GIER NACH ROSEN
Einblicke ins Innere des FC Bayern Campus
Vor vier Jahren hat der FC Bayern München seinen Campus eröffnet. Wie wird dort gelebt und gearbeitet? Was ist der bisherige Ertrag? Wie geht es weiter? Und sonst so?
Es gibt zwei Anlässe, zu denen sich die Internatsbewohner des FC Bayern Campus regelmäßig im Gemeinschaftsraum zum kollektiven Fernsehen treffen. "Champions League immer und manchmal auch Bachelor", sagt Marcel Wenig im Gespräch mit SPOX und Goal und lächelt. Ein bisschen belustigt, ein bisschen verlegen. Gibt man offen zu, dass man sich so eine doch eher seichte Sendung anschaut?
Mittelfeldspieler Marcel Wenig ist 17 Jahre alt, wohnt im Campus-Internat und spielt aktuell eigentlich für die U19 des FC Bayern München. Wegen akuter Personalnot kam er zuletzt aber auch für die Reserve in der Regionalliga Bayern und sogar bei einem Testspiel für die Profimannschaft zum Einsatz. Tatsächlich passen die Champions League und die Sendung Bachelor ganz hervorragend zu seinem Leben und seinen Träumen, zum Leben und den Träumen eines jeden vielversprechenden Fußballtalents.
Die Champions League ist das ultimative Ziel, der Sehnsuchtsort schlechthin. Die Hymne und die wehende Plane mit den vielen Sternen im Mittelkreis, das Flutlicht und die berühmten Gegenspieler. Der Weg dorthin ist gewissermaßen vergleichbar mit der TV-Sendung Bachelor. Wer das Konzept nicht kennt: Ein Mann wird auf der Suche nach der vermeintlich großen Liebe von einer Schar Frauen umworben und muss die Kandidatinnen nacheinander aussieben. Wer keine Rose kriegt, ist raus. Irgendwann bleibt nur mehr eine übrig. Gibt es übrigens auch mit umgekehrten Geschlechterrollen und heißt dann Bachelorette.
Wie die Sendung Bachelor ist auch der Weg zum Fußballprofi eine Aussiebung, die von mehr Enttäuschungen als Erfolgen erzählt. Plätze in der nächsthöheren Mannschaft sind die imaginären Rosen. Während es bei der TV-Sendung am Ende aber einen Sieger gibt, könnte es unter den ganzen Fußballtalenten theoretisch auch mehrere Sieger geben – oder aber gar keine. Der FC Bayern rühmte sich einst dafür, regelmäßig Sieger hervorzubringen: Bastian Schweinsteiger und Philipp Lahm beispielsweise, später Holger Badstuber, Thomas Müller oder David Alaba.
Der Österreicher Alaba debütierte im Frühling 2010 im Alter von 17 Jahren für die Profis. Rund eineinhalb Jahre später erarbeitete er sich einen Stammplatz, den er bis zu seinem ablösefreien Abgang zu Real Madrid in diesem Sommer zehn Jahre lang behalten sollte. In diesem Zeitraum schaffte es kein selbst ausgebildetes Talent zum Stammspieler beim FC Bayern. Kein einziges!
Um diesem Trend entgegenzuwirken, baute sich der FC Bayern für fast 100 Millionen Euro sein Bachelor-Hauptquartier, den sogenannten Campus. Im Norden Münchens unweit der Allianz Arena gelegen auf dem Areal einer ehemaligen Kaserne. Der erste Spatenstich erfolgte im Oktober 2015, die Eröffnung im August 2017.
Gerade eben war Neymar für die Weltrekord-Summe von 222 Millionen Euro vom FC Barcelona zu Paris Saint-Germain gewechselt. Nun stand der damalige Präsident Uli Hoeneß bei strahlendem Sonnenschein an der nigelnagelneuen Anlage und rief den geladenen Promis und Journalisten zu: "Womöglich ist das hier die Antwort des FC Bayern auf den Transferwahnsinn und die Gehaltsexplosionen da draußen."
DER ALLTAG
Marcel Wenig war bei der Campus-Eröffnung 13 Jahre alt, wenige Wochen später zog er als eines der ersten Talente ins Internat ein. Mittlerweile wohnt er seit fast vier Jahren hier und darf immer noch von einer Profikarriere beim FC Bayern träumen. Beim Interviewtermin mit SPOX und Goal gibt es zur Begrüßung einen Faustcheck. Klar, Corona-Zeiten. Jogginghose, Schlabberpulli, weiße Schuhe. Wenig setzt sich auf die Auswechselbank des Campus-Stadions mit seinen 2500 Plätzen, wo er ansonsten eher selten sitzt. Bisher marschierte er weitestgehend als Stammspieler durch die unterschiedlichen Nachwuchsmannschaften.
Geboren wurde Wenig in Nürnberg, seine ersten Schritte als Fußballer machte er beim 1. FCN, dann der Umzug nach München. Jetzt nimmt er seine Maske ab und erzählt von seinem Leben. "Ich hatte bisher noch nie Heimweh", sagt er. "Normalerweise bin ich alle zwei, drei Wochen daheim. Wenn etwas sein sollte, können meine Eltern schnell vorbeikommen." Anders als Freundinnen oder Freunde dürfen nur enge Verwandte das Internat betreten. Aber eigentlich hat Wenig ohnehin kaum Zeit für Besuche, der Alltag ist dicht getaktet.
"Ich gehe auf eine Fachoberschule und habe abwechselnd zwei Wochen Schule und zwei Wochen Praktikum bei einem Sportgeschäft. Beides ist in Unterschleißheim. Vom Campus aus dauert es dorthin mit den Öffentlichen 25 Minuten. In meiner Klasse sind noch zwei Bayern-Kollegen, mit denen ich dreimal pro Woche in der Früh vor dem Unterricht ein zweistündiges Individualtraining habe. In der Schule bin ich von 8 bis 15.45 Uhr. Danach fahre ich an den Campus, ziehe mich um und habe ab 17 Uhr Training. Um 20 Uhr ist Abendessen. Dann mache ich meine Wäsche und meine Hausaufgaben oder sitze mit den Jungs im Aufenthaltsraum oder einem Zimmer zusammen."
Das Leben am Campus ist das in einer Parallelwelt. Für alle Nachwuchsspieler, besonders aber für die Internatsbewohner. Alles ist dem Traum von der Profikarriere untergeordnet. Deutschlandweit leben tausende junge Männer dieses Leben. Die 36 Profiklubs sind zum Betrieb eines Nachwuchsleistungszentrums verpflichtet, insgesamt gibt es 56. "Den Spielern wird dort ihre Jugend gestohlen. Das habe ich auch bei meinem Sohn beobachtet", sagte der österreichische U21-Nationaltrainer Werner Gregoritsch mal zu SPOX und Goal. Sein Sohn Michael spielt seit Jahren in der Bundesliga, bei ihm haben sich die totale Hingabe zum Fußball und all der Verzicht wohl gelohnt – bei den meisten anderen nicht.
Wenig macht aber nicht den Eindruck, als dass er sein Leben als großen Verzicht empfindet. Vielleicht, weil er es nicht anders kennt? Feiern, trinken, rauchen und all die anderen Jugend-Sünden scheinen keinen Reiz auf ihn auszuüben. "Ob man außerhalb des Campus feiern geht, kann jeder für sich entscheiden. Aber mir taugt das gar nicht und so ticken eigentlich alle hier", sagt Wenig. "Wenn einer von uns mal ein Mädel kennenlernt, das raucht und Alkohol trinkt, sagt jeder: Das kann nicht die richtige für mich sein."
Geselligkeit gibt es im Internat vor allem abends. Champions League oder Bachelor, davor ein gemeinsames Essen. Bis auf den Selbstverpflegungs-Sonntag werden die Speisen stets von einem Team des berühmten Kochs Alfons Schuhbeck zubereitet. "Montag und Mittwoch sind meine Lieblingstage: Am Montag gibt es immer Burger, Döner oder sowas in die Richtung und am Mittwoch Nudeln", sagt Wenig. "Freitag ist Fischtag. Das mögen einige von uns nicht so sehr." Sicherlich auch solche Probleme, vor allem aber echte lassen sich mit den sechs Pädagoginnen und Pädagogen besprechen, die in Früh-, Mittel- und Spätschichten den aktuell 35 Internats-Bewohnern zur Verfügung stehen.
Alles in allem arbeiten rund 100 Personen im Nachwuchsbereich des FC Bayern, etwa doppelt so viele wie einst an der Säbener Straße. Die Anzahl an Internatszimmern hat sich mit dem Umzug mehr als verdoppelt, verteilt sind sie auf drei Gänge. Je einen für die U19, die U17 und die noch jüngeren Jahrgänge. Durch den Umzug wurde alles größer, moderner – gewissermaßen aber auch distanzierter.
DIE DISTANZ
"Als ich vom Bau des neuen Campus erfahren habe, habe ich als Erstes daran gedacht, wie cool ich es damals fand, den Profis an der Säbener Straße so nahe zu sein. Ich bin sehr froh, vor der Campus-Eröffnung in der Jugend des FC Bayern gewesen zu sein", sagt Dominik Burusic zu SPOX und Goal. Der Österreicher wohnte von 2009 bis 2011 im alten Internat. Anfangs gemeinsam mit seinem Landsmann David Alaba, der schnell zu einem seiner besten Freunde werden sollte.
Wenn Burusic von damals erzählt, ist seine Begeisterung für das Leben Seite an Seite mit den Profis förmlich zu spüren: "Es ist ein Extra-Ansporn, wenn man Weltstars durch sein Fenster trainieren sieht. So oft es zeitlich möglich war, bin ich vor die Türe spaziert und habe vom Spielfeldrand beim Profitraining zugeschaut. Durch die örtliche Nähe ist man den Profis ganz automatisch regelmäßig begegnet." Auch Alaba schwärmte später von der Aussicht: "Ich habe jeden Tag die Trainingseinheiten durch mein Fenster verfolgt und mir fest vorgenommen, dass ich alles dafür tun werde, um meinen Traum zu verwirklichen."
Die örtliche Nähe ist durch den Umzug vom Süden in den Norden der Stadt gänzlich weggebrochen, Kontakt zwischen den Profis und den Nachwuchsspielern gibt es nur mehr vereinzelt. Lediglich im Rahmen spezieller Aktionen, nicht mehr spontan zwischen Tür und Trainingsplatz. "Absolute Highlights" seien es laut des aktuellen Nachwuchsspielers Wenig gewesen, wenn Serge Gnabry oder Thomas Müller, Leon Goretzka oder Joshua Kimmich vor der Pandemie mal am Campus vorbeigeschaut hätten.
Ein weiteres Stück Nähe zwischen Nachwuchs- und Profibereich ging in diesem Sommer in Person von Hermann Gerland verloren. Mit kurzer Unterbrechung war er 31 Jahre lang für den FC Bayern tätig. Als Co-Trainer der Profis und Cheftrainer der Reserve, nach Eröffnung des Campus zeitweise als Nachwuchs-Chef, immer als Tiger, Talente-Guru und Identifikationsfigur. "Hermann Gerland war das Bindeglied zwischen den Profis und uns Jungs aus dem Internat", sagt Burusic. "Er hat hin und wieder Extra-Einheiten mit uns gemacht und auch regelmäßig im Internat vorbeigeschaut, um sich zu vergewissern, dass alles mit rechten Dingen zugeht."
Nachwuchs-Chef Jochen Sauer erachtet die neue örtliche Distanz auf Nachfrage von SPOX und Goal "nicht als negative Begleiterscheinung". Er verweist auf die Reserve, die normalerweise an der Säbener Straße trainiert: "Da ist die Nähe da." Mit Beginn der Corona-Pandemie übersiedelte sie aber ebenfalls an den Campus. Wann und ob es zu einer Rückkehr kommt, ist noch völlig unklar. Aktuell gibt es eine klare örtliche Trennung zwischen Nachwuchs- und Profibereich. "Man muss sicher im Bereich der Kommunikation optimal arbeiten, aber wir sind auch nicht aus der Welt", findet Sauer.
DIE AUSBEUTE
Wie es sich für eine ordentliche Ausbildungsstätte gehört, gibt es natürlich auch vom FC Bayern Campus eine Hochglanz-Broschüre mit allerhand Fakten, Bildern – und am wichtigsten: Erfolgsgeschichten. Besonders prominent erzählt wird darin selbstverständlich die schönste Erfolgsgeschichte seit Campus-Eröffnung, die gleichzeitig die wohl kürzeste und somit nur bis zu einem gewissen Grad eine Erfolgsgeschichte des Campus ist. Die Geschichte von Jamal Musiala, der nur wenige Monate an der Anlage verbrachte.
16 Jahre war Musiala alt, als er im Sommer 2019 vom FC Chelsea nach München wechselte. Innerhalb nur eines Jahres debütierte er für die U17, die U19, die Reserve und die Profimannschaft. Dann reiste er zum Champions-League-Finalturnier nach Lissabon, zurück kam er mit dem wichtigsten Titel des europäischen Klub-Fußballs. In der vergangenen Saison spielte Musiala bei den Profis immer häufiger und besser, was ihm sogar einen Platz im deutschen EM-Kader einbrachte.
Bei der Campus-Eröffnung hatte sich der damalige Vorstandsvorsitzende Karl-Heinz Rummenigge "jedes Jahr einen Spieler für die Profiabteilung" gewünscht. Gemeint hat er damit keine Mitläufer, sondern echte Verstärkungen. Verstärkungen wie es seitdem nur Musiala eine war. Vergleicht man die vier Jahre vor und die vier Jahre seit Campus-Eröffnung, steigerte sich immerhin die Quantität an ehemaligen Nachwuchsspielern, die ihr Profidebüt feierten: in diesem Zeitraum von sieben auf 18. Den meisten davon gelang anschließend auch der Start einer ordentlichen Profikarriere, jedoch eher nicht beim FC Bayern.
Wer könnte auf Musiala folgen? Defensivallrounder Chris Richards (21) überzeugte zuletzt bei einer halbjährigen Leihe bei der TSG Hoffenheim. In der Vorbereitung machten Torben Rhein (18, Mittelfeld) und Armindo Sieb (18, Sturm) auf sich aufmerksam. Genau wie Rechtsverteidiger Josip Stanisic (21), der kürzlich sogar einen Profivertrag unterschrieben hat.
Seit der Campus-Eröffnung 2017 erhöhte sich nicht nur die Anzahl an Profidebütanten, die bereits im Nachwuchsbereich zum FC Bayern gewechselt sind. Der Klub weiß mittlerweile auch mehr deutsche U-Nationalspieler in seinen Reihen.
DER SKANDAL
Musialas rasanter Aufstieg ist die schönste Geschichte des Campus, der im vergangenen August aufgekommene Rassismus-Skandal dagegen sicherlich die hässlichste.
Aus einer Reportage des WDR-Magazins "Sport Inside" ging hervor, dass sich ein langjähriger Nachwuchstrainer rassistisch gegenüber Kollegen und Jugendspielern geäußert haben soll. Der betroffene Mann habe in einem Chat unter anderem ein Foto eines Lastwagens mit der Aufschrift "Bimbo" gepostet und dazu kommentiert: "Transport. Hier werden die Neger von A nach B transportiert". In Richtung eines langjährigen Nachwuchsbetreuers mit Migrationshintergrund soll es geheißen haben: "Halts Maul Kameltreiber". Die Rede war auch von Mobbing gegenüber Kollegen und Nachwuchsspielern außerhalb der Chats.
"Es war für alle ein Schock. Wir hatten keine Ahnung, dass es in einem Teilbereich unseres Campus zu rassistischen Äußerungen gekommen war", sagte Nachwuchs-Chef Jochen Sauer im Interview mit der tz und dem Münchner Merkur im November und bestätigte die Echtheit der Chatverläufe: "Die rassistischen Äußerungen in der Chatgruppe gab es, keine Frage. Und sie haben uns weh getan, denn es wurde auch gegen die Werte und die Haltung des FC Bayern verstoßen."
Der betroffene Nachwuchstrainer wurde vom FC Bayern entlassen und vom DFB-Sportgericht für 18 Monate gesperrt, zwei weitere involvierte Mitarbeiter mussten ebenfalls gehen. Nach internen Untersuchungen kündigte der Klub strukturelle Veränderungen und einen personellen Neuanfang für die Nachwuchsmannschaften von der U9 bis zur U15 sowie die Entwicklung regelmäßiger Schulungs- und Fortbildungsprogramme an. Gerüchte über angebliches Mobbing außerhalb der Chatverläufe hätten sich laut Sauer unterdessen "als falsch erwiesen".
Diese Vorwürfe wiederholten anschließend aber anonyme (ehemalige) Campus-Mitarbeiter und Spieler-Eltern gegenüber dem WDR. Fans äußerten mit kritischen Bannern seitdem immer wieder Unmut über eine vermeintlich mangelhafte Aufklärung. Der FC Bayern blieb auf Nachfrage von SPOX und Goal bei seiner Darstellung vom vergangenen Herbst und wollte zu den Anschuldigungen keine weitere öffentliche Stellungnahme abgeben.
DER AUFTRAG
Anfang Juli begann beim FC Bayern die Ära Julian Nagelsmann. Normalerweise ist die Aufgabenstellung eines neuen Trainers in diesem gefräßigsten aller deutschen Klubs stets dieselbe: Mindestens einmal pro Jahr die Bundesliga gewinnen und dann noch mindestens einen weiteren Pokal, am besten die Champions League. Bei Nagelsmann ist das ein bisschen anders. Klar, das mit der Bundesliga und den Pokalen gilt auch für ihn – konkret wie selten ein neuer Bayern-Trainer zuvor bekam er aber auch den Auftrag der Talente-Integration und -Entwicklung.
Unter dem mit einem Fünfjahresvertrag ausgestatteten Nagelsmann soll der Campus endlich zu dem werden, was Uli Hoeneß bei der Eröffnung eingefordert hatte: zur Antwort des FC Bayern "auf den Transferwahnsinn und die Gehaltsexplosionen da draußen". Von externen Geldgebern üppig alimentierte Klubs wie Paris Saint-Germain, Manchester City oder FC Chelsea zahlen Preise, die der traditionell ordentlich wirtschaftende FC Bayern nicht zahlen will und auf Dauer auch nicht kann. Vor allem nicht zu Pandemie-Zeiten. Eineinhalb Jahre ohne Stadion-Zuschauer bescherten dem FC Bayern schließlich einen Umsatzverlust von immerhin rund 150 Millionen Euro.
Nagelsmann weiß über diese Problematik und die daraus resultierende Aufgabe bestens Bescheid. Schon als er Ende April bei einer Pressekonferenz seinen Wechsel nach Saisonende zum FC Bayern verkündete, sagte er: "Es ist natürlich der Anspruch, den Campus zu integrieren. Das wird eine Aufgabe sein."
Damit nahm Nagelsmann vorweg, was seine Vorgesetzten im Rahmen seines Amtsantritts in München Anfang Juli aktiv einfordern sollten. "Wir erwarten von ihm, dass er jüngere Spieler entwickelt und Spieler nach vorne bringt, die wir vielleicht so gar nicht auf dem Schirm gehabt haben", sagte der neue Vorstandsvorsitzende Oliver Kahn. Den Campus nannte er einen "ganz, ganz wichtigen Faktor" für die Zukunft des Klubs.
Präsident Herbert Hainer ergänzte: "Er soll für eine noch engere Verbindung zwischen den Jugendmannschaften und dem Profiteam sorgen, um in Zukunft mehr und mehr eigene Spieler im Herrenbereich zu haben. Das hätte nicht nur finanzielle Vorteile für uns bei der Kaderplanung, sondern wir wollen für die Investitionen in unseren Campus auch Erfolge verbuchen. Dafür ist Nagelsmann der perfekte Mann."
Anders als seine Vorgänger Carlo Ancelotti, Jupp Heynckes, Niko Kovac und Hansi Flick verfügt er über reichlich Erfahrung im Nachwuchsbereich. Ehe Nagelsmann seine Chance in der Bundesliga bekam, arbeitete er beim FC Augsburg, dem TSV 1860 München und der TSG Hoffenheim mit jungen Talenten zusammen. Aus Hoffenheimer Zeiten kennt er die beiden mittlerweile 18-jährigen Offensivspieler Armindo Sieb und Mamin Sanyang, die 2020 gemeinsam zum FC Bayern wechselten. "Sehr gute Spieler, die sicherlich oben rauskommen können" seien das laut Nagelsmann. Aktuell spielen beide für die Reserve, im Rahmen der Vorbereitung durfte Sieb gemeinsam mit etlichen anderen Talenten auch schon bei den Profis mittrainieren und in Testspielen auflaufen.
DIE STRATEGIE
Bis zur U14
In den jüngsten Altersklassen will der FC Bayern die größten Talente aus Oberbayern versammeln, rund 90 Prozent der Spieler dieser Mannschaften kommen aus München und Umgebung. Um den Talenten künftig einen längeren Verbleib im gewohnten Umfeld und kürzere Anfahrtswege zu ermöglichen, passt der FC Bayern seine Strategie in diesen Altersklassen aktuell an: Mit Beginn dieser Saison wurde die U9 vom Spielbetrieb abgemeldet, in der nächsten folgt auch die U10.
Stattdessen hat der FC Bayern einen Stern um München gespannt und sich in jeder Himmelsrichtung einen Kooperationsklub gesucht. Statt an den Campus zu pendeln, sollen sich die Talente zunächst in ihren jeweiligen Heimatregionen bei der SpVgg Landshut, dem SV Schloßberg Stephanskirchen, der SpVgg Joshofen Bergheim oder dem FC Issing entwickeln und erst zur U11 zum FC Bayern stoßen. Spezielle Fördertrainings am Campus sind für sie und die größten Talente der Münchner Amateurklubs aber auch vorab geplant.
U15 und U16
Berlin statt Bergheim! Ab der U15 sucht der FC Bayern landesweit nach den größten Talenten. Beispielhaft für dieses Vorgehen steht Torben Rhein, der aktuell als einer der talentiertesten Nachwuchsspieler im Klub gilt. Nachdem er unter anderem dem FC Barcelona und dem FC Arsenal abgesagt hatte, wechselte er 2017 mit 14 Jahren von Hertha BSC zur U16 des FC Bayern. Legendär Hermann Gerlands Ankündigung von damals: "Torben Rhein. Merkt Euch diesen Namen!" In der aktuellen Vorbereitung setzte Nagelsmann den mittlerweile 18-Jährigen bereits bei den Profis ein.
U17 und U19
In diesen Altersklassen steigt der FC Bayern in den Kampf um die größten Talente der Welt ein, der Anteil an Oberbayern liegt nur mehr bei rund 60 Prozent. 2019 schloss sich der damals 16-jährige Jamal Musiala vom FC Chelsea der U17 an, ein Jahr zuvor war der 18-jährige Chris Richards in die U19 gewechselt. Beim Transfer des US-Amerikaners profitierte der FC Bayern von der Kooperation mit dem MLS-Klub FC Dallas, der Zugang zum nordamerikanischen Talentemarkt schaffen soll.
Um bei der Suche nach den weltweit größten Talenten in diesen Altersklassen künftig effektiver zu arbeiten, wurde in den vergangenen Monaten die Nachwuchs-Scouting-Abteilung umgekrempelt. Hauptverantwortlich dafür zeichnete sich Marco Neppe (35), der kürzlich vom Chefscout zum Technischen Leiter befördert wurde.
Neuer Chefscout im Nachwuchsbereich ist seit diesem Sommer Florian Zahn (39), der 2020 als Scout von Chelsea nach München gewechselt war. Unterstützt wird er künftig abgesehen von den vier bereits angestellten auch von zwei neu verpflichteten Scouts: Vito Leccese (32) und Gürkan Karahan (39). Leccese arbeitete zuvor genau wie sein neuer Chef im Nachwuchsbereich von Chelsea. Karahan kam von Sky, wo er sich bisher um Taktikanalysen von Champions-League- und Länderspielen kümmerte.
Eine Folge der Investitionen in das Nachwuchs-Scouting könnte eine steigende Bereitschaft des Klubs zur Zahlung von Ablösesummen für die entdeckten Talente sein. "Ab dem Alter von 16 oder 17 Jahren muss man Geld in die Hand nehmen, wenn man die Guten will", erklärte Uli Hoeneß bei der Campus-Eröffnung. Der bis heute teuerste Neuzugang im Nachwuchsbereich ist aber immer noch Toni Kroos. Er kam 2006 mit 16 Jahren für 2,3 Millionen Euro von Hansa Rostock. Zu einem deutlichen Anstieg der Ablösesummen für Nachwuchsspieler hat der Campus bisher nicht geführt.
Seit März dieses Jahres unterhält der FC Bayern eine Partnerschaft mit dem Regionalligisten SSV Ulm, einem Nachfolger von Hoeneß' einstigen Jugendklub. Abgesehen vom Wissensaustausch hat diese Kooperation vor allem zwei Ziele.
Einerseits will der FC Bayern so in das schwäbische Einzugsgebiet des im Nachwuchsbereich traditionell starken VfB Stuttgart eintauchen. Potenzielle Neuzugänge sollen zunächst nahe deren gewohntem Umfeld in Ulm geparkt, beobachtet und womöglich später nach München geholt werden. Andererseits soll Ulm vielversprechenden U17-, U19- oder Reserve-Spielern des FC Bayern als mögliche Leihstation für frühe Spielpraxis im Erwachsenenbereich dienen. Bereits seit Sommer 2020 nutzt diese Option der 20-jährige Linksverteidiger Jonas Kehl.
Reserve
Während Kehls Abwesenheit ist die Reserve des FC Bayern aus der 3. Liga abgestiegen, was das zweite Ziel der Kooperation mit Ulm zumindest vorübergehend etwas obsolet macht. Weil nun beide Mannschaften auf demselben Liganiveau spielen, fehlt die Staffelung: Ulm in der Regionalliga Südwest, die eigene Reserve in der Regionalliga Bayern. Der Abstieg nur ein Jahr nach dem sensationellen Meistertitel in der 3. Liga kam durchaus überraschend – und soll unter dem neuen Trainer Martin Demichelis schnellstmöglich revidiert werden. Fragt man Nachwuchs-Chef Jochen Sauer nach seinem Fazit der vier bisherigen Campus-Jahre, bezeichnet er den Abstieg als einzigen Rückschlag.
Über die Notwendigkeit von Reserve-Mannschaften an sich gibt es in Deutschland durchaus kontroverse Meinungen. Unter anderem Bayer Leverkusen, der VfL Wolfsburg oder RB Leipzig meldeten ihre Zweitvertretungen vom Spielbetrieb ab. Beim FC Bayern kam dieser Schritt dagegen nie ernsthaft in Frage. Neben der Überzeugung, dass eine Reserve in der 3. Liga Talenten einen wichtigen Entwicklungsschritt bieten kann, spielt diesbezüglich auch die historische Dimension eine Rolle.
Die liebevoll, aber auch ein bisschen fälschlich als "FC Bayern Amateure" besungene Münchner Reserve hat anders als die meisten Pendants in Deutschland sogar aktive Fans. Der Regionalliga-Süd-Titel 2004 unter Trainer Hermann Gerland gilt als legendär und irgendwann sicherlich auch der Drittliga-Triumph von 2020 unter Sebastian Hoeneß.
Künftig gibt es bei der Kaderplanung aber eine etwas angepasste Vorgehensweise. Abgesehen von einem erfahrenen Gerippe um Kapitän Nicolas Feldhahn (34), Maximilian Welzmüller (31) und Timo Kern (31) soll die Mannschaft jünger werden. Ziel ist es, die aktuell zwei Jahrgänge der U19 weitestgehend zu trennen. Aus der formellen U19 wird so etwas wie eine U18. Die älteren für die U19 spielberechtigten Talente rücken vorrangig zur Reserve auf, wo im Idealfall niemand länger als zwei Jahre spielen sollte. Sofern der Schritt zu den hauseigenen Profis in diesem Zeitraum nicht klappt, der Glauben an den Durchbruch aber noch da ist, wäre ein Leih-Wechsel der nächste Schritt.
"Die Wahrscheinlichkeit, dass wir Spieler für die Profimannschaft entwickeln, ist sehr gering", weiß der Vorstandsvorsitzende Oliver Kahn. "Es wird darum gehen, trotzdem kontinuierlich daran zu arbeiten, Spieler zu entwickeln, die es vielleicht erst mal nicht schaffen, die man vielleicht mal an den einen oder anderen Klub ausleihen kann, um sie dann wieder zurückzuholen." Auch Philipp Lahm und David Alaba setzten sich einst erst nach Leihen nach Stuttgart und Hoffenheim durch.
Kümmern soll sich um die verliehenen Spieler und ihre anschließende Reintegration in München künftig Danny Schwarz, der in diesem Sommer den neugeschaffenen Posten als Betreuer der Leihspieler übernommen hat. Ende der vergangenen Saison hatte er noch gemeinsam mit dem nun zum alleinigen Cheftrainer beförderten Martin Demichelis die Reserve trainiert.
Aktuell sucht der FC Bayern nach Informationen von SPOX und Goal noch nach einem Kooperationsklub in der ersten Liga eines kleineren europäischen Landes. Er soll potenziellen Leihspielern als feste Anlaufstelle dienen. In diesem Frühling wurde die Chance auf eine Zusammenarbeit mit dem mittlerweile in die Zweitklassigkeit abgestiegenen SKN St. Pölten aus Österreich verstreichen gelassen. Statt die Verhandlungen mit Nachdruck zu führen, verlieh die Klubführung des FC Bayern dem Thema nicht die oberste Priorität. Wolfsburg grätschte dazwischen und verkündete seinerseits eine Zusammenarbeit mit St. Pölten.
Innerhalb von ein bis zwei Jahren soll eine Alternative gefunden sein. Ein österreichischer Klub wird wegen des gleichen Sprach- und Kulturkreises als idealer Kooperationspartner angesehen, in Frage kämen aber beispielsweise auch belgische oder niederländische Klubs.
DIE ARBEIT
Bevor die Talente zur Profimannschaft stoßen oder verliehen werden, sollen sie längst FC-Bayern-Fußball spielen. "Wir haben eine verbindliche Spielphilosophie für alle unsere Mannschaften entwickelt", sagt Nachwuchs-Chef Jochen Sauer. Aber wie sieht die aus? Im Idealfall ein bisschen nach Dominanz und ein bisschen nach Dynamik. Laut Campus-Hochglanz-Broschüre sind die zentralen Elemente der Spielphilosophie "Dominanz durch Ballbesitz, Dominanz durch aktive Balleroberungen, Dynamik im Herausspielen von Torchancen und Dynamik in den Umschaltphasen".
Gelehrt wird das auf einer 30 Hektar großen Anlage, womit der Campus etwa viermal so groß ist wie das Klubgelände an der Säbener Straße. Umgeben von Zäunen und Mauern gibt es hier unter anderem sieben Trainingsplätze, dazu eine Sporthalle, Beach-Soccer- und Volleyball-Felder, einen 1000 Quadratmeter großen Athletik- und Reha-Bereich, das Stadion für die Spiele der U-Mannschaften und der Frauen sowie seit kurzem das sogenannte SkillsLab.
Der Fußballsimulator SkillsLab ist der neue Stolz des Campus, ein Tempel des Individualtrainings. Beamer können mehr als 50 verschiedene Spielsituationen in fünf Schwierigkeitsstufen an die Wände eines sechseckigen Ministadions von der Größe eines halben Fußballfeldes werfen. Die Spieler werden mit vollautomatisierten Ballmaschinen bedient und müssen Lösungen finden. Erfasst und ausgewertet wird alles selbstverständlich mit modernster Messtechnik.
Eine große Weiterentwicklung gab es durch den Umzug an den Campus im Bereich Videoanalyse. Laut des ehemaligen Nachwuchsspielers Dominik Burusic habe es das zu seiner Zeit erst ab der Reserve gegeben. Mittlerweile bekommen auch die jüngeren Jahrgänge vor jedem Spiel eine Videoanalyse des nächsten Gegners und danach eine des eigenen Auftritts.
Insgesamt arbeiten am Campus zehn Analysten, die regelmäßig auch positionsbezogene Schulungen mit den Nachwuchsspielern durchführen. "Dabei werden uns abwechselnd Szenen von uns selbst und Szenen von Profis auf unserer Position gezeigt", erklärt U19-Spieler Marcel Wenig. "Bei uns Mittelfeldspielern gab es früher oft Kimmich und Thiago zu sehen und aktuell Kimmich und Goretzka. Fast immer sind es Bayern-Spieler, wegen der ähnlichen Spielphilosophie aber auch ab und zu welche von Manchester City." Das Vermächtnis des Ex-Trainers Pep Guardiola lebt beim FC Bayern also weiter.
DIE AUSSIEBUNG
Als Marcel Wenig 2017 im Alter von 13 Jahren ins Campus-Internat übersiedelte, unterschrieb er einen Ausbildungsvertrag über fünf Jahre und damit ein Stück Sicherheit. In den Jahrgängen von der U9 bis zur U12 gibt es die imaginären Bachelor-Rosen beim FC Bayern noch verhältnismäßig leicht, 80 bis 90 Prozent der Spieler werden in die nächsthöhere Mannschaft übernommen. Zwischen der U13 und U19 liegt der Wert immerhin noch bei 70 bis 80 Prozent.
Soweit hat es Wenig bereits geschafft, zuletzt sammelte er sogar erste Spielminuten bei der Reserve in der Regionalliga Bayern und bei Testspielen der Profis. Die Zeichen stehen gut bei ihm, doch nun warten wegweisende Monate. Nächsten Sommer läuft sein Ausbildungsvertrag aus, dann ist er 18. Nur knapp jeder zweite U19-Spieler bekommt einen festen Kaderplatz in der Reserve, der darauffolgende Schritt zu den Profis gelingt den allerwenigsten, Stammspieler wurde seit Alaba 2011 gar keiner mehr. Die Gründe für das Scheitern können vielfältig sein.
Dominik Burusic etwa schoss in der U17 des FC Bayern einst fast ein Tor pro Spiel und stieg schnell zur U19 auf. Dann aber verletzte er sich schwer am Knie. Zweimal musste er operiert werden, rund ein Jahr aussetzen und den Klub letztlich verlassen. Das Verletzungspech verfolgte ihn auch bei seiner nächsten Station Admira Wacker Mödling in seiner österreichischen Heimat. Anschließend spielte er noch ein bisschen im Amateurbereich, ehe er seine aktive Karriere beendete. Mittlerweile arbeitet Burusic in einer Berateragentur – und betreut dort unter anderem junge Talente, die noch nach Rosen gieren.