DER MUSTERSCHÜLER

Wie er sein Schicksal selbst in die Hand nahm, wer ihn förderte:
Die Anfänge des Ilkay Gündogan

Wieder knapp geschlagen, erneut waren es nur Nuancen, die Ilkay Gündogan davon trennten, endlich den Henkelpott in die Höhe stemmen zu dürfen: Ähnlich wie 2013, als Gündogan das Endspiel der Champions League mit Borussia Dortmund gegen den FC Bayern mit 1:2 verloren hatte, machte vor wenigen Wochen im englischen Duell mit dem FC Chelsea das eine Gegentor zu viel die Träume des Mittelfeldspielers von Manchester City zunichte.

Obwohl es dem mittlerweile 30-Jährigen bislang nicht vergönnt war, einen Sieg in der Königsklasse zu bejubeln, zählt Gündogan zu den am höchsten dekorierten Fußballern Deutschlands. SPOX und Goal zeichnen mit seiner Hilfe und der Unterstützung zahlreicher, ihm bis heute eng verbundenen Weggefährten die Anfänge und frühe Fußballkarriere des heutigen DFB-Stars nach, die den Grundstein für eine außergewöhnliche Erfolgsgeschichte gelegt haben.

DIE WURZELN

Manchmal braucht es nur einen Hof, ein Garagentor und einen Ball, um eine triste Zechensiedlung in Gelsenkirchen-Heßler in die perfekte Welt zu verwandeln.

Diese Welt betrat Ilkay Gündogan Anfang der 1990er-Jahrer fast jeden Nachmittag, nachdem er seine Schulaufgaben erledigt hatte – mal für ein paar Stunden, mal aber auch nur für ein paar Minuten. Das hing ganz davon ab, wie sehr das dumpfe Aufprallen des Balles gegen das Garagentor den Nachbarn zur Last fiel.

"In der Nachbarschaft lebte ein Mann, der ab und an mal von seinem Balkon herunterbrüllte: 'Verpiss' dich, Junge, ich hab' gleich Nachtschicht'. Dann war der Nachmittag natürlich gelaufen", erzählt Rainer Konietzka im Gespräch mit SPOX und Goal.

Konietzka kennt sich als erster Vorsitzender des ansässigen SV Heßler 06 bestens in der Gegend aus. Er traf erstmals auf Ilkay Gündogan, als dieser 1994 im Alter von vier Jahren in den Verein eintrat. "Er war ein guter Junge", sagt der heute 60-Jährige. Allerdings sei das "nicht verwunderlich" gewesen, schließlich komme Gündogan aus einem "tadellosen Elternhaus".

Gündogans Familie stammt ursprünglich aus Dursunbey, einer Kreisstadt der Provinz Balikesir in der Türkei. Ismail, der Großvater, war 1973 ins Ruhrgebiet gekommen, um als Bergmann zu arbeiten, Frau und Kinder folgten sechs Jahre später.

"Ich kann für mich definitiv behaupten, dass ich eine sehr schöne Kindheit hatte", erzählt Ilkay Gündogan im Gespräch mit SPOX und Goal. "Wir waren zwar nicht reich, aber arm waren wir auch nicht."

"Familie steht für uns an erster Stelle", sagt sein Cousin Ilkan Gündogan. "Unter der Woche ist jeder seinen Pflichten nachgegangen, aber am Wochenende, wenn alle frei hatten, sind wir zusammengekommen, um zu essen und ein paar schöne Stunde miteinander zu verbringen."

Ilkan ist neben Ilkays Bruder Ilker bis heute eine der wichtigsten Bezugspersonen des Mittelfeldspielers von Manchester City. Er wohnte sogar einige Jahre mit ihm in England zusammen.

"Ich könnte ein Buch über das schreiben, was Ilkay und ich über all die Jahre erlebt haben", sagt Ilkan.
Besonders gern denkt er an die Anfänge zurück, vor allem an die Familienabende in Gelsenkirchen-Heßler. "Unsere Väter waren riesige Galatasaray-Fans. Wir haben fast jedes Spiel verfolgt. Das war für uns immer das Highlight der Woche."

Und Ilkay berichtet: "Das Schauen der Gala-Spiele war ein Familienereignis - das hat uns immer alle gemeinsam ins Wohnzimmer gebracht. An das UEFA-Cup-Finale 2000 mit Gala kann ich mich heute noch erinnern, als wäre es erst letzte Woche gewesen."

Vor oder nach den Spielen des Istanbuler Topklubs tobten sich die Jungs selbst mit dem Ball aus, ahmten ihre Vorbilder nach. "Gheorghe Hagi war anfangs einer unserer Lieblingsspieler", sagt Ilkan. "Später hatte Ilkay aber einen anderen Favoriten: Kaka."

Beim Spielen im Hof oder auf der Straße meckerte hin und wieder nicht nur der nachtschichtgeplagte Nachbar, sondern auch Opa Ismail. "Manchmal haben wir seine Hofleuchte abgeschossen. Unabsichtlich. Das hat ihm trotzdem nicht so gut gefallen", erinnert sich Ilkan, stellt aber auch klar: "Unsere Familie hat uns nie verboten, Fußball zu spielen. Auch wenn wir mal mit dreckigen Klamotten oder Schürfwunden nach Hause gekommen sind, haben wir keinen Ärger bekommen."

Und wenn das Wetter zu schlecht oder es schon zu dunkel war, um draußen zu kicken?

Die vielen Übungsstunden sollten sich auszahlen. Sowohl im Viertel als auch auf dem Trainingsgelände des SV Heßler 06 zeichnete sich schnell ab, dass es sich vor allem bei Ilkay Gündogan um einen besonderen Spieler handelte. "Anfangs haben ein paar Trainer zwar gesagt, er sei zu klein, aber seine Technik war schon in jungen Jahren außergewöhnlich", verrät Heßlers erster Vorsitzender Konietzka.

"Es gibt ja immer diesen einen Spieler, den man zuerst wählt, wenn man sich mit ein paar Jungs zum Kicken trifft. Bei uns war das Ilkay", sagt sein Cousin. "Ich war nicht ansatzweise so talentiert wie er."

Gleiches sagt auch Ferhat Cankaya über sich, ein enger und Ilkay Gündogan bis heute verbundener Kindheitsfreund, der in der Gelsenkirchener Grundschule am Fersenbruch neben dem späteren Bundesliga-Profi saß, ein Jahr in Heßlers C-Jugend mit ihm verbrachte und später während der Oberstufenzeit wieder auf ihn traf.

"Er war der Beste. Ich kann mich noch genau an eines unserer ersten gemeinsamen Spiele in der C-Jugend erinnern, als er den Ball nach einen Abschlag des gegnerischen Torwarts mit einem perfekten ersten Kontakt heruntergepflückt und mit dem zweiten in den Lauf eines Stürmers gespielt hat. Jeder auf dem Sportplatz hat gestaunt", sagt Cankaya im Gespräch mit SPOX und Goal.

Ähnliche technisch hochwertige Aktionen seien auch in großer Regelmäßigkeit im Training zu bewundern gewesen. "Bei Torschussübungen hat sich Ilkay oft den Ball geschnappt und gesagt, wie und wohin er den Ball schießt. Wenn er gesagt hat 'Der geht oben rechts rein', dann ging er oben rechts rein", erinnert sich Cankaya.

Gündogan habe schon als Kind "viele Räume gesehen, die andere nicht gesehen haben" und "große Spielmacher-Qualitäten" entwickelt.Neben dem Platz stellte er sich hingegen weniger in den Mittelpunkt.

"So ist Ilkay auch noch heute. Wenn man einen Zugang zu ihm hat, öffnet er sich. Ansonsten ist er nicht der Typ, der auf jeden um sich herum zugeht."

An Selbstbewusstsein mangelte es Gündogan zu C-Jugend-Zeiten dennoch nicht. "Nach unserer ersten und letzten gemeinsamen Saison hat er gesagt: 'Ferhat, lass uns zu einem besseren Verein gehen. Ich will Profi werden, ich kann das packen.' Ich habe mir im ersten Moment nur so gedacht: 'Was träumt der denn?' Aber das zeigt, dass er schon sehr früh sehr fest an seinen Traum geglaubt hat."

Während Cankaya beim SV Heßler 06 blieb, wechselte Gündogan ins acht Kilometer nördlich gelegene Buer. Ein wichtiger Schritt, ehe größere Vereine auf ihn aufmerksam wurden. Ein Wechsel zum FC Schalke 04 war für Gündogan aber schon seit seinem achten Lebensjahr kein Thema mehr.

"Es waren häufiger Schake-Späher bei uns auf dem Trainingsgelände, um sich Ilkay anzusehen", sagt Heßler-Vorstand Konietzka. "Die haben, um es sarkastisch zu formulieren, wie so oft einen grandiosen Job gemacht, indem sie den Jungen erst probeweise zu sich geholt und dann wieder weggeschickt haben."

Gündogan selbst schrieb in einem Ende April 2021 veröffentlichten Beitrag für The Player's Tribune:

Eine erneute Kontaktaufnahme vonseiten der Schalker drei Jahre später ließ ihn kalt. "Ich habe das nur so am Rande mitbekommen", berichtet Cousin Ilkan, "aber ich weiß, dass Ilkay sehr enttäuscht von Schalke war. Es zeugt von Charakterstärke, dass er nicht nochmal dort hingegangen ist."

DIE AUSBILDUNG

Onkel Ilhan Gündogan trat bereits in kleinem Umfang als Berater seines Neffen in Erscheinung, als dessen Karriere noch buchstäblich in den Kinderschuhen steckte. Er machte sich auf die Suche nach einem neuen Verein für den Youngster, der sein Talent beim SSV Buer eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatte. Bei einigen namhaften Ruhrgebiet-Klubs, unter anderem Rot-Weiß Essen, dem MSV Duisburg und dem VfL Bochum, organisierte Ilhan Probetrainings.

Schließlich entschied sich der Neffe für einen Wechsel in die Nachbarstadt Bochum, wo er fortan für die U16 des VfL auflief und für Aufsehen sorgte. Zwei Jahre später traf er dann erstmals einen Trainer, den Gündogan bis heute als einen seiner wichtigsten Förderer bezeichnet: Michael Oenning, späterer Chefcoach beim 1. FC Nürnberg und Hamburger SV in der Bundesliga, arbeitete zwischen 2007 und 2008 als Bochumer U19-Coach.

Oenning erinnert sich im Gespräch mit SPOX und Goal an die erste Begegnung mit Gündogan im Jahr 2007: "Der erste Kontakt war tatsächlich auf dem Fußballplatz. In der ersten Trainingseinheit mit der neuen Mannschaft habe ich eine Art Fußball-Tennis mit Flugbällen über eine größere Distanz spielen lassen", sagt Oenning. "Ilkay spielte mit beiden Füßen unglaublich gute Flugbälle. Das fiel mir sofort auf. Ich habe ihn mir dann geschnappt und ihn gefragt, ob er die Bälle auch mit Unterschnitt spielen kann. Diese Aufgabe hat er ebenfalls großartig umgesetzt."

Auch im späteren Trainingsspiel habe Gündogan restlos überzeugt. So sehr, dass dieser seinen neuen Schützling gleich nach der allerersten Einheit zur Seite nahm, um ihm eine Karriere als Profi zu prophezeien.

"Nach dem Training bin ich zu ihm gegangen und habe ihn gefragt, wie er heißt", sagt Oenning.

Kein Strohfeuer, wie sich im Nachhinein herausstellen sollte. Oenning schätzte vor allem die technischen Fertigkeiten des Top-Talents, setzte ihn vornehmlich als Zehner ein. "Ilkay war nie sehr groß, aber als echter Zehner war er unglaublich geschickt im Dribbling. Mit seinem Mitspieler und Kumpel Güngor Kaya verstand er sich quasi blind. Güngor spielte als Stürmer und wurde immer wieder von Ilkay in Szene gesetzt."

Doch nicht nur Kaya sorgte für die Tore, auch Gündogan hatte – wie heute bei Manchester City – für einen Mittelfeldspieler eine enorme Abschlussstärke, wie Oenning versichert: "Ilkay war selbst torgefährlich. Er hat damals in der Jugend fast ausschließlich offensiv gedacht", sagt der 55-jährige Fußballlehrer. Insgesamt 14 Tore in 24 Spielen steuerte Gündogan seinerzeit bei, im März 2008 wurde er erstmals vom DFB in die U18-Nationalmannschaft berufen.

Eklatante Schwächen habe man bei Gündogan vergeblich gesucht. Selbst elementare Neuerungen in puncto Taktik setzte er laut Oenning prompt zufriedenstellend um. "Zur damaligen Zeit wurde das Gegenpressing als taktisches Element immer wichtiger. Den Gegner schon in dessen Hälfte unter Druck zu setzen, musste er lernen. Er musste sich etwas vom Straßenfußball, vom Eins-gegen-Eins lösen und das Verteidigen im Verbund annehmen. Aber auch das hat er aufgrund seiner enormen Spielintelligenz schnell getan."

Nur mit dem zwar obligatorischen, aber für die meisten Fußballer eher unangenehmen Lauftraining ohne Ball konnte sich Gündogan nicht unbedingt anfreunden. "In Zusammenarbeit mit der Uni Bochum haben wir in der Saisonvorbereitung eine Studie durchgeführt: Die Mannschaft wurde in zwei Gruppen aufgeteilt – eine Gruppe absolvierte hochintensive Trainingsspiele, die andere machte Ausdauerläufe. Wir wollten herausfinden, wie sich die verschiedenen Methoden auf die Laktatwerte auswirken", sagt Oenning. Er führt aus:

Neben dem Platz sei indes Gündogan als ruhiger, sehr bodenständiger Zeitgenosse aufgefallen, der jedoch stets meinungsstark aufzutreten wusste. "Ilkay hat nicht viel gesprochen", sagt Oenning. "Aber wenn er etwas gesagt hat, war das wohlüberlegt, seine Worte hatten viel Tiefe."

Oenning hebt mit Blick auf die Sozialisierung Gündogans auch die wichtige Rolle dessen Familie hervor. "Seine Großeltern und Eltern haben sehr darauf geachtet, sich in Deutschland zu integrieren und die Kultur anzunehmen, ohne ihre Wurzeln zu vergessen. Die Familie hat ihn immer bestmöglich unterstützt und ihm alles ermöglicht."

Obwohl sich insbesondere Gündogans Vater Irfan mit dem Szenario, seinen Sohn eines Tages als Bundesliga-Star in den größten Stadien des Landes zu sehen, zu Bochumer Zeiten offensichtlich noch nicht vollumfänglich anfreunden konnte. "Ilkays Vater war das Ganze noch etwas suspekt, dass sein Sohn auf dem Weg zum Fußballprofi war", sagt Oenning. "Er hätte zu Beginn wahrscheinlich lieber gesehen, dass er Kaufmann oder etwas Vergleichbares wird." Dementsprechend war den Gündogans ein erfolgreicher Schulabschluss sehr wichtig. Neben der fußballerischen Förderung waren die Eltern darauf bedacht, dass ihr Sohn das Abitur macht.

"Seine Eltern haben ihm immer die Wichtigkeit und Bedeutung der Schule aufgezeigt", sagt Schulfreund Ferhat Cankaya. "Er erfuhr in Bochum allerdings nicht die nötige Unterstützung", erzählt Oenning, der den VfL im Februar 2008 in Richtung Nürnberg verließ und binnen sieben Monaten vom Co- zum Cheftrainer aufstieg.

"Also meldete Ilkay sich bei mir. Er sagte: 'Trainer, ich komme hier in Bochum nicht weiter. Das Zusammenspiel aus Schule und Fußball funktioniert nicht. Kann ich nicht nach Nürnberg kommen?", berichtet Oenning. "Dann haben wir das auf dem kurzen Dienstweg gelöst. Ich hatte mir damals eigentlich vorgenommen, keine Spieler aus Bochum nach Nürnberg mitzunehmen. Es war in Bochum sowieso schwierig, aus der Jugend zu den Profis zu stoßen, und dann hatten sie mal jemanden, der das Zeug dazu hatte, aber der wollte dann weg. Ich muss sagen, dass der VfL das damals etwas verbockt hat."

DER DURCHBRUCH

Gündogan kehrte dem Ruhrgebiet, in dem er geboren und aufgewachsen war und die Leidenschaft zum Fußball entdeckt hatte, im Winter 2009 im Alter von 18 Jahren den Rücken. 50.000 Euro zahlte der damalige Zweitligist 1. FC Nürnberg dem Vernehmen nach für den Rohdiamanten, der beim Club fortan wieder mit seinem fußballerischen Mentor Oenning zusammenarbeitete.

Bis heute betrachtet Gündogan den Wechsel nach Nürnberg als einen der wichtigsten Schritte seiner Karriere. "Als ich die Nachricht bekommen habe, dass ich meinen ersten Profivertrag unterschreibe, war das erstmal großartig. Ich würde das noch heute als den schönsten Tag meiner Karriere beschreiben", erzählt er.

In der Stadt, die für ihren Lebkuchen und den Christkindlmarkt bekannt ist, wurde ihm nicht nur aus fußballerischer Sicht eine bessere Perspektive aufgezeigt als in Bochum, auch hinsichtlich der schulischen Ausbildung wusste Nürnberg zu überzeugen. Gündogan wurde an der Bertolt-Brecht-Schule (BBS), eine offiziell anerkannte "Eliteschule des Fußballs", die eine enge Kooperation mit dem FCN unterhält, aufgenommen.

"Er kam 2009 über das Nachwuchsleistungszentrum zu uns, das damals von Rainer Zietsch geleitet wurde", sagt BBS-Schulleiter Harald Schmidt, der nach wie vor ein sehr gutes Verhältnis zu seinem ehemaligen Schüler Gündogan pflegt, im Gespräch mit SPOX und Goal. Und es lag auch an der Schule, dass Gündogan nach Nürnberg wechselte.

"Ilkay war damals schon ein junger Mann, der sehr strukturiert war und ganz genau wusste, was er wollte. Er stammt aus einem Elternhaus, in dem die Bildung einen hohen Stellenwert genoss, es wurde sehr viel Wert darauf gelegt, dass Ilkay neben seiner fußballerischen Ausbildung einen guten Schulabschluss hinbekommt”, verdeutlicht Schmidt: “Das scheint in Bochum nicht so gut funktioniert zu haben, der FCN sicherte der Familie hingegen zu, dass wir das hinbekommen würden. Die Zusage, dass er neben der fußballerischen Förderung eine schulische Ausbildung fürs Abitur erhält, war ausschlaggebend, dass Ilkay nach Franken kam."

In der Oberstufe aus Nordrhein-Westfalen auf ein bayerisches Gymnasium zu wechseln, hat schon ganz Anderen, die nebenbei nicht noch eine Karriere als Fußballprofi voranbringen wollten, Schwierigkeiten bereitet. Bayerns Abitur gilt als besonders schwer. "Ilkay hat ein ganz normales Abitur gemacht, mit denselben Anforderungen, die für alle anderen Schüler auch galten", betont Schmidt.

Das Training beim Club und die vielen Auswärtsreisen sorgten dafür, dass Ilkay nicht immer am Unterricht teilnehmen konnte. Die BBS stellte daher einen Lehrer zur Verfügung, der den so genannten Nachführ- und Förderunterricht koordinierte, so dass das Nachwuchstalent des FCN den verpassten Stoff nachholen konnte.

Gündogan habe sich völlig problemlos mit der Situation arrangiert, "weil er eine außergewöhnliche Persönlichkeit und ein unheimlich helles Köpfchen war", wie Schmidt bescheinigt. "Es war für mich und seine anderen Lehrer immer eine Freude, mit ihm zusammenzuarbeiten. Unabhängig von seinen positiven Charaktereigenschaften war Ilkay ein sehr gescheiter Schüler. Durch unsere Hände sind einige Bundesliga-Spieler und Olympioniken gegangen – aber Ilkay ist einer von ihnen, die immer in Erinnerung bleiben werden. Er ist als Mensch eine ganz besondere Erscheinung."

In der Rückrunde der Saison 2008/09 kam Gündogan zunächst nicht zum Einsatz, zählte in nur drei von möglichen 17 Partien zum Kader. "Ich habe ihn anfangs kaum eingesetzt, um ihm die nötige Zeit einzuräumen", begründet Oenning seine damalige Entscheidung. "Erst im letzten Saisonspiel gegen 1860 München habe ich ihn eingewechselt." Beim 2:1-Sieg über die Löwen kam Gündogan in der 61. Minute für Javier Pinola ins Spiel. Nürnberg sicherte sich am Ende der Spielzeit Tabellenrang drei und somit den Relegationsplatz hinter den direkten Aufsteigern SC Freiburg und Mainz 05.

In den entscheidenden Spielen um den Aufstieg ins Oberhaus bekamen es die Franken mit dem Bundesliga-16. Energie Cottbus zu tun. Mit einem deutlichen 3:0-Hinspielerfolg in der Lausitz verschaffte sich der Club eine hervorragende Position fürs zweite Aufeinandertreffen, das Oennings Mannschaft vor heimischer Kulisse nur drei Tage später mit 2:0 für sich entschied. Nach einem Jahr Abstinenz kehrte der Traditionsklub in die deutsche Beletage zurück. Gündogan war in den beiden Begegnungen mit Cottbus nicht zum Einsatz gekommen, sein Durchbruch sollte allerdings nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Nur wenige Wochen danach, in der Vorbereitung auf die anstehende Bundesliga-Spielzeit überzeugte Gündogan seinen Coach auf ganzer Linie. "Ilkay hat alles in Grund und Boden trainiert, sodass niemand mehr an ihm vorbeikam", sagt Oenning. Das Resultat: Die Fans des FCN durften im ersten Pflichtspiel der Saison 2009/10 gleich zwei Gündogan-Debüts bestaunen – das Ruhrpott-Juwel feierte beim 3:0 gegen Dynamo Dresden in Runde eins des DFB-Pokals sowohl sein Startelf- als auch sein Tor-Debüt. Ein Auftritt, der bei den Anhängern Eindruck hinterließ.

"Es gibt in Nürnberg eine Stammkneipe für die ganz hartgesottenen Nürnberg-Fans", sagt Schulleiter Schmidt.

Gündogan spielte sich in der Startelf fest, kam in den ersten sieben Bundesliga-Spielen viermal über die volle Distanz zum Einsatz (eine Vorlage beim 1:2 gegen den FC Bayern München), ehe einer Verletzung den Durchstarter für anderthalb Monate außer Gefecht setzte.

Nürnberg beendete die Hinrunde mit nur drei Siegen auf dem ersten direkten Abstiegsplatz, was zur Folge hatte, dass es für Oenning nicht weiterging. Nach einem 0:3 in Köln präsentierte der Club den ehemaligen Hannoveraner Dieter Hecking als Nachfolger. Für Gündogan kein großes Problem, er mauserte sich unter dem neuen Coach zum unangefochtenen Stammspieler, am 23. Spieltag erzielte der U-Nationalspieler sein erstes Bundesliga-Tor – ausgerechnet gegen den Rekordmeister aus München.

Ilkay Gündogan mit seinem ersten Treffer in der Bundesliga

Ilkay Gündogan mit seinem ersten Treffer in der Bundesliga

"Das Gefühl war unbeschreiblich. Diesen Moment werde ich nie vergessen. Ich war zwar auch in der Jugend nie der Spieler, der sich über Tore definiert hat, aber wenn du dann auch noch gegen den FC Bayern im jungen Alter triffst, weißt du im ersten Moment gar nicht, wohin mit der Freude", erzählt der heutige Nationalspieler.

Trotz der starken Darbietungen Gündogans machte Nürnberg in der Rückrunde nur einen Platz in der Tabelle gut, wahrte als 16. aber immerhin die Chance, die Klasse über den Umweg der Relegation zu halten. Der Gegner war der FC Augsburg.

Christian Eigler entpuppte sich abermals als echter Spezialist für die Relegation. Der Angreifer, der mit zwei Toren gegen Cottbus entscheidenden Anteil am Aufstieg der Franken gehabt hatte, besorgte im Hinspiel, das in Nürnberg stattfand, kurz vor Schluss per Kopf das 1:0. Doch die Freude über den Teilerfolg wurde etwas getrübt: Gündogan hatte sich im ersten Duell mit den Fuggerstädtern am Sprunggelenk verletzt, sein Einsatz für das entscheidende Match in Augsburg galt lange als fraglich.

Zum Leidwesen des FCA wurde Gündogan nicht nur rechtzeitig fit, er besorgte mit einem Schuss aus rund 20 Metern in der 34. Minute auch die wichtige Führung. Nach dem Seitenwechsel ließ Augsburgs Ibrahima Traore sich zu einer Tätlichkeit hinreißen, ehe Eric Maxim Choupo-Moting per Elfmeter den Klassenerhalt perfekt machte.

Ilkay Gündogan schießt den 1. FC Nürnberg zum Klassenerhalt

Ilkay Gündogan schießt den 1. FC Nürnberg zum Klassenerhalt

An der Bertolt-Brecht-Schule war Gündogan – hauptsächlich bei den jüngeren Mitschülern – spätestens nach der starken Rückrunde und seiner tragenden Rolle in der Relegation zu einem kleinen Star avanciert.

"Wir hatten einmal ein Gespräch in meinem Büro. Ich weiß gar nicht mehr genau, worum es ging", schildert Schmidt. "Als wir das Gespräch beendet hatten, fragte er mich, ob er noch fünf Minuten länger bleiben könnte. Ich sagte: 'Klar, kann ich Dir noch einen Kaffee oder etwas Anderes anbieten? Warum möchtest Du denn länger bleiben?' Er sagte: 'Ich würde gerne das Ende der Pause abwarten.' Der Hintergrund war, dass er vor allem für die Fünftklässler nicht der klassische Mitschüler war, sondern der Fußballer vom Club – und der Club ist in Nürnberg nun mal ein großes Ding."

Bis auf derlei Ausnahmen sei Gündogan an der BBS aber weitestgehend nicht als "kommender Stern am Fußballhimmel" wahrgenommen worden, sagt Schmidt. Vielmehr habe die Schule neben dem Fußballprofi-Dasein eher "eine Art Schutzraum" gedient.

"Ihm hat das gut gepasst, weil er immer sehr bescheiden war." Als Grund dafür nennt Schmidt das, was sämtliche Gesprächspartner nennen. "Die Familie hat ihm immer wieder gesagt, dass er bescheiden und bodenständig auftreten soll – das war bei ihm zwar gar nicht notwendig, aber trotzdem war es seinen Eltern sehr wichtig", sagt Schmidt. "In Nürnberg hat Ilkay nicht in einem Penthouse gewohnt wie so manch anderer Jungstar, sondern die Familie hat ein kleines Reihenhäuschen gemietet, in dem Ilkay mit seinem Bruder und seiner Mutter gewohnt hat."

Wie zuvorkommend Gündogans Familie sich betrug, belegt eine weitere Anekdote Schmidts: "Ich war einmal mit seinem Vater und Onkel im Stadion. Wir saßen auf der Tribüne, neben uns saß ein ganz wilder Club-Fan, der auf Fränkisch auf übelste Art und Weise herumgebrüllt und jeden beleidigt hat, der ihm gerade in den Sinn kam. Es war der Familie Gündogan so peinlich, dass ich neben diesem Fan sitzen musste – nach der Halbzeit haben sich Ilkays Vater und sein Onkel daneben gesetzt, um mich von ihm fernzuhalten. Das fand ich sehr charmant und beeindruckend."

Nach erfolgreicher Relegation erlebte der FCN vor der Saison 2010/11 einen recht großen Umbruch. Choupo-Moting kehrte nach Leihe zum Hamburger SV zurück, Dennis Diekmeier zog es ebenfalls zu den Rothosen, zudem endeten die Leihen von Andreas Ottl und Breno (beide FC Bayern) sowie Marcel Risse (Leverkusen). Im Gegenzug fanden verheißungsvolle Talente wie Mehmet Ekici (Leihe / FC Bayern), Robert Mak (Manchester City II), Almog Cohen (Maccabi Netanya) oder Jens Hegeler (Leihe / Leverkusen) ihren Weg ins Frankenland. Aus der eigenen Zweitvertretung stießen Philipp Wollscheid und im weiteren Verlauf Timothy Chandler und Marvin Plattenhardt zu den Profis.

Auch der damals 21-jährige Julian Schieber wechselte in jenem Sommer nach Nürnberg. Der Angreifer kam per Leihe für ein Jahr vom VfB Stuttgart. Bereits beim ersten Aufeinandertreffen habe Gündogans freundliche Art Eindruck hinterlassen, wie Schieber SPOX und Goal erzählt: "Ich habe Mehmet Ekici am Parkplatz getroffen, er kam auch neu als Leihspieler und hat auf Ilkay gewartet", sagt Schieber, "Ilkay hat uns beide gleich herzlich empfangen."

Herzlich empfangen worden sei Schieber auch augenblicklich bei Gündogans Familie. "Ihre Gastfreundlichkeit hat mir sehr dabei geholfen, mich in Nürnberg einzuleben, Ilkays Haustür stand für Familie und Freunde jederzeit offen, ich war vom ersten Tag an willkommen und habe mich wohlgefühlt", schwärmt der damalige U21-Nationalspieler.

Das junge Trio Gündogan, Schieber, Ekici war von Saisonbeginn an gesetzt, nach vier Spieltagen sprangen für den Club jedoch nur vier Punkte heraus, ehe Schieber am fünften Spieltag gegen seinen Arbeitgeber Stuttgart mit einem Assist und einem Tor den ersten Sieg herausschoss.

"Bei Nürnberg war die Mannschaft quasi in zwei Generationen unterteilt. Die Generation alt mit Schäfer, Wolf, Nilsson, Simons und Eigler und die Generation jung, der Ilkay, Mehmet, Wollscheid, Almog Cohen und ich angehörten", sagt Schieber. "Wir, die Jungspunde, waren naiv und verspielt, haben uns keinerlei Sorgen gemacht. Jeder Tag Bundesliga war für uns ein Geschenk – und die Alten haben uns erzogen."

Der FCN fing sich, arbeitete sich bis zum zwölften Spieltag auf einen einstelligen Tabellenplatz hoch. Auch, weil Gündogan in drei aufeinanderfolgenden Partien vier seiner insgesamt fünf Saisontore erzielte.

Ilkay Gündogan schießt gegen Werder Bremen seinen ersten Doppelpack in der Bundesliga

Ilkay Gündogan schießt gegen Werder Bremen seinen ersten Doppelpack in der Bundesliga

Besonders Gündogans erstes Saisontor, das 1:0 gegen Wolfsburg, blieb Schulleiter Schmidt im Gedächtnis. Er lässt die Szene noch einmal Revue passieren: "Ilkay zog ab und der Ball landete im unteren Eck. Ich habe natürlich noch einmal ganz anders mitgefiebert. Es war für einen kurzen Moment ganz still, dann folgte stimmungstechnisch die Explosion im Stadion. Ganz ähnlich hat er die Situation auch wahrgenommen, das hat er mir im Nachhinein erzählt."

Nürnberg überwinterte im gesicherten Mittelfeld auf Platz elf, was nach dem Fast-Abstieg zuvor durchaus als Erfolg zu werten war. Dabei hatte die neuformierte Hecking-Truppe ihr Potenzial noch längst nicht gänzlich abgerufen. Auf eine 0:1-Niederlage gegen Borussia Mönchengladbach zum Rückrundenauftakt folge eine beeindruckende Ungeschlagen-Serie von acht Spielen, in deren Rahmen die Clubberer 20 Zähler sammelten. Plötzlich war sogar der internationale Wettbewerb in Sicht. Allen voran Gündogan, Schieber und Ekici wussten zu gefallen, das Trio hatte mittlerweile Begehrlichkeiten bei größeren Vereinen geweckt.

Der anhaltende Erfolg animierte die "jungen Wilden" dazu, auch mal ins Nürnberger Nachtleben einzutauchen. "Ich bin der Meinung: Wer gewinnt, darf auch feiern", sagt Schieber.

Gemeinsames Partymachen als Teambuildingmaßnahme? Vielleicht. Schieber hebt jedoch ein anderes Mannschaftsritual hervor: "Das Wichtigste für den Erfolg war der wöchentliche Kinoabend mit dem Großteil des Teams. Jede Woche einen lockeren Abend zu verleben, hat extrem gutgetan und dazu beigetragen, dass wir eine eingeschworene Gemeinschaft wurden."

Die eingeschworene Gemeinschaft schloss die Saison auf dem sechsten Tabellenrang ab. Eine bessere Platzierung hatte keine Nürnberger Mannschaft seit der Spielzeit 1987/88 erreicht (2006/07 ebenfalls Sechster), bis heute konnte der Club an den Erfolg von Gündogan und Co. nicht mehr anknüpfen.

"Die Zeit in Nürnberg", sagt Gündogan, "war extrem schön. Wir hatten charakterlich wirklich eine überragende Mannschaft. Die Mischung aus Jung und Alt war perfekt. Du hattest als junger Spieler noch ein Stück weit deine Ruhe und Freiheiten privat und standest nicht so sehr im Mittelpunkt wie vielleicht beim FC Bayern oder dem BVB. Auch im Nachhinein kann ich sagen, dass ich mir zum damaligen Zeitpunkt keinen besseren Entwicklungsschritt hätte vorstellen können."

Im Frühling 2011 legte Gündogan erfolgreich das Abitur an der BBS ab. Seine Dankbarkeit brachte er auf besondere Weise zum Ausdruck. "Als er das Abitur in der Tasche hatte, lud er alle ehemaligen Lehrer zum Italiener ein. Das war ein wunderbarer Abend mit tollen Gesprächen", sagt Schmidt. "Im Anschluss habe ich ihn gefragt, ob wir einen symbolischen Trikottausch machen könnten. Er bekam ein Trikot von unserer Schule, die Schule erhielt im Gegenzug ein Trikot von ihm. Das war tatsächlich ein wehmütiger Moment und dieses Trikot hat bis heute einen Ehrenplatz."

Kurze Zeit später endete Gündogans Zeit in Nürnberg. Borussia Dortmund lockte den Shootingstar im Sommer für eine Ablösesumme von rund fünfeinhalb Millionen Euro zurück ins Ruhrgebiet und stach die reichlich vorhandenen Nebenbuhler aus.

"Ich wollte ihn eigentlich zum HSV holen, das war ein ziemlich harter Kampf", verrät Förderer Oenning. "Er musste sich entscheiden. Er hat sich für Dortmund entschieden. Gott sei Dank ..."