Abstiege, Aufstiege, Alkohol
Manchester City vor der Scheich-Übernahme
Vor 20 Jahren spielte der aktuelle englische Meister Manchester City drittklassig. Es war der Tiefpunkt der Vereinsgeschichte - und typical City. Die ehemaligen deutschen City-Legionäre Uwe Rösler, Eike Immel und Dino Toppmöller sowie Autor David Mooney erinnern sich bei SPOX an Zeiten, als der Klub noch keinen reichen Scheich als Besitzer hatte. An Zeiten, als aufgestiegen, abgestiegen und gesoffen wurde.
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Als Eike Immel 1995 bei seinem neuen Verein Manchester City ankam, war er 34 Jahre alt. Er kannte sich aus im Fußball, hatte bereits das Tor von Borussia Dortmund, des VfB Stuttgart und der deutschen Nationalmannschaft gehütet. Nun also ein letztes großes Abenteuer als Profifußballer: Premier League. Manchester City. Und dann das.
"Die Bedingungen waren katastrophal, alles war viel schlechter als ich es von meinen Ex-Vereinen kannte. Die Trainingsklamotten, die sie mir gaben, waren uralt und gebraucht. So verwaschen, dass sie schon hart waren. Der Platz am Trainingsgelände war ganz gut, aber alles andere halbfertig. Die Kabinenwände hatten keinen Putz. Sie versprühten nicht den Hauch von Freundlichkeit."
Nicht die Kabinenwände waren freundlich, dafür aber die Menschen. Die Fans von City, die laut Immel "so viel Herzblut zeigten wie ich das nirgendwo anders erlebte". Und die Mitarbeiter, die "sich unglaublich um einen kümmerten". Obwohl er Deutscher war. Oder im Fall von City: gerade weil er Deutscher war.
Das lag vor allem an Bert Trautmann: Als Kriegsgefangener kam er einst nach England, dann wurde er Torwart von City und gewann 1956 den FA Cup - mit einem gebrochenen Genick. Für immer ein Idol. Mit Uwe Rösler spielte bei Immels Ankunft bereits ein anderer Deutscher im Klub. Ein Jahr zuvor war er gekommen und sofort zum besten Torschützen des Klubs avanciert. Rösler fühlte sich von Beginn an geborgen: "Es gab zwar recht wenige Angestellte, aber mir hat der Verein immer geholfen - zum Beispiel bei der Wohnungssuche oder mit Sprachkursen."
City versprühte eine familiäre Atmosphäre, die auch Immel faszinierte. Er erzählt von einem Typen, den sie Skips nannten. An seinen bürgerlichen Namen kann sich Immel nicht mehr erinnern, vielleicht kannte er ihn auch nie. Mitte der 1990er Jahre war Skips jedenfalls Zeugwart - nach Tätigkeiten als Trainer, Co-Trainer und Torwart-Trainer. Über 70 war Skips damals schon, sagt Immel. "Wahrscheinlich hat er so lange für den Klub gearbeitet, bis er tot umgefallen ist."
Einer, der für den Verein lebte und alles erlebte. Zum Beispiel, warum sich die geflügelte Aussprache "typical City" entwickelte, die so viele Fans mit einem verbissen-ironisch-verfluchenden Lächeln hauchten. Typical City ist es, sich Großes aufzubauen und dann selbst einzureißen. Als einziger Verein stieg City etwa als amtierender englischer Meister ab, 1938 war das.
Auch Anfang der 1990er Jahre besaß der Klub eigentlich ideale Voraussetzungen für eine erfolgreiche Zukunft. Als Gründungsmitglied der 1992 eingeführten Premier League profitierte City von den neuen TV-Millionen. In der ersten Saison gelang ein Mittelfeldplatz. "Es gab die Chance, etwas Langfristiges aufzubauen", sagt David Mooney, der sich als Autor und Journalist mit dem Verein beschäftigt. Aber es kam anders, ganz anders.
Das große City wurde nämlich geführt wie ein Amateurverein. Der ehemalige Spieler Dennis Tueart kehrte zu dieser Zeit als Funktionär zu seinem Klub zurück und erzählte später, das reinste "Tohuwabohu" vorgefunden zu haben. Es wurde schlecht kalkuliert und der Verein übernahm sich. Grund dafür waren aber auch die Umstände der Zeit.
In Folge der Hillsborough-Katastrophe von 1989 wurden in englischen Stadien die Stehplätze abgeschafft - und somit große Umbauarbeiten an Citys Maine Road nötig. Der Kippax-Stand, die zu dieser Zeit größte Stehplatztribüne Englands, wurde 1994 abgerissen und den Regularien entsprechend neugebaut. Ein emotionaler Einschnitt und auch ein finanzieller, rund 16 Millionen Pfund soll er gekostet haben. "Nach dem Bau wurde das Geld etwas knapp. Deswegen trennte sich der Klub von teuren Spielern und verpflichtete kostengünstigere", sagt Rösler. "Es entwickelte sich eine Spirale, die den Klub nach unten spülte."
Trainer Brian Horton ließ seine Mannschaft offensiv spielen, sehr offensiv. Sie verlor aber öfter als dass sie gewann und rutschte in den Abstiegskampf. Horton musste gehen, es kam Alan Ball. "Seine Amtszeit war vom Anfang bis zum Ende ein Desaster", sagt Mooney. Von den ersten neun Spielen der Saison 1995/96 verlor City acht. Im Januar ging es auswärts gegen den FC Southampton, einen direkten Rivalen im Abstiegskampf. Sicherheitshalber reiste die Mannschaft frühzeitig an, erinnert sich Immel.
"Sie nannten das eine Team-Spirit-Reise, das war bei vielen englischen Vereinen gängig. Wir waren in einem super Hotel mit einem eigenen Golfklub in Southampton. Am Samstag sind wir hingefahren und bis Dienstag waren alle Spieler nur besoffen und haben kein einziges Mal trainiert. Unseren Trainer Alan Ball haben wir vier Tage lang gar nicht gesehen, weil er nur Golf gespielt hat. Am Sonntagabend fand in der Lobby eine Hochzeit statt. Die anwesenden Frauen waren aber mehr an uns Spielern interessiert als an ihren Ehemännern und deswegen kam es zu einer Massenschlägerei. Für unseren Trainer war das eine Blamage vor dem Herrn, er war nämlich auch der Präsident des zum Hotel gehörenden Golfklubs. Am Mittwochmorgen war schließlich das erste Training, da ließ uns der Trainer Runden laufen. Abends war dieses elementar wichtige Spiel im Abstiegskampf und ich dachte: 'Das kann doch nicht sein, dass wir uns hier so vorbereiten.' In der 84. Minute trafen wir zum 1:1 und holten einen wichtigen Punkt. Die Spieler konnten beißen, waren unheimlich zäh. Das war der Wahnsinn."
Der Alkohol gehörte damals zum englischen Fußball wie der Ball. Immel erzählt von Festen, die so gefeiert wurden wie sie eben fielen.
"An einem Mittwoch kamen wir nach dem Training in die Kabine und dort standen einige Kisten Bier. Alle begannen zu saufen. 'Trink', sagten sie mir, aber ich wollte nicht und war deswegen ein bisschen ein Außenseiter. Später sind wir mit dem Bus in die Stadtmitte gefahren. Jeder Spieler hatte eine Flasche Bier in der rechten und eine in der linken Hand und der Zeugwart schleppte noch eine Kiste hinterher. Dann waren wir bei einem Italiener und da wurde gesoffen bis zum Umfallen - einige sind auf allen Vieren zur Haupteinkaufsstraße von Manchester gekrochen und es hat keinen Menschen interessiert. Ein Verteidiger konnte wegen einer Alkoholvergiftung zwei Wochen lang nicht spielen."
Trotz allem kämpfte sich die bereits frühzeitig in der Saison abgeschlagene Mannschaft wieder an die Nichtabstiegsplätze heran. Vor dem letzten Spieltag war City punktgleich mit zwei anderen Klubs, einer der drei musste absteigen. Es traf natürlich City, das gegen den FC Liverpool nicht über ein Remis hinauskam. Typical City.
In der folgenden Zweitligasaison erreichte City einen Mittelfeldplatz, dabei standen jedoch fünf verschiedene Trainer an der Seitenlinie. "Es gab viele Revolutionen", sagt Mooney, "und alle Trainer brachten ihre eigenen Ideen und Spieler mit. Der Kader wurde immer größer." Nach der Saison verließ Immel den Verein. Als mit Joe Royle im Februar 1998 der nächste neue Trainer kam, standen laut Mooney trotzdem 54 Profis unter Vertrag. Der aufgeblähte Kader stieg ab. Aber wie? Typical City!
Am vorletzten Spieltag verpasste die Mannschaft einen Sieg gegen die Queens Park Rangers, einen direkten Rivalen im Abstiegskampf. Citys Jamie Pollock schoss dabei das vielleicht kurioseste Eigentor aller Zeiten. QPR-Fans wandten sich sofort einer Online-Umfrage über die einflussreichsten Menschen aller Zeiten zu: Erster Jamie Pollock, Zweiter Jesus Christus. Zum QPR-Spieler-der-Saison wählten sie Pollock dann natürlich auch.
Am letzten Spieltag war City bei Stoke City zu Gast, für den Klassenerhalt brauchte es einen eigenen Sieg sowie einen Punktverlust vom FC Portsmouth oder Port Vale. Weil sein Abschied zum Saisonende bereits feststand, verzichtete der Trainer auf Rösler. "Ich stand nicht im Kader, habe meine Mannschaft aber mit den Fans von der Tribüne aus angefeuert", erzählt er. Geholfen hat es nichts. City gewann zwar, die Rivalen jedoch auch.
Unter Tränen flüchteten sich die Fans in Ironie und sangen nur: "Are you watching, Macclesfield?" Drei Jahren zuvor stiegen Derbys gegen Manchester United, nun warteten Duelle mit dem Provinzklub Macclesfield Town aus dem Umland von Manchester. Erstmals seit der Vereinsgründung 1880 spielte City drittklassig.
"Vielleicht brauchte es diesen Schock, um den Klub von Jahren der negativen Gedanken, der Underperformance und des Amateurismus zu befreien", sagte David Bernstein, der in jenem Sommer 1998 das Präsidentenamt übernahm. Die finanzielle Lage war prekär, doch Bernstein trotzig: "Fußballklubs wie Manchester City verschwinden nicht einfach!"
"Sportlich war das die dunkelste Phase der Vereinsgeschichte", sagt Autor Mooney. Doch ganz unten angekommen, entwickelte sich ein neues Gefühl des Zusammenhalts. Es gebe da eine Geschichte, erzählt Mooney, versichert aber direkt entschuldigend, dass er noch nicht verifizieren konnte, ob sie sich auch tatsächlich so zugetragen habe.
"In dieser Drittligasaison lief bei einem Heimspiel gegen den FC Bury ein Fan auf den Platz, stellte sich vor die Trainerbank und zerriss seine Dauerkarte. Daraufhin schickte ihm der Verein eine neue und dazu die Nachricht: 'Wir müssen gemeinsam leiden!'"
Es wurde gelitten, weil City drittklassig spielte, aber auch, weil der Stadtrivale United in der selben Saison zum Triple marschierte. "Diese Zeit ist so ein extremer Kontrast zur heutigen Zeit, dass viele Fans nicht genau wissen, wie sie darauf zurückblicken sollen", sagt Mooney. Verklärend vielleicht? "Viele romantisieren sie im Nachhinein." Oder melancholisch: die good, old days. "Obwohl das Team schlecht spielte, herrschte auf den Tribünen eine bessere Atmosphäre als heute. Irgendwann entstand eine einmalige, knisternde Stimmung. Es war eine unglaubliche Zeit, ein City-Fan zu sein", sagt Mooney. Ob es tatsächlich so war?
Die Mannschaft jedenfalls kämpfte sich auf Platz drei, musste in die Aufstiegs-Playoffs und erreichte dort das Finale. Wembley Stadium, 30. Mai 1999, Manchester City gegen den FC Gillingham. "Das war das wichtigste Spiel der Vereinsgeschichte", sagt Mooney. Es war das Spiel, das über die Zukunft entscheiden sollte - in vielerlei Hinsicht.
Nachdem ursprüngliche Pläne für weitere Umbauarbeiten an der Maine Road verworfen worden waren, stand der Klub zu dieser Zeit in Verhandlungen mit der Stadt über einen Einzug in das City of Manchester Stadium (später Etihad), das für die Commonwealth Games 2002 errichtet wurde. Die Stadt wollte dafür aber eine sportliche Weiterentwicklung, einen Aufstieg sehen. Als Scheich Mansour Bin Zayed Al Nahyan einige Jahre später die Übernahme eines englischen Vereins plante, wollte er ein großes, modernes Stadion mit freien, bebaubaren Flächen drumherum sehen. Eines wie das City of Manchester Stadium. Deshalb verlor er etwa das Interesse am FC Liverpool oder Newcastle United, deren Stadien sich mitten in Wohngebieten befinden - genau wie die Maine Road mit ihren knapp 35.000 Plätzen. Mooney weiß, was gegen Gillingham auf dem Spiel stand.
"Hätte City gegen Gillingham verloren, hätte der Klub wahrscheinlich nicht den Zuschlag für das City of Manchester Stadium bekommen. Hätte City nicht den Zuschlag für das Stadion bekommen, hätte der Scheich den Klub wahrscheinlich nicht übernommen. Hätte der Scheich den Klub nicht übernommen, gäbe es die heutigen Triumphe nicht."
Zurück ins Wembley Stadium. Bis zur 81. Minute stand es 0:0, in der 89. führte Gillingham 2:0, dann traf Kevin Horlock, dann traf Paul Dickov, dann gewann City das Elfmeterschießen. City war wieder zweitklassig und ein Jahr später erstklassig. Der Durchmarsch. Bald verkündeten Stadt und Klub den Umzug ins City of Manchester Stadium.
Es begann der lange Abschied von der Maine Road. Dem Stadion, das City seit 1923 als Heimstätte diente und so ein besonderes Flair versprühte. Auch für Dino Toppmöller, der in der Winterpause der Saison 2000/01 vom 1. FC Saarbrücken zu City gewechselt war und ein halbes Jahr blieb.
"Die Maine Road war zwar etwas heruntergekommen, hatte aber ihren Charme und war sehr stimmungsvoll. Die City-Fans besaßen ein gutes Gespür für Situationen. Einmal lagen wir schon in der ersten Halbzeit mit 0:4 gegen Arsenal zurück. Daraufhin stand das ganze Stadion auf und sang: 'Stand up, if you love City.' So etwas Bewegendes habe ich nie zuvor oder danach erlebt, egal ob als Verantwortlicher oder Fan."
Toppmöller trainierte zwar mit den Profis, spielte jedoch für die Reserve - unter anderem mit Shaun Wright-Phillips und Paulo Wanchope. Von der Tribüne aus musste er mitansehen, wie die Profimannschaft immer tiefer in den Abstiegskampf rutschte. Der Durchmarsch war zu schnell gekommen, es folgte der direkte Wiederabstieg. Für die United-Fans kam das sehr passend, sie feierten ohnehin schon eine große Straßenparty im Stadtzentrum von Manchester. Schließlich hatte ihr Klub gerade den dritten Meistertitel in Folge gewonnen und City seit exakt 25 Jahren gar keinen Titel von Relevanz. Die beiden Rivalen waren ewig weit voneinander entfernt.
An den infrastrukturellen Zuständen hatte sich bei City seit den Zeiten von Immel und Rösler, seit dem letzten Premier-League-Abstieg von 1996 wenig geändert. "Die Trainingsgeräte und -bedingungen waren aus einer anderen Zeit. Es gab zum Beispiel eine alte Turnhalle, in der es im Winter unglaublich kalt wurde. Um den Raum etwas zu heizen, stellten wir immer Gasflaschen auf", erinnert sich Toppmöller. Und auch das Bier schmeckte noch.
"Alkohol war in der Mannschaft ein großes Thema. Gerade die erfahreneren Spieler waren trinkfest, brachten aber am nächsten Tag erstaunlicherweise trotzdem ihre Leistung. Richard Dunne ist zum Trainingsstart einmal einfach nicht aufgetaucht. Er war ein wichtiger Spieler in der Mannschaft und später auch Kapitän. Wir mussten ewig auf ihn warten - dann kam er angeschlagen an, bekam vom Trainer einen Einlauf und das Training ging los."
Trainer Royle, der den Klub von der Dritt- in die Erstklassigkeit geführt hatte, musste City nach dem Abstieg verlassen. Sein Nachfolger wurde Kevin Keegan und er ließ begeisternden Offensivfußball spielen. Das Sturm-Trio Shaun Goater, Darren Huckerby und Paulo Wanchope erzielte in der Zweitligasaison zusammen 60 Tore. Souverän gewann City den Meistertitel und stieg 2002 somit im fünften Jahr in Folge entweder ab oder auf. Diesmal war der Klub aber gekommen, um zu bleiben.
In der Premier League stabilisierte sich City im Tabellenmittelfeld und gewann sogar erstmals nach 13 Jahren ein Derby gegen den Stadtrivalen United. Im Sommer 2003 mussten die Fans trotzdem weinen. Der Umzug ins City of Manchester Stadium, der endgültige Abschied von der Maine Road. Sieben Stunden lang wurde alles versteigert, was es zu versteigern gab. Für 800 Euro kaufte ein Fan das legendäre Stadiontor - es hatte alles gesehen, Tränen der Trauer und Tränen der Freude.
2008 übernahm Scheich Mansour den Klub und machte ihn innerhalb weniger Jahre zu einem der besten und modernsten der Welt. Neue Trainingsklamotten werden jetzt verteilt, die Hallen geheizt, die Kabinenwände verputzt und Skips ist wohl nicht mehr im Amt. City ist nicht einmal mehr typical City - 2012 sicherte Sergio Agüero den Meistertitel mit einem Treffer in der Nachspielzeit. 2014 und 2018 folgten zwei weitere Triumphe.
"Jetzt dürfen die Fans die guten Zeiten genießen und das haben sie verdient", findet Rösler. Aber nicht nur der Klub hat sich verändert, sondern auch seine Fans. "Heutzutage kommen sie ins Stadion und wollen unterhalten werden, statt selbst für Unterhaltung zu sorgen", sagt Mooney. Die Fans unterstützen den gleichen Klub, aber irgendwie auch nicht. "Das Manchester City von damals hat mit dem von heute überhaupt nichts gemeinsam", sagt Immel. "Außer die himmelblauen Trikots."