NACH DEN STERNEN GREIFEN

Der Ball ist rund, ein Spiel dauert 90 Minuten und aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen – das weiß jedes Kind. Denn ein WM-Titel, der bleibt. Für immer. In Russland will die deutsche Nationalmannschaft zum fünften Mal triumphieren. Zuvor blickt SPOX noch einmal zurück auf die bisherigen vier Sternstunden: vom Wunder von Bern über die Heim-WM 1974 und Andreas Brehmes Elfmeter in Rom bis hin zu Mario Götzes magischem Moment in Rio.

Der Stern von Bern

Per aspera ad astra

("Durch das Raue zu den Sternen")

Als die deutsche Nationalmannschaft am 11. Juni 1954 in Karlsruhe in den Zug nach Basel steigt, wagen nicht einmal die kühnsten Optimisten, vom WM-Titel zu träumen. Schließlich ist es das erste große Turnier, an dem Deutschland nach dem 2. Weltkrieg teilnehmen darf: Für die WM 1950 in Brasilien war man noch ausgeschlossen, erst 1949 hat die FIFA das Spielverbot gegen Deutschland aufgehoben. Acht Jahre lang hat es keine Länderspiele mit deutscher Beteiligung gegeben.

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Andererseits haben sich gerade mal 43 Mannschaften für die WM-Endrunde beworben. 34 Teams spielen schließlich 14 Teilnehmer aus – Gastgeber Schweiz und Titelverteidiger Uruguay sind gesetzt –, Deutschland erwischt dabei eine machbare Gruppe gegen das Saarland und Norwegen.

Doch was kann man wirklich erwarten von diesem zusammengewürfelten Kader von Bundestrainer Sepp Herberger? 22 Amateure, keine Legionäre, wirkliche Stars sind eigentlich nur Kapitän Fritz Walter und Verteidiger Jupp Posipal. "Wir geben unser Bestes", hat man sich Ottmar Walter zufolge vorgenommen, "von mehr konnten wir eigentlich nicht ausgehen."

In der Heimat drückt dennoch eine ganze Nation die Daumen. Eine vom Krieg immer noch zerschmetterte und demoralisierte Nation, besetzt und geteilt, auf der Suche nach Stolz und neuer Identität. Was kümmert es da, dass die Spieler eigentlich nur regional bekannt waren? Neue Helden brauchte das Land.

Es sollte sie bekommen.

Sepp Herbergers Meisterleistung

Will man einen Architekten des Wunders von Bern benennen, so ist es zweifellos Sepp Herberger. 28 Jahre lang leitet der "Chef" die Geschicke der Nationalmannschaft, schon Jahre vor der WM unermüdlich auf der Suche nach dem kleinsten Vorteil. Von Spielfeld zu Spielfeld knattert sein Opel Olympia, um die Form seiner Spieler zu überprüfen, daheim hängt er an einem seiner vier Telefonapparate oder tippt aufmunternde Briefe auf der Schreibmaschine.

Wie etwa an Tankstellenbesitzer Ottmar Walter. Der findet eines Tages folgende Worte im Briefkasten: "Ich hoffe, dass im neuen Geschäft alles gut und flott läuft. Wenn sich dann alles zur Zufriedenheit eingespielt hat, denken Sie daran, dass es gilt, im Sommer in Höchstform zu sein."

Für die WM setzt Herberger vor allem auf Teamgeist und klare Hierarchien. Beim ersten Lehrgang im Mai wird nicht trainiert, dafür gibt es Minigolf und Versteckspiele im Schwarzwald. Über Führungsspieler Fritz Walter und seinen Kaiserslauterer Block wird die Startelf aufgebaut, doch auch den Ersatzspielern weiß Herberger zu vermitteln, wie wichtig sie für den Erfolg sind. Keine leichte Aufgabe, denn Auswechslungen sind damals noch nicht erlaubt.

Im Schweizer Trainingslager in Spiez regiert Herberger als "sanfter Tyrann". Selten wird er laut, aber er hat seine Augen und Ohren überall, und wenn dann doch einmal über die Stränge geschlagen wird, gab es einen wissenden Blick, dazu einen flotten Spruch in seiner unverwechselbaren pfälzischen Mundart.

Heimlich ein Bier auf dem Balkon? Kaum ist die Flasche geköpft, steckt Herberger seinen Kopf ins Zimmer: "Männer, lasst's euch gut schmecke."

In seiner Taktik lässt sich Herberger auch vom immensen öffentlichen Druck nicht beirren. Als Deutschland mit den übermächtigen Ungarn in eine Vorrundengruppe gelost wird, stellt er gegen das beste Team der Welt eine B-Elf auf. Diese geht mit 3:8 derart unter, dass nicht nur die 20.000 deutschen Schlachtenbummler pfeifen, sondern ihm Zuschriften aus der Heimat gar den Strick empfehlen.

Doch der Kniff geht auf: Im folgenden Entscheidungsspiel der Gruppe gegen die Türkei gibt es ein grandioses 7:2, und als mit viel Glück und einer herausragenden Leistung von Torhüter Toni Turek im Viertelfinale Jugoslawien mit 2:0 in die Knie gezwungen ist, herrscht plötzlich Aufbruchsstimmung: Jubelnd trägt man die siegreichen Spieler vom Platz. Das 6:1 gegen Österreich im Halbfinale soll eines der besten Spiele der deutschen Länderspielgeschichte werden.

Im Finale wartet erneut Ungarn.

Angeführt von "Major" Ferenc Puskas, gespickt mit Weltklasse wie "Goldköpfchen" Sandor Kocsis oder Nandor Hidegkuti, sind die Magyaren zu diesem Zeitpunkt das unangefochten beste Team der Welt. 32 Spiele ist man ungeschlagen, als es im Berner Wankdorf-Stadion um den Titel geht, Torverhältnis: 144:33. In der Heimat werden bereits Denkmäler errichtet und Sonderbriefmarken gedruckt, so sicher scheint der Erfolg. Unter den Journalisten im Stadion votieren 39 für Ungarn, ein einziger traut Deutschland die Überraschung zu.

"Ich war guter Dinge und ging wie zu einem prächtigen Schauspiel, in dem die Rollen klar verteilt sind. Wir als Sieger, Deutschland als Besiegter", erinnert sich Torschützenkönig Kocsis später.

Die Siegerelf von Bern: Deutschland spielt das damals vorherrschende 2-3-5: Vor Torhüter Turek die Verteidiger Posipal und Kohlmeyer, das Mittelfeld mit der Läuferreihe Eckel und Mai und dem zentralen Stopper Liebrich, im Sturm Rahn, Morlock, Schäfer und die Walter-Brüder.

Die Siegerelf von Bern: Deutschland spielt das damals vorherrschende 2-3-5: Vor Torhüter Turek die Verteidiger Posipal und Kohlmeyer, das Mittelfeld mit der Läuferreihe Eckel und Mai und dem zentralen Stopper Liebrich, im Sturm Rahn, Morlock, Schäfer und die Walter-Brüder.

Die Vorzeichen scheinen gut, als Schiedsrichter William Ling die Partie vor 62.471 Zuschauern am 4. Juli 1954 um 17 Uhr anpfeift. Herberger hat den Gegner genau gescoutet und sogar Spione in dessen Hotel geschickt, Puskas geht angeschlagen ins Spiel, dazu regnet es in Strömen: "Fritz-Walter-Wetter", perfekt, um die überragenden Techniker der Ungarn an die Kette zu legen – schließlich haben nur die Deutschen um Zeugwart Adi Dassler die revolutionären langen Schraubstollen unter den Füßen.

Nach acht Minuten steht es 2:0 für Ungarn.

"Seien wir nicht so vermessen, dass wir denken, [dieser Tag] müsste erfolgreich ausgehen", scheint sich Radio-Reporter Herbert Zimmermann bereits in das Unvermeidliche zu fügen, als der Favorit in Führung geht. Unter gütiger Mithilfe der deutschen Abwehr treffen Puskas und Czibor, jetzt muss wahrhaft ein Wunder her.

Aufgeben will auf deutscher Seite aber niemand. Vielleicht ist es das Pfeifen im Walde, vielleicht ein von Herberger eingeimpftes, unerschütterliches Selbstvertrauen, vielleicht der Glaube an die eigene Stärke. "Das macht nix, das schaffen wir noch", ruft auf jeden Fall Max Morlock – und geht mit gutem Beispiel voran, als er einen Schuss von Rahn per Grätsche nur wenige Minuten später über die Linie drückt. Ecke Fritz Walter, Rahn, 2:2, Ausgleich.

Die folgenden 72 Minuten geraten zur Nervenschlacht. Chancen auf beiden Seiten, vom Klassenunterschied ist nichts mehr zu spüren. "Einer für alle, alle für einen", feuert Herberger seine Spieler in der Halbzeitpause an, "ihr wisst, worum es geht."

"Nach der zweiten Halbzeit rechnen wir ab", sagt Morlock zu Ottmar Walter auf dem Weg zum Anstoßpunkt.

Und dann. Der "Boss" Helmut Rahn aus dem Hintergrund.

Zimmermanns sich überschlagender Jubel ist längst deutsches Kulturerbe: "Tor! Tor! Tor! Tor! Tor für Deutschland! Halten sie mich für verrückt! Halten sie mich für übergeschnappt!"

Wie es der Torschütze selbst erlebt, ist nicht ganz so geläufig. In seinem Buch "Mein Hobby: Tore schießen" schildert Rahn das 3:2 wie folgt:

Ausgerechnet Rahn wird mit seinem Doppelpack zum entscheidenden Spieler im Finale. Begonnen hat er das Turnier auf der Bank, nach dem 3:8 in der Vorrunde gibt er im 'Klub der Unzufriedenen' so lange den Stinkstiefel, bis es eine Gardinenpredigt des Trainers setzt. Doch in der K.o.-Runde stellt Herberger den Rechtsaußen auf. Rahn, der bis dahin vor allem Zimmergenosse Fritz Walter aufmuntern soll, dankt es ihm.

"Aus! Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist Aus!"

Wie soll man das Wunder von Bern bewerten? Es ist zweifellos ein, vielleicht das einschneidende Ereignis der ersten Jahre der Nachkriegsgeschichte. Für einige Historiker ist der 4. Juli sogar das inoffizielle Gründungsdatum der Bundesrepublik.

Das mag etwas zu hoch gegriffen sein. Die fast schon mythische Überhöhung von Bern entwickelte sich erst über die Jahrzehnte. Und doch gilt: Als die Mannschaft nach Deutschland zurückkehrt und mit einer Million Menschen in München den Titel feiert, hat sie der Nation – wie übrigens auch der DDR – einen unbezahlbaren, kollektiven Moment geschenkt.

Ottmar Walter erinnerte sich 2006 in der SPORT BILD: "Als wir dann als Weltmeister zurückkamen, habe ich jedem, der mich gefragt hat, gesagt: 'Jetzt weiß die ganze Welt wieder, wo Deutschland liegt.' Und so war es ja auch tatsächlich."

Der Stern von München

"Die Sterne lügen nicht"

(Friedrich Schiller)

20 Jahre nach Bern steht für den DFB die erste Heim-WM an. 20 Jahre sind das, was man gemeinhin als "eine Generation" bezeichnet, im Fußball mögen es wohl zwei Generationen sein. Zwei Generationen, die eine so rasende Veränderung miterlebt haben, wie es sie im Fußball davor und danach wohl selten gegeben hat.

Denn mit den unbekannten Underdogs von Herberger hatte die Truppe von Helmut Schön nichts, aber auch gar nichts mehr gemein.

Wo 1954 noch Amateure nach Bern aufgebrochen sind, mit großen Augen auf ins Unbekannte, ist diese Nationalmannschaft als Europameister neben Holland einer der Favoriten auf den Titel. In einem Land, dass wieder integriert worden ist in die internationale Gemeinschaft, mit brummender Wirtschaft und funkelnden, hochmodernen Stadien.

Schön kann auf eine Reihe von veritablen Weltstars zurückgreifen. Spieler wie Franz Beckenbauer, Günter Netzer, Sepp Maier, Jupp Heynckes oder Sepp Maier sind allesamt im besten Fußballalter und überzeugen international auch mit ihren Klubs: Die Bayern, die sieben Spieler im Aufgebot stellen, haben gerade den ersten von drei Europapokalsiegen in Folge eingefahren.

Und diese Stars sind nicht nur außerordentlich gut mit dem Ball am Fuß. Sie lassen sich das mittlerweile auch außerordentlich gut bezahlen. Gehälter, Sponsoren- und Buchverträge, Fanartikel: Fußballer sind mittlerweile auch findige Geschäftsmänner. Wo ein Ottmar Walter 1954 noch an der eigenen Tankstelle geschuftet hat, fährt ein Uli Hoeneß 1974 im nagelneuen Porsche Carrera vor. Mit 22.

Verständlich, dass Schön seine liebe Müh und Not hat, den Laden zusammenzuhalten. Man könnte die WM 1974 als "Turnier der Aufreger" betiteln, wie wir gleich sehen werden.

Wobei man den Spielern zugutehalten muss, dass einige dieser Aufreger natürlich auch sportlicher Natur waren.

Und letzten Endes ging ja dann doch alles gut aus.

Der "Geist von Malente" wird bis heute bemüht, wenn es darum geht, aus Einzelspielern ein Team zu formen. Schließlich gastiert die DFB-Elf nicht nur 1974 in der dortigen Sportschule mitten im Nirgendwo Schleswig-Holsteins, sondern unter anderem auch 1986 und 1990. Unter Bundestrainer Franz Beckenbauer.

Ob der Kaiser sich das 1974 schon hätte erträumen können, sei mal dahingestellt. Bei seinem ersten Aufenthalt in Malente sorgt die spartanische Schule bei den 22 jungen Männern auf jeden Fall für einen ausgewachsenen Lagerkoller. Man ist mittlerweile eben Luxusvillen gewohnt, keine 80 Zentimeter breiten Betten und Gemeinschaftsklos auf dem Flur. Einzige Freizeitbeschäftigung: Zwei Tischtennisplatten im Dachgeschoss, rund um die Uhr in Betrieb.

Die angespannte Sicherheitslage nach dem Terror 1972 tut ihr Übriges. Das Gelände wird von GSG9-Einheiten mit Schäferhunden bewacht, die Spieler dürfen es nur selten verlassen. Was von Beckenbauer auf der BILD-Titelseite mit "In Malente wird man wahnsinnig" quittiert wird. Andere büxen auf der Jagd nach (ihren) Frauen einfach aus.

Wie heißt es? "Wenn du gut in etwas bist, tue es nie umsonst."

Von "umsonst" kann bei einer ausgelobten Titelprämie von 30.000 Mark freilich keine Rede sein – doch die hat es schon vier Jahre zuvor gegeben. Bei einer Heim-WM muss doch mehr drin sein, und überhaupt: Angeblich würden die Italiener das Vierfache bekommen.

Also feilschen die Spieler, die mindestens 75.000 Mark fordern, zehn Tage vor dem Auftaktspiel gegen Chile bis tief in die Nacht. Und dabei geht es alles andere als freundlich zu. Beckenbauer und Co. drohen mit Streik, von "schändlicher Erpressung" spricht man beim DFB und bringt sogar 22 Ersatzmänner ins Spiel.

So tief sind die Gräben, dass Schön sich angesichts des "Sauhaufens" eine Zugverbindung nach Hause heraussucht und Jungstar Breitner die Koffer für das wartende Taxi packt.

Um halb zwei Uhr nachts einigt man sich endlich auf 15.000 Mark Start- und 60.000 Mark Titelprämie. Die Krise, in dieser Form in der DFB-Geschichte einzigartig, ist überwunden. Nicht alle sind zufrieden, doch der Kaiser spricht ein Machtwort. Es wird nicht das letzte bleiben.

Ein einziges Mal spielt die BRD gegen die DDR. Ein Tor fällt in diesem einen Spiel. Jürgen Sparwasser erzielt dieses eine Tor, und ein schönes ist es noch dazu. Langer Ball vom rechten Flügel nach einem Konter, den sich Sparwasser per Kopf am Strafraum vorlegt und damit Höttges und Vogts narrt. Er verzögert überlegt und schießt dann über den schon am Boden liegenden Maier ein.

Für den 26 Jahre alten gelernten Maschinenbauer der Höhepunkt seiner Karriere.

Für Deutschland der Wendepunkt auf dem Weg zum Titel.

Nach zuvor schon nicht gerade berauschenden Leistungen liest man sich auf dem Weg von Hamburg zurück nach Malente die Leviten. Beckenbauer hat genug gesehen und nimmt sich vor allem den jungen Hoeneß zur Brust: "Ich putzte jeden runter, der mir vor die Augen kam." Der Geschäftssinn des späteren Bayern-Managers hat sich negativ auf seine Leistung ausgewirkt, vermutet der Kapitän.

Den Segen des  Bundestrainers, dem derlei Auftritte ganz und gar nicht lagen, hat der Kaiser: Hoeneß fliegt erst einmal aus der Startelf, Mittelfeld und Sturm werden für die weiteren Spiele umgebaut. Unter anderem rückt Schlitzohr Bernd Hölzenbein ins Spiel, der im Finale noch eine große Rolle zu spielen hat.

Es wird nicht langweilig, selbst nachdem Schön – mit tatkräftiger Hilfe Beckenbauers – endlich die Weltmeister-Elf findet. Siege gegen Jugoslawien (2:0) und Schweden (4:2) sorgen dafür, dass es gegen die überraschend starken Polen zum "Endspiel vor dem Endspiel" kommt: Ein Sieg und die Gäste stünden im Finale.

Die anschließende "Wasserschlacht von Frankfurt" geht in die DFB-Geschichte ein, als Spiel das eigentlich niemals hätte stattfinden dürfen, aber gerade deswegen epische Bilder bietet. 14 Liter pro Quadratmeter verwandeln das Waldstadion in eine Sumpflandschaft, doch eine Verlegung ist keine Option, schließlich muss das Finale vier Tage später planmäßig über die Bühne gehen.

Manches hat sich eben bis heute nicht geändert.

Irgendwann schwimmt sich Gerd Müller frei und trifft zum 1:0-Sieg. Sein 13. und vorletztes Tor bei einer WM – denn der "Bomber" hat insgeheim längst beschlossen, nach dem Finale bei der Nationalmannschaft aufzuhören.

Einen Treffer hat "kleines, dickes Müller" aber wie gesagt noch in petto. Aufgespart für das Team, in dem er wie ein Fremdkörper gewirkt hätte – und das ihn ob seiner müllernden Spielweise wohl insgeheim ein bisschen verachtet.

Holland. Jenes Zauberfußball spielende Kollektiv um Maestro Johan Cruyff. "Totaal voetbal", ein spielerischer Wirbelwind, bei dem auch die Defensive munter nach vorn geht und der Sturm absichert. Alles im Fluss, alles auf den Ball, alles nach vorn, und die Welt staunt. Weltmeister Brasilien etwa wird in der Zwischenrunde 2:0 geschlagen und verneigt sich demütig vor dem besten Team der Welt.

Cruyff und seine Mannen sind Künstler und so blicken sie mit Geringschätzung auf den Gegner, der es bei all seiner Klasse in dieser Hinsicht nicht mit ihnen aufnehmen kann. "Den Franz haben sie respektiert", erinnert sich Hölzenbein später im Interview mit der SPORT BILD, aber eben nur den.

Doch während Oranje die Deutschen nicht nur schlagen, sondern demütigen will, aufgepeitscht von der Kriegsrhetorik von Trainer Rinus Michels, hat Schön sein Team auf eben diese Schwäche perfekt eingestellt."Der Mann mit der Mütze", dieser Feingeist, dem die Turbulenzen der vergangenen Wochen stets auf Herz und Magen geschlagen sind, weist sein Team an, bloß keine Schwäche zu zeigen: "Schaut ihnen tief in die Augen, demonstriert Selbstvertrauen!"

Manchmal wiederholt sich Geschichte eben doch.

Blickt man außerhalb der deutschen Grenzen auf die WM 54 zurück, denkt man nicht an das Wunder von Bern, sondern an das übermächtige und doch ungekrönte Ungarn um Puskas. 74 ist es ähnlich: Kaiser Franz, natürlich, aber vor allem blieb der "Totale Fußball" in Erinnerung, mit einem Cruyff, dem man den Jules Rimet gegönnt hätte.

Wie Puskas scheint der früh auf dem Weg zur Erfüllung seiner Träume: Deutschland hat den Ball noch nicht berührt, da fällt Hoeneß im Strafraum den großen Meister höchstpersönlich. Johan Neeskens jagt den Elfmeter mit Urgewalt in die Mitte, 1:0 nach 63 Sekunden.

Und wie gegen Ungarn kommt Deutschland zurück, wie damals wächst das Kollektiv über sich hinaus. Als Hölzenbein im Strafraum fällt ("Alle pfeifen Elfmeter – es geht gar nicht anders", verneint der noch Jahrzehnte später eine Schwalbe), fehlt Hoeneß der Mumm. Müller wäre also an der Reihe, doch ein Blick in die wilden Augen Breitners und er weiß: Der ist drin. Wie später Andi Brehme schiebt Breitner links ins Eck – und jubelt schon, als der Ball die Linie noch nicht überquert hat.

Es folgt der letzte Auftritt des Bombers mit dem Adler auf der Brust. "Uns fehlte ein Mann wie Gerd Müller", bilanziert ein geläuterter Johan Cruyff später.

Übersteiger Bonhof auf der rechten Seite, Antritt und flache Hereingabe zu Müller. Der Ball verspringt, doch Müller ist schneller als alle anderen, läuft zurück, Drehung, Schuss, Tor. Nicht ganz wie 1954, aber ein bisschen "aus dem Hintergrund" ist schon dabei, damals im Münchner Olympiastadion …

Wie soll man das Phänomen Gerd Müller beschreiben? "Dann macht es bumm, dann gibt’s ein Tor ...", jene berühmten Liedzeilen, sie treffen es ganz gut. Tore eben, das ist Gerd Müller.

Rudi Michel kommentiert den Siegtreffer in der ARD mit den Worten "Müller … und 2:1!" 

Dann schweigt er. Müller, Tor, damit ist alles gesagt.

Der Stern von Rom

"Erfolg ist wie ein scheues Reh. Der Wind muss stimmen, die Witterung, die Sterne, der Mond."

(Franz Beckenbauer)

Diese Augen.

Wer sich Andreas Brehmes entscheidenden Elfmeter im Finale gegen die Argentinier anschaut, der wird wie magisch von dessen Augen angezogen, in den Sekunden vor dem Anlauf. Klein sind sie, liegen tief in den Höhlen und stechen doch hervor.

Brehme hat ein markantes Gesicht. Hager, leicht eingefallene Wangen, mit Adlernase und spitz zulaufendem Kinn. Es ist, passend zum WM-Gastgeber und zu seinem Arbeitgeber Inter Mailand, das Gesicht eines Cäsaren. Ein Cäsar mit blonder, verschwitzter Mähne.

Und doch sind es diese Augen, die, man muss es so sagen, ins Auge springen. Nach unten auf den Ball gerichtet, verraten sie … ja was eigentlich? Äußerste Konzentration. Eine grimmige Entschlossenheit. Vielleicht auch eine ganz, ganz leichte Nervosität?

Schließlich weiß er, was die ganze Nation ein paar hundert Kilometer nördlich weiß. Kommentator Gerd Rubenbauer betont es noch einmal, während Brehme bereit steht und auf den Pfiff von Schiedsrichter Edgardo Codesal wartet.

Der Mann, der da im Kasten der Gauchos steht, er hat sich im Turnierverlauf einen Ruf erarbeitet, der dem deutschen Schützen jetzt ins Gesicht starrt. Sergio Goycochea hat ein alterndes, trotz Diego Maradona seltsam zahnloses Argentinien, immerhin Titelverteidiger, fast im Alleingang ins Finale geführt. Je zwei Strafstöße hält er im Viertel- und Halbfinale gegen Jugoslawien und Italien und lehrt die Gegner das Fürchten.

Ihm ist es zu verdanken, dass die Zuschauer im Stadio Olimpico ein derart einseitiges Endspiel zu sehen bekommen, wie es in der WM-Geschichte selten eines gegeben hat. Den Argentiniern, die im ganzen Turnier gerade einmal fünf Tore geschossen haben, Anti-Fußball vorzuwerfen, wäre an der Grenze zur Schönfärberei: Nach vorn kommt nichts, Maradona wird vom Schatten seines Namensvetters Buchwald abgemeldet.

Also wird zerstört. Nicht nur das Spiel, sondern auch der Gegner. Unglaubliche fünf Spieler fehlen in Rom gesperrt, im Laufe des Abends kommen Platzverweise gegen Monzon und Dezotti dazu. 23:1 Torschüsse für Deutschland.

Das soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch Deutschland Schwierigkeiten hat, hochkarätige Chancen zu kreieren. Und so weiß Brehme, als Völler im Strafraum zu Boden geht und Codesal etwas überraschend auf Elfmeter entscheidet, dass es womöglich keine Gelegenheiten mehr geben wird. Fünf Minuten sind noch zu spielen.

Rudi Völler gibt ihm einen Satz mit, der ebenfalls nicht von der Hand zu weisen ist: "Wenn du den reinmachst, sind wir Weltmeister."

Und so wartet Brehme, während der Kasten vor seinen Augen "immer kleiner" wird. Fast zwei Minuten dauert es, bis die Proteste der Argentinier abgeebbt sind und der Ball freigegeben ist. Zwei Minuten, die ihm um ein Vielfaches länger scheinen, wie er später in Interviews erzählen wird. Wer will es ihm verdenken?

Warum Brehme und nicht sein Zimmergenosse Lothar Matthäus? Der eigentliche Schütze hat eine fantastische WM gespielt und befindet sich mit 29 auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft. Sein Pass auf Völler hat den Strafstoß erst provoziert.

Doch Matthäus hat sich auffällig schnell davongeschlichen. Aus Angst vor Goycochea? "Dieser Teufel im argentinischen Tor hatte wieder die Ecke", wird Co-Kommentator Karl-Heinz Rummenigge am Mikrofon ein paar Sekunden später mit widerwilliger Bewunderung feststellen.

Der Grund ist denkbar einfach: Materialschaden. Matthäus hat, wie er viele Jahre später öffentlich macht, in der Pause die Schuhe wechseln müssen. Seit 1988 hat er in einem Paar gespielt, das zuvor Maradona gehörte. Ausgerechnet gegen Maradona gibt nun die Sohle nach, ein Stollen bricht. Seine Ersatzschuhe sind in der Kabine nicht zu finden, vom Zeugwart gibt es schließlich ein unbekanntes Modell, und das auch noch in falscher Größe: "Ich war, ich gebe es zu, total verunsichert."

Der Glaube an Brehme jedoch ist umso größer. Der hat auch schon im Halbfinale gegen England vom Punkt getroffen. Flach ins vom Schützen gesehen linke Eck.

Das weiß Goycochea natürlich. Und Brehme weiß, dass er es weiß. Beide nehmen in diesen ewig langen zwei Minuten Witterung auf, umkreisen sich in Gedanken.

Wird das Duell schon in diesen Sekunden gewonnen?

Brehme vertraut auf seine Stärke. Wieder zielt er flach ins linke Eck. Er zielt genau, so genau, dass Goycochea, der die Ecke geahnt hat, dennoch chancenlos bleibt. Genau neben dem Pfosten schlägt die Kugel ein.

Brehme eilt nach der anschließenden Jubeltraube wieder zurück über die Mittellinie. In den letzten Minuten muss ein verzweifelter Sturmlauf der dezimierten Argentinier befürchtet werden. Der Blick des Linksverteidigers hat von seiner Schärfe nichts eingebüßt.

Als Matthäus wenig später die Trophäe in die Höhe reckt, ist es zum ersten Mal keine Überraschung, dass Deutschland Weltmeister ist. Diesmal wurde kein Favorit niedergerungen, stattdessen setzt sich das beste Team im Turnier durch. Weitgehend ungetestet: Ganze 14 Bälle muss Ilgner in sieben Spielen halten. Das ist bis heute Rekord.

Der Kaiser hat es geschafft: Weltmeister als Spieler und als Trainer.

Sepp Herberger hatte sich in der Kabine von jedem einzelnen Spieler mit einem „Männer, danke“ verabschiedet. Der befreite Helmut Schön betrank sich in München derart besinnungslos, dass er sein Hotel nicht mehr fand. Beckenbauer schreitet gedankenverloren über den Rasen des Olympiastadions.

Nur ein einziges Mal liegt er voll daneben. Auf der abschließenden Pressekonferenz versteigt er sich angesichts der dazustoßenden ostdeutschen Spieler zu folgendem Satz:

Stattdessen wird es bis zum nächsten WM-Finale zwölf Jahre dauern. Und noch einmal zwölf bis zum Rematch gegen Argentinien.

Der Stern von Rio

"Als sie den Stern sahen, wurden sie von sehr großer Freude erfüllt"

(Matthäus 2,10)

Der vierte Stern. Vier Jahre ist es her.

Noch fühlt er sich zu frisch an, um ihm seinen Platz am deutschen Fußball-Firmament zuzuweisen. Wird er eine ähnliche Strahlkraft entwickeln wie die drei Sterne vor ihm, oder leuchtet er gar besonders hell? Kann man diese Sterne überhaupt vergleichen? Ist nicht jeder einzigartig?

Auf eine gewisse Art und Weise scheint es, als sei die Reise des vierten Sterns noch nicht abgeschlossen. Neun Akteure von Brasilien könnten in Russland wieder dabei sein, acht davon gegen Mexiko am 17. Juni in der Startelf stehen. Bastian Schweinsteiger, Philipp Lahm und Miroslav Klose sind nicht mehr dabei, doch der große Umbruch der Stammelf ist ausgeblieben.

Es fühlt sich an, als sei das Kapitel dieses Teams noch nicht auserzählt. Wie soll man darauf zurückblicken? Braucht es nicht neue Geschichten, neue Helden, an denen sich die alten messen lassen? Braucht es nicht neue Sternstunden?

Sternstunden wie das 7:1 in Belo Horizonte, als Deutschland Gastgeber Brasilien eine Schmach zufügt, die über Generationen nicht vergessen sein wird. Als zwei Nationen taumeln, die eine benommen vor Glück, die andere taub vor Schmerz. Als Löw Anweisung gibt, die geschockte Selecao in der zweiten Halbzeit zu schonen. Brasilien. Zu schonen!

Sternstunden wie Kloses 16. WM-Tor, mit dem er dem brasilianischen Ronaldo den ewigen Torrekord entreißt. Das 2:0 drückt er im Nachschuss über die Linie. Rache für 2002, als Ronaldo im WM-Finale ebenfalls per Nachschuss traf, damals gegen Oliver Kahn.

Sternstunden wie Manuel Neuers Ausflüge in die Strafraum-Peripherie. Nicht nur auf der Linie oder in der Luft spielt der Torhüter, sondern nahezu in der gesamten eigenen Hälfte. Grätscht wie ein Verteidiger, eröffnet die Angriffe wie ein Libero. "Totaal voetbal" in einer neuen Dimension. Ein Neuer in dieser Form ist, als spiele man vom Anpfiff weg zwölf gegen elf. Auch deshalb will ihn Löw in Russland unbedingt dabeihaben.

Und Sternstunden wie Mario Götzes Tor in der Verlängerung im Finale gegen Argentinien.

Als die Stimme von ARD-Kommentator Tom Bartels vor Freude beinahe bricht, ist Götze der neue, strahlende Stern am Fußballhimmel. "Zeig der Welt, dass du besser bist als Messi", hat ihm Löw bei seine Einwechlsung mit auf den Weg gegeben. Götze zeigt es allen, mit einem technisch höchst anspruchsvollen Treffer, dem wichtigsten seines Fußballlebens.

Es ist nicht leicht, Mario Götze zu sein.

Vier Jahre später ist Götzes Treffer der hellste, aber gleichzeitig auch tragischste Moment der WM 2014. In den letzten Jahren schien die Sternstunde von Rio wie ein bleierner Rucksack auf seinen Schultern zu lasten. In Russland wird er nicht dabei sein. Was andere in einer Karriere von 15 Jahren erleben, dauerte bei ihm nicht einmal fünf. Verglüht – mit nicht einmal 26 Jahren?

Nein, o nein!

Denn wenn uns die deutsche Fußballgeschichte eines gelehrt hat, dann dieses: Zu Helden werden fast immer die, von denen man es nicht erwartet hätte. Ein Stinkstiefel von der Tribüne 1954. Ein kleiner Dicker 1974. Oder einer, der eigentlich gar nicht hätte schießen sollen 1990.

Mario Götze, der schillernde Jungstar im Maracana? Fast zu schön um wahr zu sein.

Aber ein Mario Götze 2022, mit diesen Höhen und Tiefen im Gepäck? Das wäre wie gemacht für den fünften Stern.

Oder sechsten.

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