss wird es den Defensivverbänden leichter gemacht, zu verteidigen. Man konzentriert sich aufs Zentrum und schickt höchstens einen Mann nach außen, um den Ball unter Druck zu setzen. Gedoppelt wird kaum noch. Das ist auch gar nicht nötig, wenn kaum geflankt wird.
Ausblick für die Zukunft
1. Grundformation und System
Nach wie vor gelten 4-5-1, 4-3-3, 4-4-2, 3-4-3 usw. als "taktische Formation". Insbesondere Kommentatoren wollen im Umgang mit taktischen Überlegungen sicher auftreten, wenn sie vor dem Anstoß eines Spiels aufzeigen können, wer wo spielt. Dabei haben solche Grundformationen eine viel geringere Bedeutung als die tatsächliche Ausrichtung. Der DFB spricht dabei vom "System".
Die Doppelsechs im 4-2-3-1 muss seine Anordnung bei eigenem Ballbesitz ändern, sodass mehr Linien entstehen, weshalb sich zunehmend auch das 4-1-4-1 etablierte. Ein zentral tiefstehender Mittelfeldspieler vor den beiden Innenverteidigern erlaubt mehr Variabilität im eigenen Spielaufbau als die Doppelsechs und gewährleistet eine ständige Absicherung nach hinten, indem er mit den Innenverteidigern eine Dreierkette bildet. Aus diesem Grund sind auch die Unterscheidungen zwischen 4-5-1 (4-1-4-1, 4-2-3-1) und 4-3-3 verschwommen, wodurch die Grundformation unerheblich wird.
Allerdings gehen damit auch große Herausforderungen für die Spieler einher, weil die Situationen viel komplexer werden, was ein entsprechendes Reagieren und Lösen derselben erschwert. Immer wieder wechseln Spieler Positionen und lassen Linien entstehen, indem sie sich zwischen denen des Gegners bewegen. Darauf zu reagieren, ohne in Unordnung oder pure Überforderung zu verfallen, ist da nicht immer leicht, wie jüngst Mats Hummels und Jerome Boateng vor dem 1:0 gegen Italien erfahren mussten, als sie die Situation unterschiedlich bewerteten und dementsprechend unterschiedlich lösen wollten. Während Hummels den Ballführer (Cassano) unter Druck setzt, wartet Boateng ab. Für sich genommen, sind beide Varianten korrekt; in Summe ergeben sie einen groben Fehler.
Die Ausbildung von Fußballern wird daher noch intensiver im Hinblick auf die Ball- oder Raumorientierung ausgerichtet werden müssen. Dadurch wird entweder der Ort des Balles zum Zentrum aller taktischen Überlegungen und Handlungen, sodass nicht abgewartet, sondern ständig Druck ausgeübt wird. Oder aber das Zentrum wird Priorität erlangen und es wird verhindert, dass der Ball dort vom Gegner kontrolliert werden kann.
Ist eine klare Orientierung erfolgt, ist es auch nicht mehr wichtig, ob man mit oder gegen eine Dreierkette oder Doppelspitze spielt. Soll heißen: die Bewegungen der Gegenspieler werden zweitrangig, solange genügend Druck gegen den Ball besteht bzw. solange der Raum optimal besetzt ist.
Teil 3
Aufgrund des extrem dominanten Spielstils des spanisch-katalanischen Tiqui-taca und des damit einhergehenden Fortschritts im allgemeinen Passspiel, wurden Verteidigungsstrategien entwickelt, die sich weg vom aktiven und ballorientierten Pressing hin zu einem eher passiven und stärker raumorientierten Deckungsverhalten nahe des eigenen Sechzehners entwickelten.
Während früher alle Glieder einer Viererkette Richtung Ball verschoben, um in seiner Nähe den Raum zu verengen,
geht mittlerweile nur noch der ballnahe Außenverteidiger auf den Ballführenden Gegenspieler. Die übrigen Verteidiger verbleiben im Zentrum und postieren sich tiefer. Gedoppelt wird dabei nicht.
Durch die stärkere Raumorientierung soll verhindert werden, dass die eigenen Abwehrreihen in Bewegung gebracht werden, wodurch sich zwangsläufig Räume öffnen, die für den finalen Pass genutzt werden können.
Einige Teams - wie etwa Italien im Vorrundenspiel der EURO gegen Spanien - stellen daher auf eine Dreierkette um, um so weitere Vorteile für das Defensiv-verhalten zu bekommen, indem man mit den sich zurückfallenlassenden Außenbahnspielern eine Fünferkette bildet und die Schnittstellen zwischen den einzelnen Spielern verengt. Wegen der tiefen und engen Stellung, sowie des geringeren Drucks gegen den Ball bewegt sich der Defensivverbund weniger und lässt kaum Lücken für einen finalen Pass zu.
Auffällig bei der Änderung im Defensivverhalten ist aber, dass mit Spanien und Italien die beiden EM-Finalisten das stärkste und höchste Pressing spielten. Obwohl der allgemeine Trend also Richtung passiver Raumdeckung geht, war das Pressing einer der Schlüssel zum Erfolg.
5. Rückkehr des Libero?
Italien nutzte gegen Spanien den spielstarken de Rossi im Zentrum der Dreierkette, während neben ihm die Zweikampfstarken Chiellini und Bonucci agierten. Ob de Rossi dabei als Libero agierte, ist eine falsche Herangehensweise an dieses taktische Element der Italiener. Denn der Libero ist der Wortherkunft nach "frei". Und zwar frei von der Aufgabe, einen direkten Gegenspieler zu decken, wie in der reinen Manndeckung. Italien spielte aber mit einer ball- und raumorientierten Dreierkette und nicht mit Manndeckung. Daher kann de Rossi unmöglich Libero gewesen sein. Dreierketten verteidigen immer ball- und raumorientiert, aber eben nicht in Manndeckung.
De Rossi als Libero zu bezeichnen, weil er eine ausgeprägte Ballsicherheit besitzt, ist ebenfalls fragwürdig. Auch hier zeigt sich nur, dass technisch und taktisch vielseitige Spieler verschiedene Positionen besetzen können. Bei Barca bekleidet auch Sergio Busquets als zentraler Mittelfeldspieler regelmäßig die Position des zentralen Spielers in der Dreierkette. Libero ist er damit nicht.
Schlussbetrachtung
Auf Grundlage des starken Kurzpassspiels soll der Zufall nun auch bei eigenem Ballbesitz verringert werden. Die Folge davon ist, dass es zu weniger Flanken von den Außen kommt, weil diese kaum zu berechnen sind. Ferner sorgt das kompakte Zentrum der zunehmend raumorientierten Defensive dafür, dass stets genügend Verteidiger im eigenen Strafraum sind, um mögliche Kopfballduelle erfolgreich zu gestalten. Dieser Umstand lässt Flanken noch unkalkulierbarer erscheinen.
Als Resultat daraus wird nunmehr vorwiegend durchs Zentrum angegriffen, was angesichts der ohnehin engen Mitte besondere Herausforderungen bedeutet. Der Einsatz inverser Außenspieler verstärkt das "flügellose Spiel", sodass Flanken in den Strafraum immer seltener genutzt und noch seltener zum Erfolg führen.
Im Umkehrschluss wird es den Defensivverbänden leichter gemacht, zu verteidigen. Man konzentriert sich aufs Zentrum und schickt höchstens einen Mann nach außen, um den Ball unter Druck zu setzen. Gedoppelt wird kaum noch. Das ist auch gar nicht nötig, wenn kaum geflankt wird.
1. Grundformation und System
Nach wie vor gelten 4-5-1, 4-3-3, 4-4-2, 3-4-3 usw. als "taktische Formation". Insbesondere Kommentatoren wollen im Umgang mit taktischen Überlegungen sicher auftreten, wenn sie vor dem Anstoß eines Spiels aufzeigen können, wer wo spielt. Dabei haben solche Grundformationen eine viel geringere Bedeutung als die tatsächliche Ausrichtung. Der DFB spricht dabei vom "System".
Die Doppelsechs im 4-2-3-1 muss seine Anordnung bei eigenem Ballbesitz ändern, sodass mehr Linien entstehen, weshalb sich zunehmend auch das 4-1-4-1 etablierte. Ein zentral tiefstehender Mittelfeldspieler vor den beiden Innenverteidigern erlaubt mehr Variabilität im eigenen Spielaufbau als die Doppelsechs und gewährleistet eine ständige Absicherung nach hinten, indem er mit den Innenverteidigern eine Dreierkette bildet. Aus diesem Grund sind auch die Unterscheidungen zwischen 4-5-1 (4-1-4-1, 4-2-3-1) und 4-3-3 verschwommen, wodurch die Grundformation unerheblich wird.
Allerdings gehen damit auch große Herausforderungen für die Spieler einher, weil die Situationen viel komplexer werden, was ein entsprechendes Reagieren und Lösen derselben erschwert. Immer wieder wechseln Spieler Positionen und lassen Linien entstehen, indem sie sich zwischen denen des Gegners bewegen. Darauf zu reagieren, ohne in Unordnung oder pure Überforderung zu verfallen, ist da nicht immer leicht, wie jüngst Mats Hummels und Jerome Boateng vor dem 1:0 gegen Italien erfahren mussten, als sie die Situation unterschiedlich bewerteten und dementsprechend unterschiedlich lösen wollten. Während Hummels den Ballführer (Cassano) unter Druck setzt, wartet Boateng ab. Für sich genommen, sind beide Varianten korrekt; in Summe ergeben sie einen groben Fehler.
Die Ausbildung von Fußballern wird daher noch intensiver im Hinblick auf die Ball- oder Raumorientierung ausgerichtet werden müssen. Dadurch wird entweder der Ort des Balles zum Zentrum aller taktischen Überlegungen und Handlungen, sodass nicht abgewartet, sondern ständig Druck ausgeübt wird. Oder aber das Zentrum wird Priorität erlangen und es wird verhindert, dass der Ball dort vom Gegner kontrolliert werden kann.
Ist eine klare Orientierung erfolgt, ist es auch nicht mehr wichtig, ob man mit oder gegen eine Dreierkette oder Doppelspitze spielt. Soll heißen: die Bewegungen der Gegenspieler werden zweitrangig, solange genügend Druck gegen den Ball besteht bzw. solange der Raum optimal besetzt ist.
Teil 3
Aufrufe: 3944 | Kommentare: 3 | Bewertungen: 5 | Erstellt:05.07.2012
ø 8.0
KOMMENTARE
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08.07.2012 | 16:44 Uhr
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Alles in allem würde ich schon sagen, dass Deutschland noch das ein oder andere Defizit gegenüber Italien hat, das nicht zu Unrecht als DIE Taktiknation gilt (früher mit den Niederlanden, heute mit Spanien). Aber trotzdem hat Deutschland ein sehr hohes Niveau in diesem Bereich.
Zu 2. Wenn der Gegner den Ball über die Mittellinie gebracht hat, verteidigen wohl alle Teams tiefstehend. Aber wenn der Gegner kontrolliert von hinten aufbaut, versuchen Spanien und Italien schon deutlich früher als der Rest, zu stören. Der Großteil der übrigen Teams stellte sich ja sofort hinten rein.
Zu 3. Dieser Punkt hängt mit Punkt 2 zusammen. Ist der Gegner nah am defensiven Tor, rückt nur noch ein AV raus. Die anderen Spieler halten die Mitte besetzt. Ist der Ball etwa noch auf Höhe der Mittellinie, wird durchaus gedoppelt. Da sich viele Mannschaften aber gleich tief positionieren, ist das ein seltener Anblick; zumindest bei der vergangenen EM.
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07.07.2012 | 21:39 Uhr
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ein paar Kritikpunkte habe ich:
1. Ich denke niht, dass die Italiener taktikstärker sind als die Deutschen. Wie kommst du da drauf? Das mit einem Spiel, welches durch einen individuellen Fehler in seine Bahnen gelenkt wurde festzumachen finde ich nicht richtig.
2. Italien und Spanien waren nicht die am stärksten pressenden Teams. Sie haben sich phasenweise genau wie andere Teams zurückgezogen.. Schau dir nochmal das Spiel Portugal gegen SPanien an, da hat Portugal beispielsweise auch stark gepresst.
3. Der Aspekt, dass Doppeln nicht nötig ist ist meines Erachtens nicht richtig und auch nicht realitätsnah. Es wird gedoppelt, verschiedene Taktikkonzepte wollen jedoch, dass der IV doppelt, andere dass der 6er doppelt, andere, dass der offensive Außen doppelt. Gedoppelt wird in Strafraumnähe auf den Außen jedoch glaube ich so gut wie immer.
4. Dein drittletzer Absatz interpretierst du auf Spielerebene finde ich zu viel in ein System hinein.
Die Situation mit Hummels und Boateng war keinesfalls Systemgeschuldet. Dass ein Spieler auf Außen den Ball relativ frei führt und dann ein Spieler einläuft, der den Ball bekommt. Das passiert in jedem System ab und zu ... Auch dein Schluss, dass für sich genommen beide Varianten korrekt sind, das ist meiner Meinung nach schlicht falsch. Abwarten und den Weg zum Tor dicht machen ist hier egal in welchem Spielsystem oder in welchem Jahrhndert die richtige Lösung, da keine Notwendigkeit eines schnellen Ballgewinns durch den IV besteht, wenn da noch andere Spieler dabei sind.
Trotzdem ein Lob von mir !
Man muss ja nicht immer und in allem einer Meinung sein!
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Beide Varianten sind demnach korrekt, wenn man sie jeweils rigoros umsetzt. Sie funktionieren aber nicht zusammen, wenn man sie addiert. Das ist dann nicht konsequent und öffnet dem Gegner Räume. Diese Inkonsequenz beider Varianten war der Fehler gegen Italien.
Aber wie du ja sagst: man kann darüber geteilter Meinung sein. Ich erhebe keinen Anspruch auf Unfehlbarkeit. Erst, wenn ich Papst bin