Jetzt dominiert die Batterie
Heung-Min Son spielt seit Jahren auf konstant hohem Niveau. Er ist "Mr. Underrated" schlechthin und fühlt sich in der Rolle auch wohl. In dieser Saison aber braucht Tottenham Hotspur mehr als nur einen sehr guten Nebendarsteller - und Son verwandelt sich.
Von Stefan Zieglmayer
Wenn in Südkorea um 3.55 Uhr rund eine Million Wecker klingeln, haben entweder eine Million Südkoreaner bedauernswerte Arbeitszeiten oder Son tritt irgendwo in Europa gegen einen Ball.
Für das Halbfinal-Rückspiel in der Champions League gegen Ajax Amsterdam (ab 20.45 Uhr live auf DAZN) werden sich noch mehr Menschen mitten in der Nacht aus dem Bett quälen.
"Er ist bei allen Generationen von Südkoreanern bekannt und beliebt", sagt Sungmo Lee, Journalist bei Goal Korea. Der Hype in seiner Heimat ist so groß, dass Fans sogar Sons Flüge nach Südkorea tracken, um dem 26-Jährigen schon am Flughafen entgegenkreischen zu können.
In Seoul ist er ein Halb-Gott. In London ist er Sonny. Sonny, der eine herausragende Saison spielt und langsam auch außerhalb Südkoreas als Weltstar wahrgenommen wird.
In der Johan-Cruyff-Arena könnte Son am Mittwoch die nächste Stufe erreichen, sollte er seine Spurs ins erste Champions-League-Finale der Vereinsgeschichte führen.
Dafür muss sein Team gegen Ajax einen 0:1-Rückstand aus dem Hinspiel aufholen. Tottenham braucht mindestens einen, besser aber zwei Treffer. Dafür hätten im Hinspiel nicht einmal die Schüsse aufs Tor von Ajax-Keeper Andre Onana gereicht.
Ohne den verletzten Harry Kane tut sich die Mannschaft von Mauricio Pochettino derzeit schwer. Ohne Kane und den gelb-gesperrten Son aber lief im Hinspiel offensiv gar nichts bei den Spurs zusammen.
Son ist so wichtig wie noch nie für die Lilywhites - so wichtig wie Kane. Aufgrund dessen Kaltschnäuzigkeit vor dem Tor nannte Son seinen Kapitän einst "Monster". In Kanes Abwesenheit verwandelte sich Son selbst in ein solches.
Unter den Leidtragenden: Borussia Dortmund und Manchester City - und bald auch Ajax?
"Er ist noch nicht am Ende seiner Entwicklung"
Im Viertelfinale gegen City erzielte Son drei der vier Spurs-Treffer. Der BVB bekam ihn genauso wenig in den Griff. Son wich immer wieder auf die Flügel aus, antizipierte entstehende Freiräume früher als jeder Gegenspieler und war mit seinem Tempo nicht zu bändigen.
Son hievte sein Spiel in dieser Saison auf einen neuen Level. Vor allem das Spiel gegen den Ball. Die richtigen Laufwege findet Son nicht nur in der Offensive, er stellt mögliche Passwege des Gegners auch früh zu und profitiert dabei von seinem schnell Antritt.
Aber auch im eigenen Angriff agiert er noch cleverer, sowohl mit als auch ohne Ball - und bringt sich so häufig in Abschlussmöglichkeiten. Seit Kanes Bänderverletzung fällt das noch mehr auf, da Son nicht mehr zweite, sondern erste Scoring-Option ist.
"Er ist noch nicht am Ende seiner Entwicklung. Er wird jedes Jahr besser. Wenn er mehr Verantwortung übernimmt, kann er noch einen drauflegen. Das hat er gezeigt", sagte Sons ehemaliger HSV-Trainer Rodolfo Cardoso zu SPOX und Goal.
Son spielt seit 2016 auf einem konstant hohen Level. Nach einem vielversprechenden ersten Jahr bei den Spurs, in dem er jedoch noch Anpassungsschwierigkeiten an die physischere Premier League hatte, schlug er auf der Insel ein.
"Er kann in jeder Liga spielen, weil er die nötige Qualität und Arbeitsethik hat", meint Ex-Coach Cardoso: "Er war sehr ehrgeizig, ein sehr fleißiger Junge, der immerzu trainieren wollte. Mit seinem Vater schob er nach beinahe jedem HSV-Training noch eine Extra-Schicht."
"Sonny ist wie eine Batterie"
Den Fleiß behielt sich Son, er stellt ihn Woche für Woche auf dem Trainingsgelände an der Whitewebbs Lane unter Beweis. Das zahlt sich aus. Häufig ist vom "most underrated Player of the League" die Rede, wenn es um Son geht.
Das liegt auch an Sons zurückhaltender Art. "Er ist sehr lernfähig, respektvoll und diszipliniert", sagt Cardoso. Alles dreht sich nur um Fußball. Selbst Frauen verdrehen ihm nicht den Kopf. "Wenn du heiratest, sind die Familie, die Frau und die Kinder die Nummer eins. Und dann kommt erst der Fußball. Ich will sicherstellen, dass der Fußball die Nummer eins ist, solange ich auf dem höchsten Level spielen kann", sagte er dem Guardian.
Son ist ein Familienmensch. Er ist der nette Junge von nebenan, der immer freundlich lächelt und nett grüßt. Auf dem Platz überlässt er die Leaderrolle für gewöhnlich Anderen. "Ich spiele gerne mit dominanten Offensivspielern zusammen, die dem Gegner Angst einflößen", sagte Son bei seiner Vorstellung in London vor vier Jahren.
Jetzt, da Kane auf der Tribüne sitzt, schlüpft Son jedoch in eben diese dominante Rolle, die er im Nationalteam schon längst ausfüllt.
"Allein sein Lächeln bringt gute Energie und ist ansteckend", sagt Pochettino. Und Energie habe Son reichlich. "Sonny ist wie eine Batterie – er arbeitet, arbeitet, arbeitet, arbeitet, bis er leer ist. Er gibt dir alles, und wenn er erschöpft ist, sagt er, dass er sich ausruhen muss. Aber auf dem Spielfeld ist er immer zu 100 Prozent bei jeder Aktion dabei. Er macht immer weiter und gibt nie auf - er versucht es immer wieder."
Genau das wird er auch gegen Ajax tun, damit in Südkorea gegen 5.45 Uhr eine Million Menschen zwei Millionen geballte Fäuste hochreißen.