Der Anti-Boss
Wie Jürgen Klopp auch ohne "Silverware" die Herzen der Liverpool-Fans erobert hat
Ob er die Champions League nun im dritten Anlauf gewinnt oder nicht: Jürgen Klopp ist auch ohne "Silverware" im Trophäenschrank des FC Liverpool einer der größten Trainer in der Geschichte des Klubs von der Anfield Road. Das lässt sich nicht nur mit seinem außergewöhnlichen Auftreten an der Seitenlinie erklären.
Vor dem Finale gegen Tottenham Hotspur (Samstag ab 20.45 Uhr LIVE auf DAZN) in Madrid blicken SPOX und Goal mit einigen Weggefährten und Experten auf den Menschen hinter dem Trainer Klopp. Eine Geschichte über den Nahbaren in der Welt der Unnahbaren. Eine Geschichte über den Anti-Boss.
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Ein "Scouser" mehr
Merseyside. Sefton. Formby. Hier, an diesem beschaulichen, nicht selten bewölkten Fleckchen Erde rund 20 Kilometer nördlich von Liverpool, finden sich die Einheimischen dienstagabends für gewöhnlich zu einer typisch britischen Quizrunde in der Kultkneipe "The Freshfield" ein. Sie, die sich in Anlehnung an ihren recht eigentümlichen Dialekt "Scousers" nennen, bilden zumeist um die fünf Teams, die ihr Allgemeinwissen testen, manchmal sind es auch sechs oder sieben.
Es riecht stark nach Frittenfett, Fisch und Fassbier in dem Pub, die Kundschaft drängt sich um die rustikalen Holztische, an denen die Spieler vor prall gefüllten Chipsschüsseln sitzen. Gewillt, wie nur irgend möglich an dem unterhaltsamen Treiben teilzuhaben. Handys sind während der Spielzeit strengstens verboten, schließlich soll niemand schummeln, wenn der Quizmaster eine besonders knifflige Frage in den Raum wirft.
Vielleicht gefällt es Jürgen Klopp hier ja deshalb so gut. An so manchem Dienstagabend, wenn nicht gerade 30 Autominuten weiter in Anfield "You’ll Never Walk Alone" von "Gerry and the Pacemakers" ertönt, sitzt nämlich auch der Manager des bekanntesten Fußballklubs aus der Region an einem dieser rustikalen Holztische und glänzt, wie sollte es auch anders sein, in der Quizkategorie "Sports". Mal in Begleitung seiner Frau Ulla. Mal mit seiner Hündin Emma. Mal mit beiden. Mal alleine. Aber immer konzentriert. Nicht bereit, vor Spielende Fotowünsche zu erfüllen. Dass er nach dreieinhalb Jahren im "Freshie", so heißt das Lokal im Volksmund, noch darum gebeten wird, kommt ohnehin nicht häufig vor.
Klopp ist mittlerweile ein "Scouser" mehr, er wird in seiner Wahlheimat so behandelt, wie er sich bei seiner Vorstellung beim Liverpool Football Club am 8. Oktober 2015 selbst definiert hat: als "Normal One", als ganz normaler Mensch, und nicht als eine der größten Koryphäen der globalen Trainerelite. Sie rufen ihn in Formby zwar alle "Boss", als solcher verhält sich der 51-Jährige aber nicht. Er gehört nicht zu der Sorte Mensch, die sich für zu wichtig nimmt.
Klopp wohnt nur einen Steinwurf von dem Pub entfernt, geht in der Gegend oft mit Emma spazieren, wenn er keine Muße hat, über die sich weit erstreckende Dünenlandschaft am naheliegenden Strand von Formby zu flanieren. Dabei grüßt er jedes bekannte Gesicht, das ihm über den Weg läuft, und ist sich für keinen seiner noch so spaßigen Sprüche zu schade. Selbst, wenn es sich bei dem Gegenüber um jemanden handelt, der seine Arbeit Tag für Tag kritisch unter die Lupe nimmt: einen Journalisten. Neil Jones, Liverpool-Korrespondent für Goal in Großbritannien, erzählt:
"Vor ein paar Monaten sind Klopp und ich uns zufällig begegnet. Ich war mit meinem Hund unterwegs und machte eine Pause in der Kneipe. Er war dort, kam von sich aus auf mich zu und amüsierte sich über den roten Mantel, den mein Hund trug. 'Der muss wohl ein Liverpool-Fan sein', sagte er lachend. Nach einer kurzen Unterhaltung ging er wieder zurück an seinen Tisch."
Allein solche Gesten belegen, wie entspannt Klopp als Mensch ist. "Das liegt daran, dass er sich hier sehr heimisch fühlt", sagt Jones. Eine ähnlich erheiternde Anekdote wie der Reporter hat David Fairclough in seinem Repertoire. Dem Bleacher Report berichtet der frühere Liverpooler Torjäger: "Ein Freund von mir war einmal in Formby mit seinem Hund unterwegs, als es plötzlich stark zu regnen begann. Er stellte sich unter einen Baum. Ein paar Minuten später kam ein Mann mit einem Hund angerannt. Es war Jürgen Klopp. Er stellte sich zu meinem Freund und redete mit ihm eine Viertelstunde lang über Hunde."
Der Hype ist real
Klopp hat freilich den Vorteil, die nach der BVB-Legende Lothar Emmerich benannte Mischlingshündin an keinen Ort ausführen zu müssen, der eine Gentrifizierung nötig hätte. Die meisten seiner Nachbarn sind selbst so prominent und wohlhabend, dass sie sich nicht wirklich darum scheren, was er treibt, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt. In vielen Gärten sind Pools und Boote zu bestaunen. In dem Haus, das Klopp gemietet hat, lebten unter anderem schon sein Vorgänger Brendan Rodgers und die Liverpooler Legende schlechthin, Steven Gerrard.
Auch einige aktive Kicker der Reds residieren in Formby. Am Meer lässt es sich besser abschalten als in der Stadt. Im Herzen von Liverpool, wo sein Name und sein Konterfei beinahe jeden Schal, jede Shorts und jeden Schnuller ziert, ist das schon anders. Hier wird er seit Tag eins sofort erkannt und belagert. In einem Interview mit dem Magazin 11 Freunde erinnert sich Klopp an seinen ersten Abend als Trainer der Reds in der 550.000-Einwohner-Stadt zurück, als er kurz nach der Vertragsunterzeichnung mit seiner Frau und seinem Assistenten Peter Krawietz in einem Pub vorbeischaute.
"Da stand das Bier schon vor uns, bevor wir bestellen konnten, und die lokalen It-Girls haben uns gleich in Beschlag genommen. Am nächsten Tag kursierte ein Foto, auf dem ich auf der rechten Schulter die Brüste einer Frau und auf der linken die einer anderen liegen hatte. Dabei hatte das Foto meine Frau geschossen."
Die "Klopp-Mania" in der Beatles-Stadt ist seither nicht verflogen. Im Gegenteil. Sie ist gewachsen. Wenngleich der in Stuttgart geborene und im Schwarzwald aufgezogene Schwabe noch immer auf seinen ersten Titel auf der Insel wartet, liegen ihm die Fans reihenweise zu Füßen. Sie ergötzen sich an dem wuchtigen Heavy-Metal-Fußball, den seine Mannschaft fast schon in exzessivem Maße wie unlängst im Champions-League-Halbfinale gegen den FC Barcelona zelebriert. Mehr aber beeindruckt sie die schier einmalige Aura aus Entspannung und Enthusiasmus, die den Mann an der Seitenlinie umgibt.
Klopp hat ja so einige Gesichter. Nicht nur positive. Er kann sich schrecklich über in seinen Augen ungerechte Schiedsrichterentscheidungen aufregen. Er kann schlechte Wetterbedingungen als schlechte Ausreden für schlechte Ergebnisse nutzen. Er kann aber auch magische Nächte heraufbeschwören. Er kann über 50.000 Schaulustige in Anfield animieren, indem er seine Faust vor "The Kop", der sagenumwobenen Tribüne, so oft und so schnell ballt als wäre er Weltmeister im Schattenboxen. Er kann ganze Pressesäle in Gelächter ertränken, indem er einen Fragesteller, einen Dolmetscher oder sich selbst veralbert.
Während die meisten seiner Trainerkollegen genau darauf achten, was sie sagen, spricht Klopp das aus, was er denkt. Er legt keinen Wert auf politische Korrektheit. Er präsentiert sich der Öffentlichkeit nicht nur als Trainer. Er präsentiert sich ihr auch als Mensch. Offen, ehrlich, mit Ecken und Kanten. Klopp ist in einem von Tag zu Tag gekünstelterem, sich stetig von der Basis entfernenden Millionenbusiness tatsächlich noch er selbst. "Was du von ihm bekommst, ist echt", sagt Goal-Reporter Jones.
Der Bessermacher
In England vergleichen sie ihn schon mit Bill Shankly, der größten Trainer-Legende des LFC, der die goldenen Sechziger und Siebziger Jahre maßgeblich prägte. Shankly, so sagt man, sei eine ähnlich schillernde, redegewandte Leitfigur gewesen wie Klopp heute. An dem Deutschen schätzen sie besonders dessen Humor und Fähigkeit, an jeder noch so negativen Situation etwas Positives zu finden.
Peter Krawietz, der Klopp schon seit dessen Zeit beim FSV Mainz 05 als Co-Trainer begleitet, kann davon im wahrsten Sinne des Wortes ein Lied singen. In der Nacht vom 27. auf den 28. Mai 2018, nur wenige Stunden nachdem Liverpool im Finale der Königsklasse eine 1:3-Niederlage gegen Real Madrid kassiert hatte, wohnte er der kurzerhand ins Leben gerufenen "Aftershowparty" bei, die Tote-Hosen-Sänger Campino wenig später auf seinem Instagram-Profil zur Schau stellte.
Im Gespräch mit SPOX und Goal denkt Krawietz an jene wilde Nacht zurück: "Wir haben nach dem Spiel natürlich keine große Feier gestartet, aber wir konnten alle nicht schlafen. Daher haben wir versucht, uns gegenseitig aufzubauen, damit wir die Negativstimmung nicht mit uns alleine austragen mussten. Nach dem zweiten oder dritten Bier ist es irgendwie dann doch noch lustig geworden. Aus dieser Laune heraus und dem einsetzenden Gefühl, dass wir wieder aufstehen und es als Sportler noch einmal versuchen wollen, nahmen die Dinge dann ihren Lauf. "
Klopp ist im Überwinden von Rückschlägen erprobt. Mehr noch: Er verfügt über die Gabe, nach solchen Rückschlägen stärker zurückzukommen. Das hat sich in Mainz gezeigt, das hat sich in Dortmund gezeigt und das zeigt sich jetzt auch in Liverpool.
Seine Mannschaft ist dank der finanziellen Mittel der Fernway Sports Group, einer Investorengruppe aus den USA, die den einen oder anderen teuren Transfer wie den von Torhüter Alisson Becker ermöglichte, zweifelsfrei besser besetzt als 2018. Gleichwohl wäre diese Mannschaft wohl kaum ins Finale eingezogen, hätte sie keinen Trainer mit dieser einzigartigen Motivationskunst und diesem unbändigen Streben nach Fortschritt an ihrer Seite gewusst. Klopp ist nämlich auch für sie nahbar, auch für sie zugänglich. Er spricht mit ihnen über alles – im Spaß wie im Ernst. "Ich wollte immer der Trainer sein, den ich früher gerne gehabt hätte", pflegt er über seine Nähe zur Mannschaft zu sagen. "Er interessiert sich auch für den Menschen, der ihm gegenübersteht", berichtet etwa Mittelfeldspieler Georginio Wijnaldum.
Mehr als in Klopps fußballerischer Philosophie und Taktik sieht DAZN-Experte Per Mertesacker dessen Menschenführung als Schlüssel zum Liverpooler Erfolg. "Wenn seine Spieler auf den Platz gehen, selbst bei Trainingsspielen, ist für sie nur eines entscheidend: 'Der Ball muss ins Netz. Und wenn wir den Ball nicht haben, dann müssen wir ihn ganz schnell zurückerobern.' Klopp hat ein richtig gutes Gespür, wie er eine Mannschaft anpacken muss", sagt Mertesacker im Gespräch mit SPOX und Goal.
"Es ist wichtig, als Trainer immer wieder die Balance zu finden zwischen Kumpeltyp und Autoritätsfigur. Ich habe das Gefühl, dass er diese Grenzen unfassbar passend setzt. Deswegen macht er Leute um sich besser. Wenn man ihn trifft, spürt man seine Aura, von der man profitieren kann, wenn man mit ihm zusammenarbeitet. "
Druck ist ein Fremdwort
Klopp zieht mit seiner Strahlkraft nicht nur seine Spieler magnetisch an. Die Werbeindustrie hat längst registriert, dass der Reds-Coach einer fleischgewordenen Goldmine nahekommt. Er wirbt mittlerweile für Autos, Bier, Sportschuhe, Rasierer und Fußball-Simulationen. Zahlreiche Unternehmen wollen ihn als Mentaltrainer oder Redner verpflichten. Er coacht schon seit ein paar Jahren deutsche Vermögensberater.
Kein Wunder, dass der zweifache Familienvater auf den zusätzlichen Rummel, der ihn in Liverpool erwartet, getrost verzichten kann. "Klopp geht sehr selten in die Innenstadt. Er verbringt fast den halben Tag in Melwood", berichtet Goal-Korrespondent Jones.
Auch hier, auf dem Trainingsgelände des LFC, rufen sie ihn alle "Boss". Aber auch hier verhält er sich nicht als solcher.
Die rund 80 Mitarbeiter im Hintergrund, darunter Köche, Gärtner und Putzfrauen, sind ihm nach eigenen Angaben genauso ans Herz gewachsen wie seine Spieler. Zweimal lud er sie und ihre gesamten Familien seit seiner Ankunft in Liverpool schon zur Saisonvorbereitung mit der Mannschaft nach Teneriffa ein.
"Mir ist ganz wichtig, dass wir die Zeit im Leben, die wir haben, so nutzen, dass es uns besser geht, wenn wir zusammen sind", erklärte Klopp bei Sky. "So ist es mit der Familie. So ist es mit Freunden. So ist mit meiner Mannschaft. So ist es mit dem ganzen Verein."
Und diesem Verein, der seit nunmehr 14 Jahren von einem Champions-League-Titel und noch viel länger von der englischen Meisterschaft träumt, will er jetzt eine ganz besondere Belohnung schenken. Ihm geht es beim englischen Duell mit Tottenham gar nicht darum, seine eigene Vita aufzupolieren und den Makel, die meisten großen Endspiele verloren zu haben, zu beseitigen. Im Interview mit DAZN erklärt er:
"Der Druck wäre für mich riesengroß, wenn es für mich wichtig wäre, wie die Öffentlichkeit mich wahrnimmt. 'Champions-League-Gewinner', das könnte mir nicht egaler sein, ob man das über mich sagt oder nicht."
Einem wie ihm nimmt man diese Worte sofort ab. Einem, der seinem Beruf nachgeht, um erfolgreich zu sein, aber den Spaß und die Leidenschaft über Titel stellt. Einem, der sich auch vor laufender Kamera so gibt, wie er ist. Vielleicht gewinnt Klopp ja am Samstagabend diesen vermaledeiten Pokal, der ihm noch fehlt, um auch seine letzten Kritiker verstummen zu lassen. Doch selbst dann wäre er der gleiche Klopp wie vorher. Und er würde sich weiterhin an so manchem Dienstagabend zu einer launigen Quizrunde im "Freshie" einfinden. Wie ein "Scouser". Wie ein ganz normaler Mensch.