Ein Raubtier mit vielen Zähnen

Von Adrian Franke
01. Februar 201719:24
Die Offense der Atlanta Falcons war die imt Abstand beste dieser Saisongetty
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Die Atlanta Falcons stellen die fraglos beste Offense dieser Saison - und womöglich sogar darüber hinaus. Einige der Zahlen sind historisch, die Offense von Coordinator Kyle Shanahan besticht durch Vielfalt, spektakuläre Play-Designs und attackiert die Schwächen ihrer Gegner gezielt. Doch wie funktioniert das im Detail? Vor dem Super Bowl gegen die New England Patriots (Montag, 0.30 Uhr live auf DAZN) erklärt SPOX die Falcons-Offensive.

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"Ich bin wirklich stolz auf ihn", schwärmte Atlantas Head Coach Dan Quinn nach dem Sieg im Championship Game gegen die Green Bay Packers von seinem Offensive Coordinator Kyle Shanahan. "Er hat den Nagel auf den Kopf getroffen."

44:21 hieß es am Ende, und das wohl auch nur, weil die Falcons in der zweiten Hälfte ein wenig den Fuß vom Gas genommen hatten. 271 Passing-Yards legte Quarterback Matt Ryan alleine in der ersten Hälfte auf, verteilte den Ball dabei auf neun verschiedene Receiver und verzeichnete drei Touchdown-Pässe.

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Es folgten lediglich noch sechs Passversuche in der zweiten Hälfte, in der Atlanta mit seinem Running Game eher darum bemüht war, Zeit von der Uhr zu nehmen. Wirklich überrascht war kaum jemand von Atlantas 44 Punkten. Dass die Defense Aaron Rodgers über weite Strecken kontrollieren konnte, das war die Überraschung - die Falcons-Offense dagegen? Fast Business as usual.

Vielleicht ist das das größte Kompliment. Im Laufe der Saison haben wir uns daran gewöhnt, dass Defenses gegen Atlantas Offense schlicht überfordert sind: Die Falcons knackten elf Mal die 30-Punkte-Marke (fünfthöchster Wert in der NFL-Geschichte) und legten fünf Mal mindestens 40 Punkte auf (der NFL-Rekord liegt bei sechs). Im Mittelpunkt von alledem: Das wohl am besten zusammengestellte und aufeinander abgestimmte Passing Game, das die NFL seit einer ganzen Weile gesehen hat.

1. Das Passspiel - Feuern aus allen Rohren

"Es ist ganz anders, als das, was ich davor kannte", wurde Ryan vonThe Ringer nach dem Einzug in den Super Bowl zitiert. "Die Play-Calls sind länger und es ist enorm wichtig, alle Details zu verstehen und sicherzustellen, dass alles am richtigen Platz ist. Ich hatte das Gefühl, dass wir einige wirklich tolle Dinge erreichen könnten, sobald wir uns alle aneinander gewöhnt haben."

Das war eindrucksvoll zu sehen: Atlanta beendete die Regular Season mit 40,53 Yards pro Drive (Platz eins), 3,06 Punkten pro Drive (1.) und nur 0,06 eigenen Turnovern pro Drive (2.). Ryan selbst verzeichnete dabei 9,26 Yards pro Passversuch, der höchste Wert aller Zeiten für Quarterbacks mit mindestens 400 Pässen, und der insgesamt höchste Wert seit Kurt Warner und der "Greatest Show on Turf" in St. Louis 2000.

Das Verstecken der Waffen:

Eine dafür allerdings ebenfalls essentielle Statistik: Atlanta führte die Liga auch was Yards nach dem Catch angeht an, und daran hat Shanahan einen riesigen Anteil. Die Route-Designs der Falcons-Receiver nämlich zielen darauf ab, füreinander Platz zu schaffen und Gegnern das Verteidigen gegen den Spielzug als Ganzes möglichst schwer zu machen.

Dabei fällt vor allem ein Stilmittel immer wieder auf - die Falcons schaffen es mit großer Regelmäßigkeit, ihre für den jeweiligen Spielzug primäre Anspielstation in gewisser Weise zu "verstecken". Bedeutet: Beispielsweise aus Stack- oder Bunch-Formations - also Aufstellungen, in denen mehrere Receiver direkt beieinander stehen - läuft mindestens ein Receiver eine vertikale Route, während in dessen Rücken ein anderer, meist etwas tiefer platzierter Receiver, eine horizontale Route läuft.

Der Effekt daraus ist erstaunlich: Defenses müssen einerseits den tiefen Pass respektieren, gegen diese Offense ohnehin. Darüber hinaus allerdings kreiert es Räume für die so über das Scheme "freigeblockten" Receiver, deren Gegenspieler meist einen Umweg laufen müssen, um sie zu erreichen.

Das kann auch später in der Route stattfinden, etwa wenn ein Spieler eine Crossing-Route über die Mitte läuft, während ein anderer Spieler einige Yards weiter downfield in die entgegengesetzte Richtung läuft - und so einem zentral postierten Safety den Weg versperrt.

All das ist exakt so geplant, genau wie die sogenannten Switch-Routes, ein weiteres äußerst auffälliges Mittel. Hierbei führt das Play-Design den außen postierten Receiver nach innen, und den innen platzierten Receiver nach außen. Das kreiert einerseits eine Rub-Route - ein weiteres Konzept, in dem ein Verteidiger dazu gezwungen werden soll, um einen Spieler herum zu laufen, ehe er zu seinem Gegenspieler kommt - andererseits kann es auch zu Kommunikationsfehlern in der Defense führen. So etwa geschehen gegen Seattle.

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2. Das Passspiel - Vielfalt ist Trumpf und Platz über die Mitte

Rub Routes, Bunch- und Stack-Formations, Switch-Routes - vieles in Atlantas Passing Game, das wird auf Tape mehr als deutlich, ist darauf ausgelegt, über das Scheme freie Receiver in der Secondary zu schaffen. Somit ist es nur eine logische Folge, dass die Falcons darauf aufbauend den Ball verteilen. Und das exzessiv.

Vielfalt ist Trumpf:

2015 noch war Julio Jones der Mittelpunkt der Offense, 33 Prozent von Ryans Pässen flogen in seine Richtung. Diese Zahl schrumpfte in dieser Saison auf 24 Prozent, und mit Touchdown-Pässen zu 13 verschiedenen Receivern stellten die Falcons einen neuen NFL-Rekord auf. Zehn Falcons-Spieler verzeichneten insgesamt mehr als zehn Catches und mehr als 200 Yards.

Das ist selbstredend auch Patriots-Coach Bill Belichick nicht entgangen: "Etwas, das sehr stark auffällt, ist ihr Team-Speed. Sie haben viele schnelle Spieler und sind explosiv, darüber hinaus setzen sie viele verschiedene Spieler ein. Das ist ganz anders als bei Pittsburgh, das im Prinzip die komplette Partie über die gleichen Spieler eingesetzt hat."

In der Folge kann Ryan den Ball nicht nur personell, sondern auch auf den Platz gesehen verteilen. Bei Pässen von über 20 Yards etwa steht er in dieser Saison nach links bei 366 Yards und sechs Touchdowns, mittig bei 420 Yards und fünf Touchdowns sowie rechts bei 420 Yards und einem Touchdown. Und die Vielfalt geht noch weiter, denn sie betrifft auch die Formationen.

So glänzten die Falcons etwa, indem sie Defenses aus vermeintlichen Run-Formationen durch die Luft attackierten - besonders gerne aus 13-Personnel. "13" bedeutet, dass ein Running Back und drei Tight Ends auf dem Platz stehen, eine typische Lauf-Formation. Atlanta aber warf daraus zu gerne Pässe, mit beeindruckender Statistik: 24 seiner ersten 29 Pässe brachte Ryan aus 13-Personnel an den Mitspieler, ehe sich Tight End Jacob Tamme verletzte und die Formation danach etwas seltener genutzt wurde.

Und nicht nur das: Shanahan versteht es auch exzellent, aus sehr ähnlich aussehenden Formationen mit dem gleichen Personal auf dem Platz unterschiedlichste Spielzüge anzusagen. Als Beispiel muss man nur auf das Spiel gegen Green Bay zurückschauen, etwa als Atlanta das Spiel mit drei Spielzügen aus 12-Personnel (ein Running Back, zwei Tight Ends) mit je sehr ähnlicher Aufstellung eröffnete, und drei komplett unterschiedliche Plays (ein Run, ein kurzer Pass links in die Flat und ein langer Pass nach rechts) aufs Parkett brachte.

Die Mitte, Matchups und Julio:

Gleichzeitig allerdings gilt festzuhalten, dass auch Atlantas Offense nicht in jederlei Hinsicht komplett ausgeglichen ist - es gibt durchaus einige Tendenzen. Zwar mag Jones nicht mehr der Fixpunkt der Offense sein, seine 1.409 Yards in der Regular Season bei 17 Yards pro Catch sind dennoch beachtlich. Darüber hinaus ist er nach seiner 180-Yard-Gala im Championship Game gegen Green Bay der erste Receiver überhaupt mit mehreren 150-Yard-2-TD-Spielen in den Playoffs.

Seine 3,23 Yards pro Route sind zudem der Liga-Höchstwert dieser Saison, Jones kann nach wie vor jederzeit individuell innerhalb des Schemes den Unterschied ausmachen. Gleichzeitig helfen ihm Shanahans Plays dabei, nicht ständig zwei Gegenspieler gegen sich zu haben. Und falls das doch passiert, geht der Read seine Quarterbacks ganz natürlich vom Scheme gefördert und gefordert - mitunter auch schon vor dem Snap - in eine andere Richtung.

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Eine weitere erkennbare Tendenz ist Ryans Vorliebe für die Mitte des Feldes. Von seinen 5.674 Yards in den bislang 18 Spielen dieser Saison kamen 3.353 über die Mitte zustande, wo Ryan auch 332 seiner 576 Pässe (Throwaways nicht einberechnet) hin feuerte. Auch hier dient das Championship Game gegen die Packers als gute Veranschaulichung. Das klingt zunächst wie eine mögliche Schwäche und ein potentieller Ansatz für Belichick, und womöglich ist es letzteres auch. Zu einem gewissen Grade jedoch ist es auch gewollt.

Shanahan nämlich versteht es extrem gut, Spieler über die Mitte des Feldes frei zu bekommen. Das macht er etwa mit einer Kombination aus Vertical- und Underneath-Routes, also Plays, bei denen mehrere Spieler Richtung gegnerischer Endzone laufen, während einer oder zwei die Mitte des Feldes attackieren.

Das zieht die Defense auseinander und ermöglicht gute Matchups für die Offense. Ein Beispiel hierfür gab es im Playoff-Spiel gegen Seattle, als die Vertikal-Underneath-Kombination darin endete, dass ein Defensive End Running Back Devonta Freeman decken musste - das Resultat? Ein 53-Yard-Pass über die Mitte auf Freeman.

Bleiben noch zwei zentrale Elemente: Matchups und Play Action. Ersteres schließt direkt an den vorherigen Punkt an - Shanahan war in dieser Saison besser als jeder andere Play-Caller, wenn es darum ging, gegnerische Schwächen zu attackieren. So griff er beim Auswärtssieg in Denver gezielt die Broncos-Linebacker in Coverage an, während er in beiden Spielen gegen die Seahawks immer wieder die Zonen der Zone-Coverage mit mehreren Spielern überlud.

Play Action ist derweil ein unverkennbares Stilmittel in der Shanahan-Offense: Aus typischen Zone-Running-Aufstellungen gibt es den angetäuschten Lauf mit anschließendem Pass. Ryan spielte in der vergangenen Saison bei 27,6 Prozent seiner Dropbacks einen Play-Action-Pass - Ligahöchstwert. Auch das funktioniert aus Run-Look-Formationen, etwa mit mehreren Tight Ends, umso besser und ermöglicht beispielsweise Jones weitere Einzel-Matchups.

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3. Das Running Game - Rotation in jeder Hinsicht

Viele der Dinge, die Atlanta im Passing Game macht, funktionieren allerdings auch deshalb so gut, weil die Falcons ihre Gegner auch im Running Game dominieren können. In der Regular Season verzeichnete Atlanta 4,6 Yards pro Run (ligaweit Platz 4), hatte 19 Runs von wenigstens 20 Yards (4.) sowie 20 Rushing-Touchdowns (geteilter dritter Platz).

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Dabei setzen die Falcons auf ein Zone-Run-Scheme. Bedeutet einfach zusammengefasst: Die O-Liner sind für einen Raum, nicht für einen konkreten Gegenspieler zuständig. Die O-Line bewegt sich dabei weitestgehend synchron, das Ziel ist es, einzelne Defensive Linemen mit Double Teams zu beschäftigen und dann auch dahinter Linebacker zu blocken. Dabei spielt, im Gegensatz zu einem Man-Blocking-Scheme, die Formation der Defense eine eher untergeordnete Rolle.

Rotation ist Trumpf:

Und auch hier dominiert die Vielfalt. Laut NFL GSIS Stats Tracking verteilten die Falcons ihre Runs extrem gut. Teilt man die Richtung der Runs von links nach rechts in sieben Bereiche auf, ist die maximale Diskrepanz: 44 Runs hinter dem Left Guard (Tiefstwert), 74 rechts außen am Tackle vorbei (Höchstwert). Alle anderen Zahlen (hinter den Guards, dem Center, den Tackles und außerhalb der Tackles) liegen dazwischen. Atlanta läuft also von links nach rechts durch die Bank weg mit äußerst ausgeglichener Frequenz.

Die Vielfalt gilt auch für das Personal. Devonta Freeman (227 Runs, 4,8 Yards pro Run, 11 TD) und Tevin Coleman (118 Runs, 4,4 Yards pro Run, 8 TD) sind ähnliche Running-Back-Typen, nicht selten stehen beide gleichzeitig auf dem Platz. Atlanta kann dann einen der beiden kurz vor dem Snap als Receiver aufstellen, und so Linebacker in Coverage zwingen.

Essentiell für das Zone Run Game ist der Center: Er ist bei Inside-Runs meistens in ein Double-Team involviert, und nicht selten liegt es dann an ihm, den Verteidiger voll an seinen eigenen Guard zu übergeben und noch einen Linebacker zu blocken - oder aber einen Defensive Lineman zu blocken, der versetzt zu ihm steht und potentiell schon vor dem Snap einen kleinen Vorsprung hat - ein sogenannter "Reach Block".

Hier hat sich für Atlanta die Verpflichtung von Alex Mack voll ausgezahlt. Mack kam vor der Saison aus Cleveland und kannte das Blocking-Scheme von Kyle Shanahan bereits. Er hilft seinen O-Line-Kollegen dabei, den Spielzug richtig umzusetzen und sorgt dafür, dass der Play-Call ankommt - und ist ganz nebenbei einer der besten Zone-Blocking-Center in der NFL. "Man hat sofort gesehen: Er weiß, was er tut", verriet Right Tackle Ryan Schraeder. "Er hat eine herausragende Balance und ist extrem gründlich in allem. Das färbt auf jeden hier ab."

Zusammenfassung

  • Atlantas Offense glänzt durch ihre Unberechenbarkeit. Der Pass zu Julio Jones wird - im Gegensatz zu vergangenen Jahren - nicht mehr erzwungen, vielmehr herrscht das Prinzip des kalkulierten Ball-Verteilens. Shanahans Scheme ermöglicht immer wieder unterschiedlichen Spielern Freiräume innerhalb ihrer Route, gleichzeitig kann Jones innerhalb des Schemes individuell jederzeit den Unterschied ausmachen. Die intensiv genutzte Play Action erschwert all das für die Defense zusätzlich.
  • Stichwort Scheme: Shanahans Design ist mitunter ein Kunstwerk. Die verschiedenen Routes der Receiver arbeiten harmonisch zusammen, jeder Laufweg ergibt einen Sinn für das große Ganze. Darüber hinaus bauen auch die Spielzüge aufeinander auf, etwa indem Shanahan drei Mal hintereinander die gleiche Formation aufbietet, und jeweils drei unterschiedliche Plays spielen lässt - oder indem er aus vermeintlichen Run-Formationen gezielt Downfield-Pässe werfen lässt, um eine aggressive Defense zu bestrafen.
  • All diese Punkte resultieren in einer enormen Vielfalt. Atlanta ist schematisch sowie individuell dafür ausgerüstet, jede Defense anzugreifen. Beste Beispiele: Gegen die Broncos attackierten die Falcons die Linebacker in Coverage, gegen Seattle überlud die Offense gezielt Seattles Cover-Zonen. Als Green Bay und die Seahawks in den Playoffs eine passivere Off-Coverage spielten, nutzten die Falcons das aus, um der Secondary mit Rub-Routes das Leben schwer und den Weg zum Receiver zusätzlich lang zu machen. Das führte dazu, dass Atlanta trotz eines sehr schwierigen Schedules enorme Zahlen auflegte.
  • Das Passspiel ist der Fokus, gleichzeitig aber funktioniert es Hand in Hand mit einem guten Zone-Running-Scheme. Hier hat Atlanta mit Tevin Coleman und Devonta Freeman zwei ähnliche sowie vielseitige Backs, für die es in der Offense durchaus auch gleichzeitig Platz auf dem Feld gibt. So gelangen Atlanta insgesamt 6,7 Yards pro Play, Ligahöchstwert.
  • Die größte Anfälligkeit ist dabei auf dem Papier die Pass-Protection, wo Atlantas Offensive Line laut Football Outsiders im unteren Liga-Drittel anzufinden ist. Die Frage wird jedoch sein: Kann New England, nicht gerade bekannt für einen dominanten Pass-Rush, daraus Kapital schlagen?

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