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27.08.2012 um 13:30 Uhr
Geschrieben von Zac
Wie Jägi auf nüchternen Magen
Wann ist der Zeitpunkt gekommen, ab dem man die Leistung einer Fußballmannschaft als unverschämt bewerten darf? Hängt sicherlich von diversen Umständen ab: Wie hat sich das Team in den Spielen zuvor verkauft? Wie brisant ist die Begegnung? Geht es um die berühmte Wurst? Ein Derby vielleicht? Wie viel stärker ist der Gegner auf dem Papier?

Über diese Fragen grübelte ich also am vergangenen Samstagnachmittag. Die Zeit dazu hatte ich allemal, da dem seichten Gekicke auf dem Rasen auch ohne volle Aufmerksamkeit problemlos gefolgt werden konnte. Ein Blick in die Runde machte mir klar: Die meisten Schaulustigen, die mit mir an diesem Nachmittag in der Hamburger IMTECH-Arena saßen, hatten längst ihre Antwort gefunden. Das daraus resultierende Pfeifkonzert ergänzte dieses Trauerspiel in zwei Akten. Aber der Reihe nach.

Es war kurz nach 15 Uhr, als ich und mein Kollege die Eintrittskarten an der HSV-Tickebox abholten. Drei Stunden zuvor hatten wir spontan entschieden, den Saisonauftakt des Hamburger Sportvereines live zu verfolgen. Mein erster Besuch eines HSV-Heimspiels. Es musste schnell gehen: Keine Zeit zum Mittagessen – direkt in den Zug gen Hamburg. So standen wir also kurz vor Anpfiff vor der IMTECH-Arena. Mein Kollege – seines Zeichens HSV-Fan – und ich – als Schalker bei diesem Spiel ein ehrlich neutraler Zuschauer. Ich wollte ein flottes Spiel sehen, vielleicht ein paar Tore. Ob nun HSV oder Nürnberg gewinnt, tangierte mich nicht wirklich. Ich ahnte zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, dass es einen Spielverlauf geben könnte, bei dem sogar ich mich später als Verlierer fühlen würde.

Nach dem üblen Pokal-Aus in Karlsruhe stand der HSV beim vermeintlich dankbaren Heimspiel-Auftakt gegen den Club in der Pflicht. Schon in der S-Bahn auf dem Weg zum Stadion schnappte ich diverse Gespräche von den Hamburger Fans auf, die trotz der verkorksten Vorsaison optimistisch ins erste Spiel gingen. „Den Club putzen wa heut'", war sich ein Kuttenträger sicher. Gekleidet in den Trikots von Barbarez, Yeboah und Albertz erinnerten mich viele der Anhänger an die besseren Zeiten des HSV.

Während der Zugfahrt kauften ich und mein Kollege einem feiernden Junggesellen noch zwei Jägermeister ab. Trotz fehlender Grundlage – das Mittagessen fiel ja aus Zeitmangel aus – hieß es auf dem Weg zur Arena: „Runter damit!" Dieser Schluck, den Ihr sicher alle kennt, sollte alles widerspiegeln, was später auf dem Platz folgen sollte. Ein Spiel wie Jägermeister auf nüchternen Magen.

Kurze Zeit später saß ich also auf der Westtribüne des Stadions. Lotto King Karl besang vor der Nordkurve zum wiederholten Mal seine Liebe zu Stadt und Verein. Dass die Stimmung zu diesem Zeitpunkt schon ihren Höhepunkt erreicht hatte, wurde mir erst später klar.

Während sich meine Sitznachbarn noch darüber echauffierten, dass Maxi Beister nicht von Beginn an ran durfte, pfiff der Schiedsrichter die Partie an. Einen Spielbericht spare ich mir an dieser Stelle. Nur soviel: Die Zusammenfassungen in der Sportschau oder dem Sportstudio konnten das schwache Niveau der Partie nicht annähernd wiedergeben. Aber kein Vorwurf an die Reporter. Man hätte lediglich mit einer viertelstündigen „Fehlpass-Compilation" einen Eindruck erzeugen können. Ergänzt durch Standbilder von Markus Berg. Ergänzt durch verzweifelte und uninspirierte Pass-Staffeten zwischen Verteidigung und defensivem Mittelfeld. Ergänzt durch die seltenen Torchancen, die ich dem HSV nicht in Abrede stellen möchte, wenngleich diese auch nicht aus einem Kombinationsspiel entstanden.

Und dann stellte ich mir wieder diese Fragen: Wie kann es sein, dass dich eine Partie als neutraler Zuschauer so frustriert? Natürlich hatte ich einen nicht unerheblichen Preis für mein Ticket bezahlt. Eine Erwartungshaltung hatte ich sicher auch aufgebaut: Bundesliga-Niveau. Ich bezahle ja auch nicht für ein namhaftes Musical, bei dem der Hauptdarsteller im Stimmbruch und mit Texthängern auf der Bühne krächzt. Doch wenn weder Innenverteidiger noch Sechser in der Lage sind, ein Spiel in irgendeiner Weise zu eröffnen, dann ist das schon ein starkes Stück – oder eben genau das Gegenteil davon. Schlechten Fußball kann ich auch kostenfrei auf dem Dorfplatz nebenan sehen.

Mein Klagen ist an dieser Stelle – im Gegensatz zum Spiel am Samstag – auf hohem Niveau. Schließlich bin ich nicht einmal HSV-Fan. Ich hänge nicht mit dem Herz an diesem Team und muss mir keine Sorgen machen, wo das alles enden könnte. Sicher steht man noch am Anfang der Saison. Lediglich ein Spiel ist verloren. Einen schlechten Tag im Kollektiv hatten auch schon andere Mannschaften. Dennoch werde ich nach diesem Spiel das Gefühl nicht los, dass es keinen Akteur gibt, an dem sich Mitspieler oder Fans hochziehen könnten. Adler vielleicht. Der kann als Keeper aber auch nicht den Ball fordern und vorantreiben. Spieler, die sonst führen könnten, haben derzeit genug mit ihrem eigenen Spiel zu kämpfen. Doch nicht mal diesem Kampf scheinen sie sich derzeit zu stellen.

Man hatte am Samstag das Gefühl, dass jeder Spieler froh war, wenn er den Ball unfallfrei abgegeben hat. Bloß keine Fehler machen, bloß kein Risiko. Kreativität und Spielwitz bleiben da zwangsläufig auf der Strecke. Erfolge leider auch. So konnte ich auch nur schwer nachvollziehen, warum die offensiven Rudnevs und Beister (zuvor kam lediglich der defensivere Tesche unter Pfiffen ins Spiel) erst so spät in die Partie geworfen wurden. Berg drängte sich die vollen 90 Minuten für eine Auswechslung auf, auch Sala hätte man längst zur Pause vom Platz nehmen können.

Quo vadis, HSV?
Mit Jiracek und Badelj sind zwei Spieler im Anflug, die das Team gewiss verstärken. Ich wünsche es dem HSV und ihren leidgeprüften Anhängern sogar. Auf meinem Rückweg geisterte am Sonnabend immer wieder der Name eines gewissen Holländers durch den Zug, unter dem alles besser werden würde. „Es gibt also doch einen Spieler, an dem sich zumindest einige Fans hochziehen können", fiel mir ein. Aber auch das wird maximal noch eine Woche andauern, da dann das Transfenster geschlossen ist – und van der Vaart immer noch in Tottenham kicken wird.

Als ich eine Nacht über die Partie geschlafen hatte und am Sonntagmorgen den Fernseher anschaltete, hatte ich die Wahl: Nochmals die HSV-Nürnberg-Wiederholung bei "Bundesliga Pur" oder die "Titanic"-Wiederholung auf Sat1. Bei beiden Übertragungen kannte ich bereits das Ende. Ich zappte ein paar Mal hin und her. Während ich mir etwas zu essen aus der Küche holte, betrat meine Freundin das Wohnzimmer. Als ich wieder zurückkehrte, hatte sie längst auf eine Tierdokumentation umgeschaltet. "Was schaust du dir nur immer für Sachen an?", fragte sie mich. "Das war ja das Traurigste, was ich je gesehen habe." Ich erinnerte mich nicht, ob ich zuletzt Fußball oder Titanic eingeschaltet hatte. Ich fragte auch nicht mehr nach.
Aufrufe: 4543 | Kommentare: 11 | Bewertungen: 8 | Erstellt:27.08.2012
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