Man gilt gemeinhin ja eher als old-school, wenn man Fußball vor allem oder nicht zuletzt auch der Tore wegen schaut. Fußball sei doch so viel mehr als das bloße Platzieren des Balles im gegnerischen Gehäuse. Taktik, Systeme, Rochaden, Raumgewinn, Laufwege, Spielzüge - all das gebe dem Sport doch so viel Reiz, dass man ihn nicht auf das Erzielen von Toren reduzieren dürfe. Wer Fußball mit Toren verbindet, sei schon etwas ignorant.
In diesem Sinne lasse ich den Vorwurf der Ignoranz und der Antiquiertheit gerne gegen mich gelten. Aber diese Europameisterschaft gefällt mir bislang nicht wirklich. Natürlich insbesondere wegen der sie begleitenden Ausschreitungen und Gewalteskapaden, die mehr sind als nur ein trauriger Randaspekt. Aber auch die maue Trefferbilanz ernüchtert mich. Gerade einmal 47 Buden sind an den ersten beiden Gruppenspieltagen gefallen - dies entspricht einer enttäuschenden Quote von 1,96 Treffern pro Spiel. Torfestivals sind bei diesem Turnier die absolute Ausnahme. Gerade einmal zwei Mannschaften gelang an den ersten beiden Spieltagen das Kunststück, mehr als zwei Treffer in einem Spiel zu erzielen. 1:0 oder das fast schon kantersiegverdächtige 2:0 sind das Standardergebnis der Euro 2016. Wahrscheinlich wird alles im Laufe der weiteren Spiele noch ganz anders. Doch für den Moment bleibt die Frage nach den Gründen für die Torarmut der Europameisterschaft. Woran also liegt es? Hier ein paar mögliche Erklärungen:
- Das Spielsystem: 16 der 24 teilnehmenden Mannschaften (also exakt zwei Drittel) erreichen das Achtelfinale. Die Vorrunde nicht zu überstehen, gleicht einem fragwürdigen Kunststück. Wer kann sich da schon richtig motivieren und in den ersten Spielen Vollgas geben. Frei nach dem Motto: Was sollen wir uns denn anstrengen, ins Achtelfinale kommen wir ja eh. Das demotiviert natürlich insbesondere die Offensivabteilungen, die aus Mangel an echter Herausforderung ihren Dienst schon mal zeitweise einstellen oder aber jedenfalls die nötige Ernsthaftigkeit vermissen lassen. Jogi Löw kennt das Problem.
- Die Torhüter: Ja, die Keeper dieser EM sind echte Granaten. Kraken, Katzen, Tausendsassa, die die Kugel einfach nicht ins eigene Netz lassen. Manuel Neuer, Gigi Buffon, David de Gea - allesamt überirdische Hexer, die die Wahrscheinlichkeit eines Torerfolges in den Nano-Prozentbereich sinken lassen. Ihnen gegenüber stehen mit David Ward, Joe Hart und Etrit Berisha jedoch auch Kollegen aus der Kategorie "Teilzeit-Keeper", die mit lustigen Slapstick-Einlagen manch Torerfolg erst ermöglicht haben.
- Die neuen Regeln: Neben manch kurioser Regeländerung, die zum Beispiel das häufige Phänomen eines Eigentores nach eigenem Eckball betreffen, wurde auch eine ganz zentrale Bestimmung fundamental neu geordnet. So muss der Anstoß nunmehr nicht mehr nach vorne ausgeführt werden. Was vordergründig nach einer zu vernachlässigenden Änderung klingt, die nichts mit der Trefferhäufigkeit zu tun hat (wie viele Tore fallen schon nach einem Anstoß?), könnte der Schlüssel zur Erklärung der jüngsten Torflaute sein. Man bedenke nämlich den psychologischen Effekt: Wenn man schon den ersten Ball zurückspielt/zurückspielen darf, signalisiert dies dem für den Offensivgeist zuständigen Teil der linken Kleinhirnrinde (sog. Cortex hrubeschensis), erst einmal auf Sparflamme zu arbeiten und von erhöhter Tätigkeit abzusehen. Der wissenschaftliche Nachweis steht allerdings noch aus.
- Das Packing: Wie wir seit dieser EM wissen, kommt es im Fußball nicht mehr auf Torchancen, Ballbesitz und Zweikampfwerte, sondern auf das Packing an. Wer wirklich erfolgreich sein und Buden erzielen will, der muss möglichst viele gegnerischer Spieler überspielen. Allerdings - und da liegt das allgemeine Missverständnis - genügt es nicht, den Ball am Gegner vorbeizuspielen. Er muss, diese Erkenntnis hat sich bislang noch nicht verbreitet, zudem auch die gegnerische Torlinie überqueren, und zwar möglichst zwischen den beiden Pfosten. Oder Stangerln, wie der Österreicher sagt. Cristiano Ronaldo kennt das Problem.
- Italien: Wenn wenig Tore fallen, geht dies eigentlich traditionell immer auf das Konto der Squadra Azzura. Zwar hat diese in dem Turnier schon drei Treffer erzielt (was weit über dem Durchschnitt liegt). Doch die Aura des kompromisslosen Catenaccio ist einfach so verzückend und ansteckend, dass sich die anderen teilnehmenden Nationen ihr einfach nicht entziehen können und sie fast zwanghaft in ihrem eigenen Spiel verinnerlichen. Letztlich geht aber eben nichts über das Original. So gab es zur Pause der Partie zwischen Italien und Schweden sage und schreibe drei Torschüsse. Und dabei war das Einschießen der beiden Keeper vor Anpfiff bereits miteingerechnet.
- Gibraltar: Überzeugt unmittelbar: Hätte sich Gibraltar für diese Europameisterschaft qualifiziert, wären zum jetzigen Zeitpunkt schon geschätzte 15 Treffer mehr gefallen. Was die Torquote entscheidend nach oben gehievt hätte. Aber Gibraltar wollte ja nicht. Danke auch!
- Sepp Blatter und Michel Platini: Vielleicht haben sie die Kugeln vor der Endrunden-Auslosung zu stark angeheizt. Vielleicht haben sie den Befehl zu allgemeiner Askese erteilt. Vielleicht haben sie ihr schlechtes Karma über ihre dunklen Kanäle auf das Turnier übertragen. Wie auch immer sie es gemacht. Im Zweifel geht auch dieses Ding wieder auf ihr Konto.
- Der Fußballgott: Bekanntlich die zweithöchste Instanz - nach Sepp Blatter. Und deshalb wenigstens mitverantwortlich.
Zugegeben, alle diese Hypothesen haben gewisse Schwächen. Aber Fußball ist und bleibt ein Mysterium. Aber vielleicht habt Ihr ja noch ganz andere Erklärungen...
Bisher gab es kaum offene Partien, da ein Unentschieden völlig gereicht hat, um die Chancen aufs Weiterkommen am Leben zu halten.
Das spielt den kleinen Nationen in die Karten, denn wenn sie auf Sieg spielen müssen, dann fehlt meistens die Qualität dazu. Verteidigen können dagegen fast alle. Erst jetzt am dritten Spieltag können sich nur noch wenige Teams mit einem Unentschieden zufrieden geben.
Aber: Um ansehnlichen und torreichen Fußball zu spielen, brauchst du eben Zeit - oder der Großteil der Spieler muss aus einem Klub kommen und der Rest sich schnellstmöglich anpassen oder wird eben nicht eingeladen. Es ist jedenfalls ganz sicher kein Zufall, dass ausgerechnet Spanien und Italien ihre Spielideen am besten durchsetzen, die eben das spielen, was sie gefühlt seit 20 Jahren machen und von den ersten Tagen im Verein erlernen.
Der Rest kommt, nicht zuletzt ob der Graupen in den Gruppen, durch Einzelaktionen ihrer Stars zum Sieg - oder eben, im Fall von Ronaldo und Portugal - in Probleme.
Es wird sich zeigen, was passiert, je länger die Euro läuft und je besser Mannschaften wie Frankreich, Deutschland, Belgien und England sich einspielen konnten, zudem sind die Graupen ja im Viertelfinale dann hoffentlich draußen, was auch die mentale Herangehensweise ändern dürfte. Bis ins Achtelfinale hinein sehe ich aber schwarz ...