Zverev - und sonst?

Arne Pieper
12. Dezember 201610:01
Alexander Zverev ist auf dem Weg in die Weltspitze des Tennisgetty
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Mit Alexander Zverev arbeitet sich die personifizierte Hoffnung des deutschen Herrentennis peu a peu an die Weltspitze. Ansonsten sieht es allerdings mau aus. Die Probleme sind vielfältig: Mal übersieht der DTB ein großes Talent, mal fehlt schlichtweg das Geld - oder die Bequemlichkeit wird zum Problem.

Der DTB scheint mit Alexander Zverev endlich sein langersehntes Aushängeschild gefunden zu haben. Mit gerade einmal 19 Jahren ist er bereits die Nummer zwei im deutschen Herrentennis, welches sich ansonsten weiter in einer schweren Krise befindet.

Ob sich an der jahrelangen Dürre in Zukunft etwas ändert, liegt zumindest mittelfristig allein in den Händen des jungen Zverev, der aktuell neben Philipp Kohlschreiber als einziger deutscher Profi unter den Top 50 der Weltrangliste geführt wird.

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Zumindest eine geringere Anzahl vielversprechender Talente lauert in den Startlöchern, der wegweisende Sprung auf die Profi-Tour steht allerdings noch bevor. Genau dieser Schritt ist in Deutschland äußerst steinig und zwingt die jungen Spieler zur Improvisation, um sich den Traum trotz der strukturellen Defizite zu erfüllen.

Der Kronprinz

Inspiriert durch die Karriere seines Bruders Mischa und angetrieben von seinem Vater Alexander Michailowitsch, ehemals sowjetischer Profispieler, stand Alexander, genannt Sascha Zverev, schon als kleines Kind fast täglich auf dem Court. Statt den klassischen Weg über tägliche Arbeit in Verein und Leistungszentren zu gehen, trainierte er hauptsächlich im Umfeld seiner Familie.

Bereits mit 13 reiste er mit seinem älteren Bruder um die Welt, begünstigt durch das Entgegenkommen seiner Schule. Das Mannheimer Kurpfalz-Gymnasium erlaubt als eine der einzigen Schulen in Deutschland mit Leistungssport-Zweig auch längere Fehlzeiten.

Wegen der besseren Bedingungen verbrachte er schon als Teenager den Großteil der kalten Jahreszeit in Florida und Australien, mit Abschluss der zehnten Klasse verließ er die Schule dann zugunsten der Karriere komplett. Die großen Erfolge bei den Junioren ließen nicht lange auf sich warten, weshalb er schon mit 16 den Schritt auf die Profitour wagte - der richtige Schritt, wie sich inzwischen herausgestellt hat.

Zu was Zverev wirklich im Stande ist, werden wir wohl erst in den kommenden Jahren erfahren. Vor allem in puncto Kraft muss er noch deutlich zulegen, aufgrund des erst jetzt abgeschlossenen Wachstums wurde er in dieser Hinsicht lange Zeit eingeschränkt.

Der Hoffnungsträger

Abgesehen von Zverev landet man auf der Suche nach der größten Nachwuchshoffnung schnell bei einem Namen: Rudolf "Rudi" Molleker. Ihm wird nicht nur eine rosige Zukunft vorausgesagt, er kann mit seinen 15 Jahren auch bereits auf eine spannende Lebensgeschichte voller Hindernisse zurückblicken.

Molleker wurde 2000 in der Ukraine geboren, drei Jahre später entschieden sich seine Eltern, nach Deutschland auszuwandern. In Brandenburg kam die Familie zunächst in einem Heim unter, wo sie sich unter menschenunwürdigen Verhältnissen durchschlagen musste. Zusammen mit drei Geschwistern, Onkel, Tante, Neffe und den Eltern lebte Molleker in einem einzigen Zimmer, ehe der Familie eine Plattenbauwohnung im Berliner Stadtteil Oranienburg zugeteilt wurde.

Nachdem seine Mutter zwei Jahre später eine Stelle als Zahnärztin gefunden hatte und Rudolf per Zufall ein Tennisschläger in die Hände gefallen war, sollte sich das Leben für die Mollekers jedoch radikal ändern: Der Vater erkannte das große Talent und kümmerte sich fortan rund um die Uhr um die potentielle Karriere seines Sohnes. Sämtliche Einkünfte der Mutter, die nicht für das Nötigste zum Leben gebraucht wurden, wanderten in die Ausbildung von Rudolf.

"Mein Ziel ist ganz klar die Nummer eins"

Zehn Jahre später stand Rudi Molleker im Junioren-Hauptfeld der Australian Open. Er hat bereits eine eigene Website, zwei Trainer und spricht mit gesundem Selbstvertrauen über die Zukunft.

"Mein Ziel ist ganz klar, die Nummer eins der Welt zu werden", verrät er der Berliner Morgenpost. Der finanzielle Aufwand war enorm, die Familie wohnt noch immer in der kleinen Berliner Plattenbauwohnung. Spätestens seit seinem Durchbruch in den vergangenen Monaten ist aus dem Traum der erfolgreichen Profikarriere aber ein absolut realistisches Szenario geworden.

Angetrieben von der Hoffnung auf ein besseres Leben ist bei dem Jungen der unbändige Wille erwacht, sich für den Erfolg jeden Tag zu quälen, härter und länger als alle anderen: "Ich möchte allen in meiner Familie ein schönes Leben ermöglichen. Und dafür arbeite ich jeden Tag."

Auf der Strecke blieben auf seiner Mission allerdings nicht nur Freizeit und Freunde, sondern auch die Schule. Wie viele andere setzt auch Molleker alles auf eine Karte, wie er im vergangenen Jahr selbst verriet. "Über Plan B habe ich mir noch keine Gedanken gemacht", sagte er während eines Showturniers in Berlin, bei dem er Henri Leconte gegenüber stand, und schickte noch hinterher: "Hausaufgaben? Nicht so mein Motto."

Der verlorene Sohn

Als großer Hoffnungsträger galt lange auch Nicola Kuhn, ebenfalls erst 15 Jahre alt. Gemeinsam mit Molleker gewann er 2014 die U14-Teamweltmeisterschaft, ein Jahr später führte er Deutschland mit bärenstarken Leistungen ins Finale des Junior Davis Cup. Im Dezember folgte plötzlich der Schock für den DTB: Kuhn verkündete seinen Wechsel zum spanischen Tennisverband, obwohl er dort in familiärer Hinsicht keinerlei Wurzeln hat.

Was war passiert? Schon seit Jahren nutzte Kuhn jede freie Minute, um im spanischen Alicante zu trainieren. In der hoch professionellen Equelite Academy von Ex-Profi Juan Carlos Ferrero holte er sich den Feinschliff für eine potentielle Profikarriere. In Deutschland bekam man offenbar von alldem nur wenig mit, sein großes Talent wurde schlichtweg zu spät erkannt.

"Wir wurden vor vollendete Tatsachen gestellt", gab der verblüffte DTB-Vizepräsident Dirk Hordorff nach der Bekanntgabe kurz vor Jahreswechsel zu Protokoll. Im Gegensatz zu Deutschland werden Kuhn in Spanien immense finanzielle Zuschüsse zugesichert, um die Familie zu entlasten und eine bestmögliche Ausbildung zu garantieren.

"Es ist schwer, mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln dagegenzuhalten", musste Hordorff diesbezüglich einräumen. Der DTB hat den Kampf um Kuhn zwar noch nicht aufgegeben, verliert aber aller Voraussicht nach einen potentiellen Top-Ten-Spieler.

Großer Verband, geringe Mittel

Die Beispiele Molleker und Kuhn stehen sinnbildlich für die Probleme bei der Nachwuchsförderung in Deutschland. Der DTB ist mit rund 1,5 Millionen Mitgliedern in über 9000 Vereinen der größte Tennisverband der Welt. Das Geld, welches den Verantwortlichen um Präsident Ulrich Klaus zur Talentförderung zur Verfügung steht, steht dazu jedoch in keinerlei Verhältnis.

Ein grundlegendes Problem ist das Fehlen hochkarätiger Turniere, die Ländern wie Frankreich einen erheblichen Teil ihrer Einnahmen bescheren. Die FFT generiert allein mit den French Open jährlich einen Gewinn im zweistelligen Millionenbereich, dazu kommt mit dem Paris Masters noch ein Turnier der 1000er-Serie.

Deutschland muss seit 2008 neben dem fehlenden Grand Slam bei den Herren auch ohne Masters auskommen, auf der WTA-Tour gibt es mit dem Porsche Tennis Grand Prix in Stuttgart lediglich ein Turnier der untersten Ebene der Premier Tournaments. Kritik gibt es zudem seit Jahren an der niedrigen Bedeutung von Future-Turnieren, die für viele Junioren von großer Bedeutung sind.

Stattdessen werden sie gezwungen, schon in jungen Jahren weitere und somit kostenintensive Reisen auf sich zu nehmen, um Spielpraxis und die nötigen Punkte für den nächsten Schritt zu sammeln.

Geld spielt eine große Rolle

Im Vergleich zu anderen Sportarten spielt Geld bei der Ausbildung von Talenten eine große Rolle, denn der Weg zum Profi ist nicht nur hart, sondern auch äußerst kostspielig. In den meisten Fällen ist es ohne Geld aus der Familie gar nicht möglich, den Weg zur Profikarriere überhaupt zu finanzieren.

Die Kosten für Reisen, Trainer und Platzmiete in der in Deutschland langen Hallensaison übersteigen in vielen Fällen die finanziellen Möglichkeiten der Familien. In Ländern wie Spanien ist es dagegen fast ganzjährig möglich, draußen zu trainieren. Öffentliche und somit kostenfreie Tennisplätze sucht man hierzulande außerdem vergebens.

Aus der finanziellen Hürde ergibt sich ein weiteres grundlegendes Problem. Tennis ist in Deutschland vor allem ein Sport der Mittel- und Oberschicht, es fehlt die Zugänglichkeit sämtlicher sozialen Ebenen.

Fulltime-Job "angehender Tennisprofi"

Auf der anderen Seite legen Familien aus der Oberschicht in der Regel deutlich mehr Wert auf die Schul- und Berufsausbildung, weshalb der Fulltime-Job "angehender Tennisprofi" häufig als schlichtweg zu riskant angesehen wird.

Anhand des derzeitigen Nachwuchses wird umso deutlicher, dass man bereits als Jugendlicher alles auf eine Karte setzen muss, um eine realistische Chance zu haben, den Sprung auf die Profitour zu schaffen.

Neben Zeit und Geld kommt mit dem unbedingten Willen noch ein dritter Faktor hinzu, der nicht bei allen Talenten gegeben ist. Vor allem in der Mittel- und Oberschicht fehlt es den Jugendlichen häufig am natürlichen Willen, alles für den Erfolg zu geben und den Sport zum beinahe einzigen Lebensinhalt zu machen.

"Unser größter Feind ist die Bequemlichkeit"

Im Gegensatz zum Volkssport Fußball ist im Tennis eine deutlich intensivere Hingabe erforderlich, um es tatsächlich zum Profi zu schaffen. Nach der Schule, die im Gegensatz etwa zu Spanien deutlich mehr Zeit pro Tag verschlingt, bleibt im Grunde nur noch Zeit für Training, das Sozialleben muss dagegen bereits als Teenager fast vollständig aufgegeben werden.

"Unser größter Feind ist die Bequemlichkeit", urteilte Alexander Waske diesbezüglich bereits vor einiger Zeit gegenüber der FAZ und wies auf den mangelnden Willen vieler Toptalente hin.

Hilft das Bundesinnenministerium?

Dieser Wille ist bei Kindern aus sozial schwächeren Familien oft deutlich stärker ausgeprägt. Die Bereitschaft, alles für die Karriere zu opfern, um ein besseres Leben führen zu können, sorgt etwa bei Rudi Molleker für das letzte Quentchen, welches ihn zu einem Top-10-Spieler machen könnte.

Ohne die Vernachlässigung der Schule und die finanziellen Aufopferung der Familie wären aber auch dieses Attribut, gepaart mit seinem großen Talent, bei Weitem nicht ausreichend.

In Bezug auf die finanzielle Unterstützung fehlen dem DTB schlichtweg die Fördermittel, neben ausbleibender Einnahmen über große Turniere wird auch durch den Staat nur vergleichsweise wenig Geld in die Kassen gespült. In den goldenen Zeiten mit Becker, Stich und Graf hatte man noch freiwillig auf die Hilfe des Bundes verzichtet, welche inzwischen aus Sicht des DTB bitter nötig wäre.

Die Gebete richten sich derzeit an das Bundesinnenministerium, welches 2017 darüber abstimmt, ob Tennis wieder ins nationale Förderprogramm aufgenommen wird.

Tennisinternate vs. Leistungszentren

Finanzielle Hilfe bräuchten die Familien nicht nur für die Ausbildung, sondern vor allem auch hinsichtlich der Reisekosten. Auf der für die Entwicklung äußerst wichtigen Future-Serie reisen die Talente zum Großteil auf eigene Rechnung um die Welt.

Bei den Junioren-Grand-Slams übernimmt der DTB zwar die Kosten, jedoch nur, wenn auch die Hauptrunde erreicht wird. Scheitert ein junger Spieler also zum Beispiel in Melbourne in der Qualifikation, muss die Familie auf eine Schlag für einen enormen Betrag aufkommen.

Hinsichtlich der Schulausbildung stellt das angesprochene Kurpfalz-Gymnasium eine absolute Ausnahme dar. Im Gegensatz zu einem zentralen System mit Tennisinternaten und -akademien wie in Spanien, Frankreich oder den USA, wo die spezifische Tennisförderung an die allgemeinbildende Ausbildung verknüpft wird, stehen die meisten Jugendlichen vor der schwierigen Entweder-oder-Entscheidung zwischen Schule und Tennis.

Engere Zusammenarbeit mit Schulen

In Deutschland setzen die Verantwortlichen dagegen auf das Zusammenspiel von Vereinen, den Leistungszentren der Bundesländer und dem Bundesstützpunkt. Vor allem die Letzteren sollen in Zukunft enger zusammenwachsen, um das Maximum aus den finanziellen Möglichkeiten herauszuholen.

Ohne zusätzliches Geld aus Bund oder privaten Förderprogrammen und ohne eine deutlich engere Zusammenarbeit mit den Schulen wird es aber auch in Zukunft kaum erreichbar sein, den Talenten eine ähnlich professionelle und zielgerichtete Ausbildung zu ermöglichen wie in manch anderen Ländern.

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