DIE ZUKUNFT

Marc-Andre ter Stegen hat sich beim FC Barcelona zu einem der besten Torhüter der Welt entwickelt. SPOX hat vor dem Clasico gegen Real Madrid (13 Uhr live aufDAZN ) mit seinen einstigen Förderern gesprochen und zeichnet seinen Weg zum Weltstar nach.

EL MEJOR PORTERO DEL MUNDO

Ein ikonisches Bild auf dem Titelblatt der Sport. Zwei Generationen von Torhütern. Einer hat eine Ära geprägt. Einer könnte möglicherweise in Zukunft eine Ära prägen.
Eine innige Umarmung zwischen Juventus-Keeper Gianluigi Buffon und Marc-Andre ter Stegen vom FC Barcelona. Der Barca-Schlussmann hält in seiner linken Hand eine Wasserflasche und einen Handschuh, die rechte legt er um die Schulter seines Gegenübers. Buffon umfasst seinen 14 Jahre jüngeren Kollegen mit beiden Armen und grinst über das ganze Gesicht.
Es ist ein herzlicher Moment, in dem der vierfache Welttorhüter seinen Kollegen nach dem 0:0 im Champions-League-Gruppenspiel Ende November 2017 umarmt und ihm zu seiner Leistung gratuliert. Zu einer Leistung, die die spanischen Medien durchdrehen lässt.
Vor allem eine Szene hat sich in die Erinnerungen eingebrannt: In der dritten Minute der Nachspielzeit bekommt Juve-Stürmer Paulo Dybala den Ball an der Sechzehnerlinie und zieht direkt, platziert und scharf aufs linke untere Eck ab. Die Zuschauer im Juventus Stadium haben den Torschrei schon auf den Lippen, doch irgendwie taucht ter Stegen noch ab und fischt den Ball mit einem unglaublichen Reflex heraus.
Ein Bild dieser Parade prangt am nächsten Morgen auf dem Cover der Mundo Deportivo, darunter steht in großen Lettern über den Keeper und seinen Klub: „Die Anführer!“

Selbst die Sportzeitungen aus Madrid, die für gewöhnlich Real nahestehen und Barca nur selten bejubeln, halten sich mit überschwänglichem Lob nicht zurück. Der deutsche Keeper sei „ein Messi mit Handschuhen“, titelt die Marca, die AS bezeichnet ter Stegen als „spektakulär“.
Am prägnantesten jedoch ist die Sport mit dem vielsagenden Bild der Umarmung zwischen ter Stegen und Buffon. Und mit der klaren Botschaft in großen gelben Buchstaben:

DER BESTE TORWART DER WELT.

Ein Adelstitel, nicht etwa für Buffon, sondern für die „imperiale Parade“ von ter Stegen, die Barca zum Punktgewinn in Turin und damit zum Gruppensieg in der Champions League verhalf.
Dass sich ter Stegen vor niemandem mehr verstecken muss, kam nicht über Nacht, das hat sich über Jahre hinweg entwickelt. Doch die konstant gestiegene Anerkennung in der Öffentlichkeit ist an diesem Morgen auf einem neuen Höhepunkt angekommen.
Ein Höhepunkt, auf den die Entwicklung konstant zugelaufen ist, von seinen Anfängen in der Jugend von Borussia Mönchengladbach bis zu diesem ikonischen Auftritt in der Champions League.

Borussia Park Mönchengladbach, Interviewtermin auf der Geschäftsstelle. Es ist eiskalt, der Winter ist angekommen in Deutschland. Die Spieler haben gerade ihre Vormittagseinheit hinter sich gebracht. Nach und nach gehen sie, eingepackt in dicke, grüne Borussia-Jacken, am Wartebereich vorbei.

In der Sportsbar nebenan ist Roland Virkus gerade fertig mit dem Mittagessen. Zwischen Mittagspause und einem wichtigen Termin nimmt er sich die Zeit, einige Fragen zu ter Stegen zu beantworten. „Das ist mir ein Anliegen“, sagt Virkus auf dem Gang in den ersten Stock, „weil ich Marc gut kenne und nicht möchte, dass jeder etwas dazu sagt.“ Er schmunzelt, die Aussage war mit einem Augenzwinkern zu verstehen.

Virkus stand von 1990 bis zur Saison 2008/2009 als Jugendtrainer der Borussia an den Seitenlinien der Sportplätze. Er trainierte die U15- und U17-Jugendlichen und war Co-Trainer bei der U19. Seit November 2008 ist er als Nachfolger von Max Eberl Direktor für Jugend und Amateure und leitet das Nachwuchsleistungszentrum.

In seiner Funktion als Jugendtrainer war er einer der großen Förderer des jungen ter Stegen. Angekommen in seinem Büro, ein Glas Wasser und eine Tasse Kaffee auf dem Tisch, erzählt er von ihrer ersten Begegnung.

SPOX: Herr Virkus, Sie haben im Juniorenbereich von Borussia Mönchengladbach vier Jahre lang mit Marc-Andre ter Stegen gearbeitet. Wie war seinerzeit der erste Kontakt, den Sie mit ihm hatten?

Roland Virkus: Der war ganz blöd. Wir hatten damals in der U15 ein Torhüterproblem. Wir hatten im alten Jahrgang nur einen Torhüter, weil die anderen verletzt waren. Und dann wurde mir gesagt: ‚Schau dir mal den D-Jugend-Torhüter an. Der ist gut.‘ Ich habe den Jungen gesehen und habe ihn direkt auf ein Turnier bei Werder Bremen mitgenommen.

SPOX: Was haben Sie zu ihm gesagt?

Virkus: Ich habe ihm klargemacht, dass ich noch einen Torhüter aus dem Altjahrgang habe und ihn sozusagen vorgewarnt: ‚Wenn du mitfahren willst, sitzt du erstmal auf der Bank. Aber ich habe deine Qualitäten gesehen. Ich würde dich auf jeden Fall spielen lassen, kann dir aber noch nicht sagen, wann.‘ Unser jetziger Rehatrainer in der ersten Mannschaft war damals mein Physiotherapeut in der U15 und als wir ins Halbfinale gekommen sind, habe ich ihn angeschaut und gesagt: ‚Wenn wir das Turnier gewinnen wollen, dann nur mit dem.‘ Er dachte, ich sei bescheuert. Der Junge war nicht sonderlich groß. Er hat mich gewarnt, dass wir mit ihm das Turnier nicht gewinnen können.
SPOX: Aber Sie haben sich durchgesetzt.

Virkus: Richtig. Er hat schließlich im Endspiel gegen Bayer Leverkusen gespielt, war überragend und wir haben das Turnier gewonnen.

In den folgenden Jahren gilt ter Stegen in Mönchengladbach als Versprechen für die Zukunft, als goldener Junge. „Wir haben damals in der U15 schon gesagt: Der wird Nationaltorhüter“, erinnert sich Virkus. Auf die Nachfrage, ob ein Jugendförderer diese Gedanken nicht häufiger habe, entgegnet er: „So ernst gemeint sagt man das nicht bei vielen Spielern, nein. Zumindest nicht schon in der U15.“

Die Borussia fördert ter Stegen in besonderem Maße. Er durchläuft alle Jugendabteilungen, wird Leistungsträger und Führungsspieler des „glorreichen 92er Jahrgangs“ (Virkus) mit Spielern wie Yunus Malli, Julian Korb, Elias Kachunga oder Amin Younes, der zwar 93er ist, aber trotzdem oben spielt.
Bald steht ter Stegen auch in den deutschen Junioren-Nationalmannschaften zwischen den Pfosten. Den ersten großen Höhepunkt erlebt er im Mai 2009: Als Stammtorhüter gewinnt er an der Seite von Mario Götze, Marvin Plattenhardt oder Shkodran Mustafi die U17-Europameisterschaft im eigenen Land durch einen 2:1-Finalsieg in Magdeburg gegen die Niederlande.

"Mein Ziel ist klar: Ich will mich im Profi-Bereich durchsetzen."

Langsam dämmert, dass der gebürtige Gladbacher tatsächlich das große Talent ist, für das die Verantwortlichen in seinem Heimatverein ihn halten. Die mediale Aufmerksamkeit wächst.

In einer regelmäßigen Kolumne bei SPOX gibt er Einblicke in seine Entwicklung.

"Gegen Nürnberg saß ich auf der Bank und durfte zum ersten Mal Bundesligaluft schnuppern. Kurz zuvor hatte ich meinen Profi-Vertrag unterschrieben. Das waren aufregende Momente“, schreibt er Anfang 2010: „Momentan trainiere ich regelmäßig mit der ersten Mannschaft und Torwarttrainer Uwe Kamps.“
Zwar betont er, dass sein Fokus auf dem Erfolg mit der U19 liege, doch bereits da hat er einen klaren Karriereplan: „Mein Weg nach oben ist noch lang und hart. Ich muss mich jeden Tag beweisen. Aber mein Ziel ist klar: Ich will mich im
Profi-Bereich durchsetzen.“

Trainingseinheit mit den Borussia-Keepern beendet. Die Mütze tief ins Gesicht gezogen – es ist wirklich richtig kalt an diesem Tag – lächelt er bei der Frage, ob er ein paar Sätze über ter Stegens Übergang in den Profibereich und seine Entwicklung sagen möchte. Gerne tut er das. In die Geschäftsstelle oder hier? „Lieber direkt hier, dann riechen wir noch den Rasen.“

SPOX: Herr Kamps, können Sie sich noch daran erinnern, wann Sie Marc-Andre ter Stegen das erste Mal gesehen haben?

Uwe Kamps: Zuerst gesehen habe ich ihn, als er etwa 14, 15 war. Er hat in den entsprechenden Jugendmannschaften trainiert und wir haben auf dem Nebenplatz Torwarttraining gemacht. Da konnte ich immer schon ein bisschen rüberlinsen und sehen, dass da etwas nachkommt. Er war ein Jahr später beim Torwarttraining des älteren Jahrgangs dabei, weil er schon so gut war.

SPOX: Geht man als Torwarttrainer der ersten Mannschaft schon einmal auf so ein Talent zu oder hält man sich da eher zurück?

Kamps: Ein junger Spieler merkt natürlich, dass er im Verein entsprechend gefördert wird, da er ja auch schon bei den Älteren mittrainiert hat. Er war auch früh beim Profitraining mit dabei und hat als A-Jugendlicher schon in der U23 gespielt.

SPOX: Wie waren die ersten Eindrücke, als er schließlich zur ersten Mannschaft gestoßen ist? War er erst einmal zurückhaltend oder direkt sehr forsch?

Kamps: Er hatte schon damals Ziele und wollte von Anfang an spielen. Er hat es ja dann auch im ersten Jahr direkt geschafft. Vielleicht hätte er es sogar noch einen Tick früher schaffen können, zwischenzeitlich war er aber noch einmal kurz verletzt. Als er dann wieder fit und wir in einer sehr schwierigen Situation waren, hat er sein erstes Bundesligaspiel direkt gegen Köln bekommen.

SPOX: Ausgerechnet…

Kamps: Ja, das ist ein erstes Spiel, das ein bisschen ähnlich ist wie ein Clasico. Da kann man zumindest Vergleiche ziehen. (lacht)

SPOX: Wie hat er das erfahren? Haben Sie ein Einzelgespräch mit ihm geführt oder hat der Cheftrainer das erledigt?

Kamps: Der Cheftrainer hat den Spielern mitgeteilt, wer spielen wird. Er hat mich am Tag davor selbst damit überrascht. Wir haben lange darüber diskutiert, was man noch machen kann, wie man der Mannschaft noch einen Impuls geben kann, weil wir gefühlt bereits abgestiegen waren. Dann ist die Torwartthematik aufgekommen. Wir haben das lange besprochen und uns am Ende darauf verständigt, noch einmal eine Nacht darüber zu schlafen. Und beim Training am nächsten Tag war die erste Handlung des Trainers, den Torhütern Bescheid zu sagen, dass Marc im Tor stehen wird.

TER STEGEN UND SEIN HANDSCHUHTICK

Auf die Frage nach ter Stegens Persönlichkeit in der Jugend geraten alle Beteiligten ins Schwärmen: talentiert, zielstrebig, ehrgeizig, fokussiert. Einzig an eine Macke können sich alle erinnern: ter Stegens Verhältnis zu seinen Handschuhen.
„Wenn man die einmal angezogen hat, hat er sie nie wieder angezogen. Die durfte niemand berühren, sonst waren die Handschuhe raus“, erinnert sich Kamps. Virkus gibt, wie aus der Pistole geschossen, den gleichen Tick an: „Seine Handschuhe hat er nur einmal getragen. Dann hat er sie weggegeben oder für sich behalten, jedenfalls ist er damit nicht mehr in ein Spiel gegangen.“
Auch ter Stegen selbst gibt zu: „Als Jugendlicher war ich da extrem. Heute hat sich das zumindest etwas gelegt.“

In einer Situation, in der die Borussia schon abgestiegen scheint (sechs Spieltage vor Schluss beträgt der Rückstand auf den Relegationsplatz sieben Punkte), setzt Lucien Favre mit der Beförderung ter Stegens zum Stammtorhüter eine Markierung auf dem Weg des Torhüters.
Gladbach gewinnt das Derby gegen den 1. FC Köln mit dem 18-Jährigen im Tor mit 5:1. In den restlichen fünf Spielen kassiert ter Stegen nur noch zwei weitere Gegentore, die Fohlen holen elf Punkte, qualifizieren sich für die Relegation – und setzen sich dort gegen den VfL Bochum durch.
Innerhalb kürzester Zeit wird ter Stegen, das Torwarttalent aus den eigenen Reihen, zur Identifikationsfigur und zum Sinnbild des Gladbacher Aufschwungs. Seine moderne Art des Torwartspiels passt perfekt in den neuen Fußball-Zeitgeist und zum erfrischenden Offensivfußball, der die Borussia in den kommenden Jahren wieder zu einer Spitzenmannschaft macht, die sogar den Europapokal erreicht.
Doch was genau zeichnet seinen Spielstil aus?
Schon in jungen Jahren hebt sich ter Stegen von vielen seiner Kollegen ab. Er ist nicht der klassische, heutzutage beinahe altbacken wirkende Torhüter mit knapp zwei Metern Körpergröße und einem massigen Körperbau.
„Er war normalgroß, er war zweifelsfrei auf der Linie gut, aber vor allem war er ein super Fußballer“, sagt Virkus.
Seine Spielweise unterscheidet sich von der anderer Torhüter dadurch, dass ter Stegen seine Position offensiv interpretiert. „Er ist ein zusätzlicher Feldspieler, den man ins Spiel integrieren und damit im Spielaufbau eine Überzahl schaffen kann“, analysiert Kamps.
Ein Stil, der neben den großen Vorteilen auch Risiken birgt. Im Laufe seiner Karriere unterlaufen ter Stegen immer wieder grobe Fehler.

26. Mai 2012: Deutschland – Schweiz 3:5

Bei seinem Debüt im Tor der deutschen Nationalmannschaft macht ter Stegen nicht den glücklichsten Eindruck. Zum Ende des EM-Trainingslagers steht er gegen die Schweiz im Tor und muss gleich fünfmal hinter sich greifen. Einen dicken Patzer leistet er sich beim 2:4: Gökhan Inler chippt den Ball in den Strafraum, wo sich Stephan Lichtsteiner von Marcel Schmelzer gelöst hat und zum Kopfball hochsteigt. Ter Stegen kommt aus dem Kasten, aber deutlich zu spät und faustet neben den Ball.

2. Juni 2013: Deutschland – USA 3:4

Noch größer ist der Spott ein Jahr später bei einem Bock auf der US-Reise. In der 16. Minute spielt Benedikt Höwedes einen Rückpass auf den Gladbacher Keeper. Dieser kann den Ball jedoch nicht kontrollieren und stoppt ihn ins eigene Tor. Fortan verhöhnen ihn die Zuschauer die komplette Partie: Bei jedem Rückpass gibt es ein lautes Raunen. Nach drei Länderspielen hat ter Stegen bereits zwölf Gegentore kassiert.

1. März 2014:

Eintracht Braunschweig – Borussia Mönchengladbach 1:1

Ein Deja-vu erlebt ter Stegen im Jahr darauf beim Auswärtsspiel gegen Aufsteiger Braunschweig. Diesmal ist es ein Rückpass von Filip Daems, den der Keeper nicht vernünftig annehmen kann und der von seinem Fuß ins Tor kullert.

2. Oktober 2016:

Celta Vigo – FC Barcelona 4:3

Den schwärzesten Abend seiner Karriere hat ter Stegen in Vigo, wo er sogar zwei Tore verschuldet und sich hinterher selbst in die Verantwortung für die Niederlage nimmt. In der 22. Minute spielt er seinem Gegenspieler einen Pass genau in die Füße und verschuldet damit das 0:1. Aber für den absoluten Slapstick-Moment sorgt er in der 77. Minute: Er bekommt einen Rückpass an den Fünfer. Statt ihn wegzuschlagen, wartet er, überlegt – und chippt ihn dann aus kürzester Distanz an den Kopf von Pablo Hernandez, von dem der Ball ins Tor prallt. Die spanischen Medien verspotten den Barca-Keeper am folgenden Tag.

Seinen Umgang mit Fehlern bezeichnen ter Stegens Förderer als eine seiner großen Stärken. „Wenn etwas schiefgegangen ist, hat er nicht den Kopf in den Sand gesteckt, sondern es beim nächsten Mal erst recht versucht“, erklärt Kamps. „Wenn er einen Ball ins Aus geschlagen hat, kann man davon ausgehen, dass er ihn beim nächsten Mal wieder auf exakt den gleichen Punkt spielen möchte – also nicht ins Aus, sondern da, wo er ihn hinhaben wollte. Das ist eine Riesenstärke von ihm, dass er immer dranbleibt und versucht, das zu regulieren.“

"Fehler gehören zu ter Stegens Spiel"

Im Verhältnis zu den Stärken seien die Fehler ohnehin in der Minderzahl, meint sein langjähriger Torwarttrainer: „Das sind Dinge, die zu seinem Spiel gehören. Er hat eine riesige Stärke mit seinen fußballerischen Qualitäten und dass da auch mal Fehler passieren können, ist völlig normal. Wir sind alle nur Menschen. Aber wenn man dann diesen Mehrwert sieht, den seine Spieleröffnung lange Zeit für uns mit sich brachte und jetzt Barcelona bringt, ist dieser riesig.“

Virkus argumentiert ähnlich: „Er hat im Laufe seiner Karriere ja auch Fehler gemacht. Zum Beispiel in der Nationalmannschaft, in der er ein, zwei Böcke geschossen hat aufgrund seiner Spielweise. Aber das sind Fehler, die muss man einkalkulieren, wenn man einen Torhüter wie ihn haben will. Sein Spiel ist ja von großem Risiko geprägt und da wo Risiko draufsteht, ist dann auch Risiko drin.“
Doch ter Stegen steht immer wieder auf und arbeitet an sich – immer verbissen einem Ziel nachjagend.

Neben seinen fußballerischen Qualitäten, helfen ter Stegen auch seine besonderen Charaktereigenschaften auf dem Weg nach oben. Er ist selbstbewusst, diszipliniert, ja geradezu verbissen beim Erreichen seiner Ziele.
Einem dieser Ziele jagt ter Stegen 2014 nach. Anfang Januar verkündet Gladbachs Sportdirektor Max Eberl in einer Pressekonferenz, dass das Eigengewächs seinen bis 2015 laufenden Vertrag nicht verlängern werde. Ein halbes Jahr später wechselt ter Stegen für zwölf Millionen Euro Ablöse zum FC Barcelona – unter Tränen verabschiedet er sich aus seiner Heimatstadt. Ungewohnte Emotionen für den bis dahin immer so cool wirkenden Youngster.

Der Start in Barcelona ist jedoch alles andere als leicht. Die Katalanen verpflichten gleichzeitig mit Claudio Bravo einen weiteren Keeper. Einen spanischsprachigen Schlussmann, der mit überragenden Leistungen bei der WM für Chile im Rücken kommt. Ein Pfund.
Dagegen ter Stegen: deutscher Keeper, der „nicht einmal“ die Nummer eins der Nationalmannschaft ist und deswegen keinen großen Namen mitbringt. Die Ausgangslage ist schwierig. War der Wechsel etwa die falsche Entscheidung?

"Qualität setzt sich im Leben immer durch"

SPOX: Herr Virkus, was haben Sie gedacht, als sich der Wechsel nach Barcelona abgezeichnet hat und es schließlich tatsächlich so kam?

Virkus: Wenn Marc sich etwas in den Kopf setzt, ist er so fokussiert, dass er alles dafür tun wird, dass er seine Ziele auch erreicht. Trotzdem war es für mich ambivalent. Natürlich habe ich mich geärgert, denn er ist eines der größten Talente, die wir jemals in Mönchengladbach hatten. Sein Abschied war für uns ein riesiger Verlust, sowohl fußballerisch als auch menschlich. Aber ich war auch sehr stolz. Wenn einer der größten Klubs der Welt sich für so einen jungen Torhüter interessiert und dann auch dieses Risiko geht, dann ist das wohlüberlegt.

SPOX: Anfangs ging er jedoch durch eine schwierige Phase…Virkus: Wenn du in Barcelona ein Jahr auf deine Einsätze in der Liga warten musst und nur im Pokal und in der Champions League zum Einsatz kommst, hast du dort enormen Druck, weil du deinen Trainern und Verantwortlichen zeigen willst: Eigentlich müsste ich spielen. Und die Champions League ist allerhöchstes Niveau. Spanien ist ohnehin ein sehr hohes Niveau, aber in den europäischen Spielen hast du im Schnitt sicher mehr zu tun, als wenn du gegen Elche oder Eibar spielst.

SPOX: Waren Sie in der nicht immer einfachen Zeit ein Ratgeber?

Virkus: Ich weiß nicht, ob ich mich als Ratgeber bezeichnen würde. Aber natürlich stehen Uwe Kamps und ich regelmäßig mit ihm in Kontakt und das war auch in dieser Zeit so.

SPOX: Was haben Sie gesagt?

Virkus: Ich habe versucht, die Situation nüchtern zu erörtern und ihm dann auch klar zu sagen, dass er dranbleiben soll. Qualität setzt sich im Leben immer durch. Man muss nur auf den richtigen Moment warten und braucht dann vielleicht auch ein bisschen Glück.

An der Situation, über zwei Jahre “nur” im Pokal und in der Champions League ran zu dürfen, hat der ehrgeizige ter Stegen – bei seinem Wechsel immer noch erst 22 Jahre alt – zu knabbern. Doch er schwimmt sich frei. Besonders in der K.o.-Phase der Königsklasse brilliert er, zeigt unter anderem in den Halbfinals gegen den FC Bayern spektakuläre Paraden.
Am 6. Juni 2015 feiert ter Stegen den größten Erfolg seiner Karriere: Gegen Juventus Turin gewinnt Barca die Champions League und macht so den Triple-Gewinn 2015 perfekt.

"Wir trauten unseren Augen und Ohren kaum. Ter Stegen hatte gerade als 23-Jähriger die Champions League gewonnen und in der Mixed Zone stand er wie ein Eisblock. Er sprach fast emotionslos über seine Rolle in Barcelona und Trainingseinheiten in der kommenden Woche.“

Andreas Lehner über ter Stegen nach dem CL-Finale 2015 in Berlin

Ebenso steinig wie beim FC Barcelona gestaltet sich der Weg für ter Stegen in der deutschen Nationalmannschaft. Mit Manuel Neuer hat er einen Konkurrenten, der alles überstrahlt, eigene schwache Leistungen zu Beginn der Länderspielkarriere und eine infolgedessen häufig wenig schmeichelhafte Presse erschweren es ihm, sich im DFB-Team festzubeißen.
„Das war sicherlich das, was ihm am schwersten gefallen ist“, resümiert Kamps.

DAS LEIDIGE THEMA NATIONALMANNSCHAFT

Wie auch in seiner Anfangszeit in Barcelona leidet ter Stegen lange unter dem erdrückenden Standing des Stammkeepers. „Neuer hat für den deutschen Fußball sehr viel getan, er ist der Toptorhüter, mit Deutschland Weltmeister geworden, er hat auch körperlich Vorteile wegen seiner Größe“, sagt Virkus.
Die Position Neuers ist aufgrund seiner Leistungen berechtigt – allerdings in gewissem Sinne auch eine Auswucherung der deutschen Torhüter-Hybris. Seit Menschengedenken sind Deutsche davon überzeugt, die besten Torhüter zu haben. Dass Neuer durch seine Leistungen für Deutschland und den FC Bayern international zu den Weltbesten gezählt wird, hebt ihn in der öffentlichen Wahrnehmung in einen sakrosankten Status. Und rückt seine Stellvertreter damit (ohne eigenes Verschulden) umso mehr unter das Brennglas.

"NEUER HAT KÖRPERLICHE VORTEILE"

Umso ungünstiger, dass ter Stegen in seinen ersten sechs Länderspielen vier schwere Patzer unterlaufen. „Er hatte nicht immer die wichtigen Spiele, sondern eher Partien der Kategorie ‚Letztes Spiel im Jahr‘. In solchen Spielen stand er im Tor und hat dann zugegebenermaßen auch nicht so gut gespielt und Fehler gemacht“, sagt Kamps.
In dieser Phase ist es für ter Stegen kein Vorteil, bei einem der größten Vereine der Welt zu spielen. Im Gegenteil: Als Barcelona-Keeper findet er in der deutschen Öffentlichkeit nur bedingt statt. „Es ist in der Tat schade, dass es teilweise so war, dass die ganze Zeit nichts berichtet wurde, wenn alles gut lief. Wenn dann mal irgendwas passiert ist, wurde sofort groß darüber berichtet“, beklagt ter Stegen im Interview mit dem Sportbuzzer: „Ich weiß selbst, wenn ich einen Fehler gemacht habe. Dazu brauche ich keine deutschen Medien, die teilweise bei jedem Fehler versucht haben, mich in die Pfanne zu hauen.“

PLATZ ALS NEUERS THRONFOLGER ZEMENTIERT

Obwohl ter Stegen seit 2016 in allen Wettbewerben Stammtorhüter beim FC Barcelona ist, dauert es, bis er seinen Status als Nummer zwei im DFB-Team gefestigt hat.
Womöglich wäre es in dieser Phase sogar förderlicher, in Freiburg, Mainz oder Hannover zu spielen – einfach im deutschen Blickfeld.
Spätestens mit seinen starken Leistungen beim Confed Cup in Russland hat er zumindest seinen Platz als Neuers Thronfolger jedoch zementiert. Es war ein harter Weg, doch die öffentliche Meinung hat sich gedreht, die Wertschätzung für ter Stegens Leistungen hat sich eingestellt.
Und plötzlich ist nicht einmal mehr das Trikot mit der Rückennummer 1 bei der WM im kommenden Jahr unmöglich. Grund dafür ist die schwere Verletzung von Neuer, der aufgrund eines Mittelfußbruchs und Komplikationen im Heilungsverlauf auf unbestimmte Zeit ausfällt.

"Marc hat sich etabliert und ist ganz sicher die Nummer zwei. Sollte Neuer nicht zeitig fit werden, wäre Marc die Nummer eins für die Weltmeisterschaft. Er steht im Tor, als wolle er sagen: Wie wollt Ihr mir eigentlich einen reinschießen?“

Uwe Kamps über ter Stegens Entwicklung in der Nationalmannschaft

"Er ist ein toller Torwart und hat mich gleich am ersten Tag sehr angenehm überrascht. Ich kannte ihn überhaupt nicht, aber seine Eigenschaften könnten ihn zum besten Torwart der Welt machen."
Das Orakel Lionel Messi. Vor Barcelonas Champions-League-Halbfinale 2015 gegen den FC Bayern. Ein Ritterschlag für den Keeper, der zu dieser Zeit auf dem Papier eigentlich die Nummer zwei bei den Katalanen war. Und mit viel Fantasie eine Forderung an den Trainer, häufiger auf den Deutschen zu setzen.

Eine Entwicklung, die Roland Virkus vorausgesehen hat: „Ich war fest davon überzeugt, dass er es schaffen wird – auf Strecke. Dass das ein bisschen dauern würde, war klar. Es ist ja so im Fußball, dass du dir alles erarbeiten musst. Wenn die Kollegen dann sehen, dass du es ja kannst, bist du schnell integriert. Die Topleute dort haben relativ schnell gesehen: ‚Oh scheiße, der hilft uns!‘ Und wenn du die auf deiner Seite hast, dann wird es interessant.“
Zweieinhalb Jahre später gibt es überhaupt keine Diskussion mehr, wer bei Barca zwischen den Pfosten steht. Die klare Nummer eins ist Marc-Andre ter Stegen.
Und er zahlt es mit Leistung zurück, ist stabil, sicher und teilweise spektakulär. Vor allem bekommt er jedoch kaum Gegentore und ist einer der Garanten dafür, dass Barcelona in der Hinrunde die Liga dominiert und in Richtung 25. spanische Meisterschaft marschiert.

Mittlerweile ist ter Stegen 25 Jahre alt. Den klaren Karriereplan, den er aufgestellt hat, hat er bereits jetzt erfüllt. Übererfüllt.
Kein Wunder, dass ter Stegen alle hinter sich vereint, Mannschaftskollegen, Trainer, Fans und Medien. So sehr, dass diese ihn mit einem ehrenvollen Titel belegen:
DER BESTE TORWART DER WELT.

Ein Titel, den sich ter Stegen auch im letzten Hurra des Jahres verdienen will, wenn Barca am Samstag zum Clasico im Santiago Bernabeu bei Real Madrid gastiert (13 Uhr live auf DAZN).
Roland Virkus glaubt, dass ter Stegen in diesem Duell besonders im Fokus steht. Denn: „Normalerweise müsste sich Real Madrid schwarz ärgern, dass sie Marc damals nicht verpflichtet haben.“