Ein Trainer wie ein Tackling
Was ihn prägte, wie er spielte, wie er arbeitet:
Mauricio Pochettino im Porträt
Eigentlich war Mauricio Pochettinos Leben als Bauer in der argentinischen Pampa vorgezeichnet - doch stattdessen wurde er erst von Marcelo Bielsa entdeckt, dann ein knallhart tackelnder Innenverteidiger und schließlich einer der spannendsten Trainer der Welt. Am Samstag trifft er mit Tottenham Hotspur im Champions-League-Finale auf den FC Liverpool (21 Uhr live auf DAZN).
Irgendwann in den vergangenen Jahren, vor irgendeinem North-London-Derby gegen den FC Arsenal wurde Mauricio Pochettino bei einer Pressekonferenz gefragt, worauf es in so einem Spiel denn wirklich ankommt. Ganz genau könne er sich daran noch erinnern, erzählt der englische Journalist Jonathan Wilson im Gespräch mit SPOX und Goal. Wilson arbeitet unter anderem für den Guardian und schreibt außerdem Bücher, eines davon über die Geschichte des argentinischen Fußballs. Worauf kommt es in so einem Derby also an? Pochettino antwortete nicht mit Worten, sondern mit Bildern.
"Er zeigte uns ein Video, in dem er bei einem Derby gegen den FC Barcelona als Espanyol-Spieler ein wahrlich hässliches Foul gegen Ronaldo beging. Dann lachte er und meinte: 'Das ist richtiges Verteidigen! Auf sowas kommt es in einem Derby an!'"
Es ist eine Episode, die viel aussagt über Pochettino, den Spieler. Aber auch über Pochettino, den Trainer, und Pochettino, den Menschen. Was man dazu wissen muss: natürlich meinte er das nicht ernst! Zumindest nicht ganz. Pochettino spricht gerne ironisch und macht Scherze, notfalls eben über sich selbst und sein überhartes Verteidigen. "Pressekonferenzen mit ihm sind sowohl die lustigsten, als auch aufschlussreichsten der Premier League", sagt Wilson. "Pochettino ist ein cleverer, charismatischer Kerl. Wenn er Scherze macht, dann muss man darüber einfach lachen - und zwar nicht aus Höflichkeit, sondern weil sie wirklich lustig sind."
Aber in jedem Scherz steckt ein Funken Wahrheit, auch in dem mit dem richtigen Verteidigen. Als Pochettino noch ein Spieler war, trug er langes Haar. Gerne zerzaust. Wild wirkte er auf dem Platz und grimmig schaute er dort meist. Pochettino kämpfte mehr, als dass er spielte. Er war ein menschgewordenes Tackling, oder - und man muss sich diesen Spitznamen unbedingt geraunt vorsagen: der Sheriff aus Murphy!
Murphy hat knapp 4000 Einwohner, liegt in der argentinischen Provinz Santa Fe und existiert nur dank der Landwirtschaft. Eine Kleinstadt mitten in der Pampa - und zwar nicht in der sprichwörtlichen, sondern der richtigen argentinischen Pampa. Grassteppen überall. Für Recht und Ordnung sorgte in Murphy einst Pochettinos Ur-Großvater, er war Sheriff und somit sein Spitznamensgeber. Der Rest der Familie widmete sich seit jeher der Landwirtschaft, natürlich auch Pochettino und sein älterer Bruder Javier. Hatten die beiden Brüder einst am gleichen Tag ein Fußballspiel, durfte nur einer antreten. Der andere musste zuhause mithelfen, Traktor fahren und so. Der Bauernhof war schließlich der Lebensunterhalt.
Pochettinos Leben als Bauer war vorgezeichnet, als sich Marcelo Bielsa gemeinsam mit Jorge Griffa 1986 von Rosario über die Ruta Nacional 33 auf den Weg nach Murphy machte.
Heute ist Bielsa Trainer des englischen Zweitligisten Leeds United, damals kümmerte er sich unter Nachwuchsleiter Griffa um die Jugend der Newell's Old Boys. Eines Traditionsklubs aus Rosario, der lange im Schatten der fünf großen Vereine des Landes stand, die sich die meisten Titel untereinander aufteilten. Den Cinco Grandes: River Plate, Boca Juniors, Racing Club, Independiente und San Lorenzo. Bielsa und Griffa machten sich Ende der 1980er Jahre mit den Newell's Old Boys auf, diese Phalanx zu durchbrechen. Das Instrument dafür war ein besonders ausgeklügeltes Scouting- und Nachwuchskonzept.
Die meisten argentinischen Fußballprofis dieser Zeit stammten aus dem Ballungsraum Buenos Aires oder den anderen Großstädten. Das Hinterland, die Pampa mit seinen ewigen Feldern war unbescouteter Grund. Bielsa und Griffa entschlossen sich dazu, ihn zu beackern und organisierten im ganzen Land Probetrainings. Weil Bielsa unter Flugangst leidet, fuhren sie mit seinem Citroën von Kaff zu Kaff, schauten jungen Spielern zu und nahmen die besten direkt mit.
Als sie von Pochettino und seinem besonderen Talent erfuhren, warteten sie aber nicht auf ein Probetraining. Sofort stiegen Bielsa und Griffa ins Auto und fuhren los. Es war spät und als sie in Murphy ankamen schon weit nach Mitternacht. Sie klopften ans Fenster seines Elternhauses, Pochettinos Vater machte auf. Unbedingt müssten sie mit seinem 14-jährigen Sohn sprechen, sagten sie, doch der schlief schon. Als Kompromiss wollten sie seine Beine sehen.
Pochettinos Vater ging mit Bielsa und Griffa ins Schlafzimmer seines Sohnes und hob die Bettdecke hoch. Ganz genau schaute Bielsa hin und dann sagte er der Legende nach: "Ja, er hat die Beine eines Fußballers."
Als Pochettino am nächsten Morgen aufwachte, erzählten ihm seine Eltern davon und bald spielte er in der Nachwuchsabteilung der Newell's Old Boys. Er war der nächste Baustein von Bielsas Mannschaft, die ihm und seinen Ideen bedingungslos folgte. Bei der Profimannschaft wurde schon getuschelt über das, was da im Nachwuchsbereich passiert, und dann rückte einer nach dem anderen auf. 1988 debütierte der 16-jährige Innenverteidiger Pochettino bei den Profis und erarbeitete sich bald einen Stammplatz. Zwei Jahre später wurde auch der damals 34-jährige Bielsa befördert und somit erneut Pochettinos Trainer.
Zwei Meistertitel holten sie gemeinsam und einmal standen sie sogar im Copa-Libertadores-Finale, das jedoch verloren ging. Die Newell's Old Boys spielten unter Bielsa einen neuartigen Fußball, einen intensiveren. "Sie waren wie ein Traktor, der seine Gegner einfach überrollt", sagte der damalige Boca-Juniors-Spieler Juan Simon später. Bielsa setzte auf harte Arbeit, intensive Gegneranalyse, hohes Pressing und einstudierte Spielzüge. Jeden Freitag ging er mit seiner Mannschaft 120 Angriffs- und 120 Abwehrszenarien durch. Alles war durchdacht bei ihm und auch durchplant.
Mit seinem akribischen Ansatz begeisterte Bielsa seine Spieler. Pochettino war nicht der einzige angehende Trainer dieser Mannschaft, da waren auch Gerardo Martino und Eduardo Berizzo. "Er war eine große Inspiration für mich, später selbst Trainer zu werden", schrieb Pochettino in seiner Autobiografie. "Obwohl ich mit ihm nicht bei allem übereinstimme." Bielsa hatte aus Pochettino einen mitdenkenden, hinterfragenden und vor allem knallharten Innenverteidiger geformt. Und so verließ er sein Heimatland und wechselte 1992 mit 22 Jahren nach Spanien zu Espanyol Barcelona.
Dass es sich bei Pochettino um einen mitdenkenden, hinterfragenden und vor allem knallharten Innenverteidiger handelte, merkten sie auch bei Espanyol schnell. Und sie wussten es zu schätzen, sehr sogar. Innerhalb kürzester Zeit wurde Pochettino Stammspieler und Leistungsträger. Irgendwann dann auch Vereinslegende.
Der damalige Aufsteiger Espanyol war das zweikämpfende Gegenstück zum zaubernden Stadtrivalen und Serienmeister FC Barcelona und so passte Pochettino perfekt zum Selbstverständnis seines neuen Vereins.
Er war berüchtigt für Tacklings, die gelegentlich zu Fouls mutierten. Wie das eine gegen Barcelonas Ronaldo, das er heutzutage vor Derbys gerne als Paradebeispiel für richtiges Verteidigen heranzieht.
Als der ehemalige Arsenal-Trainer Arsene Wenger mal nach seinen Erinnerungen an den Spieler Pochettino gefragt wurde, machte er zunächst karateartige Handbewegungen. Dann sagte er nur ein Wort: "Hart." 275 Ligaspiele bestritt Pochettino für Espanyol und erhielt dabei 13 Platzverweise. In beinahe jedem 21. Spiel musste er also vorzeitig vom Platz, kein Spieler der spanischen Ligageschichte unterbietet diese Quote. "Wenn ich eine Karte sah", erklärte Pochettino, "wusste ich zumindest, dass ich einem Gegner einen guten Tritt verpasst habe."
Während Pochettino aber vor sich hin foulte, verlor er irgendwie und irgendwann den Fokus. Pochettino war Bielsa und dessen Irrsinn gewohnt, ohne ihn ließ sein Eifer nach und auch sein Einsatz. Aber zu Pochettinos Glück verfolgten ihn Bielsa und dessen Irrsinn. Im Sommer 1998 wagte auch Bielsa den Schritt nach Europa, auch er wechselte zu Espanyol.
"Ich war zu sehr in meiner Komfortzone und er hat mich aus dieser Phase der Lethargie geholt", schrieb Pochettino in seiner Autobiografie. Dafür brauchte Bielsa nur wenige Wochen, denn keine vier Monate nach seiner Ankunft in Barcelona war er schon wieder weg - für Pochettino aber immer noch da. Bielsa wurde argentinischer Nationaltrainer und verhalf ihm bald zu seinem Debüt.
Dank Bielsa landete Pochettino also bei Bielsa und erfüllte sich seinen Traum. 20 Spiele machte er für seine Nation und nahm sogar an der Weltmeisterschaft 2002 teil.
In Erinnerung blieb der Nationalspieler Pochettino für ein Foul. Bei der WM gegen Englands Michael Owen, im Strafraum. David Beckham verwandelte den fälligen Elfmeter zum 1:0 und Argentinien scheiterte in der Vorrunde.
Pochettino spielte zu diesem Zeitpunkt bereits in Frankreich. Kurz nach dem spanischen Pokalsieg 2000 war er zu Paris Saint-Germain gewechselt. Französisch konnte er nicht, aber Mannschaften führen und mitreißen. So wurde er innerhalb weniger Monate zweiter Kapitän. Nach zweieinhalb Jahren zog er weiter zu Girondins Bordeaux, ehe er im Januar 2004 heimkehrte. Heim zu Espanyol. 2006 gewann Pochettino noch einen zweiten spanischen Pokal, dann beendete er seine Karriere.
Die erste große Anschaffung nach seinem Karriereende war ein Smart, erzählt Pochettino in seiner Autobiografie, mit dem er durch die Gegend fuhr und das Leben in Barcelona genoss. Er besuchte auch die Heimspiele von Espanyol und hielt stets Kontakt zu seinem Ex-Klub. Während Pochettino seine Trainerkurse absolvierte, sammelte er bei der Frauenmannschaft erste praktische Erfahrungen.
Espanyols Profimannschaft schlitterte gleichzeitig in eine Krise und stand im Januar 2009 auf einem Abstiegsplatz. Auf der Suche nach einem neuen Trainer wandten sich die Vereinsverantwortlichen an den 37-jährigen Pochettino. "Mein Kopf sagte nein", erinnerte er sich. "Aber ich habe auf meinen Bauch gehört." Und der wusste es besser.
Pochettino führte Espanyol zunächst zum ersten Derbysieg beim FC Barcelona seit 27 Jahren und schließlich auf Platz zehn. Der Klub steckte in finanziellen Schwierigkeiten und so verstärkte Pochettino seine Mannschaft statt mit teuren Neuzugängen hauptsächlich mit Spielern aus der Nachwuchsabteilung. Nach drei weiteren Mittelfeldplätzen stürzte Espanyol in Pochettinos fünfter Saison jedoch ab. Im November trennten sich Klub und Trainer einvernehmlich.
Einige Monate zuvor war der Präsident des FC Southampton Nicola Cortese im Stadion von Espanyol zu Besuch. Gekommen, um einen talentierten brasilianischen Offensivspieler zu scouten: Philippe Coutinho, der Cortese aber schnell egal war. "Ich fühlte mich sofort zu diesem jungen Mann an der Seitenlinie hingezogen", erinnerte er sich später. "Ich kannte damals noch nicht einmal seinen Namen, aber von diesem Moment an verfolgte ich seine Karriere." Im Januar 2013 holte ihn Cortese nach England.
Genau wie zuvor Espanyol übernahm Pochettino auch mit Southampton einen Klub im Abstiegskampf, genau wie Espanyol führte er ihn zum Klassenerhalt und in der darauffolgenden Saison ins Tabellenmittelfeld und genau wie bei Espanyol vertraute er dabei etlichen Spielern aus der eigenen Nachwuchsabteilung.
Pochettino brachte seiner neuen Mannschaft innerhalb kürzester Zeit seine bewährte Spielphilosophie bei: defensive Organisation, Pressing und Kraft, Tempo und Leidenschaft. Und das, obwohl er kaum ein Wort Englisch sprach. "Der Schritt nach England war mein härtester Test", sagte Pochettino später. "Ich konnte nichts auf Englisch sagen, aber ich habe sie an mich glauben lassen." Nach der ersten vollen Saison aber ließ er die Glaubenden zurück und zog weiter. In die Hauptstadt, nach London.
Im Sommer 2014 wurde Pochettino Trainer von Tottenham Hotspur. 18 Jahre war der heutige Bremer Milos Veljkovic damals alt. Ein junger, unerfahrener Spieler aus der Tottenham-Nachwuchsabteilung - aber einer, der für Pochettino deshalb nicht weniger zählte. "Obwohl ich damals hauptsächlich für die Reservemannschaft zum Einsatz gekommen bin, hat er sich um mich genauso intensiv gekümmert wie um die Stars. Nach den Trainingseinheiten sagte er mir immer genau, wo ich mich verbessern soll", erzählt Veljkovic gegenüber SPOX und Goal. "Das ist nicht selbstverständlich."
Veljkovic erinnert sich noch bestens daran, wie Pochettino in Gesprächen mit ihm immer wieder seine ehemaligen Southampton-Spieler nannte: Luke Shaw, James Ward-Prowse, Calum Chambers, Adam Lallana, Nathaniel Clyne. All die Talente, aus denen Pochettino während seinen lediglich eineinhalb Jahren bei Southampton landesweit umworbene, angehende Nationalspieler formte. Der Serbe Veljkovic ging diesen Schritt erst nach seinem Abschied, bei etlichen anderen jungen Spielern klappte es aber auch bei Tottenham: Harry Kane, Dele Alli, Eric Dier, Danny Rose, Kieran Trippier, Harry Winks. Pochettino liebt es, mit jungen Spielern zu arbeiten, ihnen langfristig zu vertrauen. Er steht für Kontinuität.
Zehn der elf Spieler, die beim Halbfinal-Rückspiel der Champions League gegen Ajax Amsterdam die Startelf bildeten, stehen seit mindestens Sommer 2016 bei Tottenham unter Vertrag. Der elfte war der dreifache Torschütze Lucas Moura. Er kam vor 16 Monaten und ist bis heute der letzte Neuzugang des Vereins. Kontinuität, die sich lohnt. Abgesehen von der ersten Saison führte Pochettino Tottenham stets in die Champions League.
Die meisten aktuellen Spieler machten den ganzen Weg mit und erlebten somit auch schon einige Sommer-Vorbereitungen unter Pochettino. "Da wohnen alle Spieler ein paar Wochen lang nicht zuhause, sondern in einem Hotel beim Trainingszentrum", erzählt Veljkovic. "Das kannte ich so nicht und war etwas ungewöhnlich. Dadurch ist man aber fokussierter." Abgeschaut hat sich Pochettino dieses Konzept von Bielsa, der es bei den Newell's Old Boys einst ähnlich praktizierte. Nicht nur örtlich, sondern auch menschlich sind sich der Trainer und seine Spieler in dieser Zeit nahe und die emotionale Bindung bleibt laut Veljkovic.
"Bei privaten Problemen kann man immer zu ihm gehen und er hilft einem weiter. Ich hatte viele gute Gespräche mit ihm - über Fußball und das Leben. Jeder weiß, dass er ein super Trainer ist, besonders beeindruckend ist aber seine Menschlichkeit."
In einem Interview mit der El Pais sagte Pochettino neulich, man dürfe Spieler "nicht wie ein Sofa, einen Stuhl, einen Fernseher oder einen Computer benutzen". So hart Pochettino einst auf dem Platz spielte, so einfühlsam redet er daneben. "In seinen Ansprachen bleibt er stets ruhig", sagt Veljkovic. "Er rastet nie aus oder schreit herum." Das Ausrasten und Herumschreien beschränkt er auf den Jubel nach dem Spiel.
Ansprachen an die Mannschaft hält Pochettino immer selbst, ansonsten legt er in seinem Trainerteam viel Wert auf Arbeitsteilung. Er ist kein Einzelgänger, kein Diktator. Schon seit seiner ersten Trainerstation bei Espanyol arbeitet Pochettino mit seinen beiden Assistenten Jesus Perez und Miguel D'Agostino sowie Torwarttrainer Toni Jimenez zusammen - und handelt stets die Verträge für alle vier aus. Das gegenseitige Vertrauen ist grenzenlos. "Sie sitzen in einem Büro und sprechen über alles", sagt Veljkovic.
Bei den Trainingseinheiten kümmert sich Perez um die Aufwärmübungen und kleinere Spielformen. "Da beobachtet Pochettino entweder nur, wie sich jeder verhält und fühlt, oder spielt selbst mit", erzählt Veljkovic. Pochettino setzt auf eher kurze, aber umso intensivere Einheiten. "Unter ihm muss man schuften wie ein Hund", sagte Pablo Osvaldo mal, der sowohl bei Espanyol als auch bei Southampton unter Pochettino spielte und schuftete. "Seine Fitnessarbeit ist die beste der Liga", findet Journalist Wilson. "Sowohl mit Southampton als auch mit Tottenham stellte er die fitteste Mannschaft der Liga."
Taktisch steckt viel Bielsa in Pochettino. Beide lieben sie das Pressing! "Unsere damalige Spielweise (bei den Newell's Old Boys, Anm. d. Red.) hatte einige Ähnlichkeiten mit meinen heutigen Spurs: intensiv, schnell, hohes Pressing und viele einstudierte Bewegungen", schrieb Pochettino in seiner Autobiografie. Veljkovic erinnert sich an etliche Trainingseinheiten, in denen es um Verschieben und Pressing ging. "Er beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Verhalten seiner Mannschaft bei gegnerischem Ballbesitz, arbeitet sehr viel mit der Viererkette und den beiden Sechsern. Den Stürmern macht er genau vor, wie sie anlaufen sollen." Pochettinos erste Maßnahme als Tottenham-Trainer war es, die Defensive zu stabilisieren. Die Anzahl an Gegentoren ging bald drastisch zurück.
"Pochettino ist ein Taktik-Genie", findet Veljkovic, doch genau das ist das Paradoxe an ihm. Pochettino liebt Taktik, hält sie aber trotzdem für überbewertet.
"Es nervt ihn, wenn der Fußball verkompliziert wird", sagt Wilson. Am wichtigsten ist Pochettino anderes: Kraft, Tempo und Leidenschaft. "Ohne die richtige Einstellung, ohne Eifer und Gier braucht es keine Taktik", sagt er selbst.
Ob dieser Ansatz nicht überholt sei, wurde Pochettino in besagtem Interview mit der El Pais gefragt, und er machte deutlich, dass er das natürlich nicht so sieht. "Ich habe mir neulich eine Wiederholung des Landesmeistercup-Halbfinals 1975 zwischen dem FC Barcelona und Leeds United angeschaut", sagte er. "Das war Fußball! Da sieht man Johan Cruyff treten und kämpfen. In diesen Fußball habe ich mich verliebt."
Barcelona gegen Leeds von 1975, dieses Spiel ist kein Klassiker der Fußballgeschichte. Mehr der unbemerkte Pass als der spektakuläre Fallrückzieher unter den großen Europapokalspielen. Gewonnen haben mit Leeds damals jedenfalls die Engländer. Genau wie Pochettinos Tottenham im diesjährigen Champions-League-Halbfinale gegen Ajax, den zweiten Cruyff-Klub. Entscheidend war damals wie heute nicht die Spielkultur, entscheidend waren Kraft, Tempo und Leidenschaft bis zum Schluss.
"Pochettino sorgt gerade für die Wiederentdeckung der englischen Werte", sagt Wilson. Angereichert mit der defensiven Organisation und Pressing-Besessenheit, die er von Bielsa lernte, ergibt das eine erfolgreiche Mixtur - dank der Tottenham vor Ajax auch schon Borussia Dortmund und Manchester City aus der Champions League warf.
Nach dem dramatischen Weiterkommen im Viertelfinale gegen City stürmte Pochettino in die Tottenham-Kabine und jubelte dort ekstatisch den berüchtigten Cojones-Jubel, das Tackling unter den Jubelarten. Es war Pochettino in Reinform.