SPOX: Um den umworbenen Brasilianer Carlos Eduardo von einem Wechsel nach Hoffenheim zu überzeugen, behalf sich der damalige Trainer Ralf Rangnick mit einer kleiner Notlüge: Er schwindelte Eduardo vor, dass Hoffenheim eine Millionen-Metropole ist. Erging es Ihnen ähnlich?
Gylfi Sigurdsson: Wenn man es so will, hat mich Ralf Rangnick auch ausgetrickst. (lacht) Wir trafen uns erstmals in Heidelberg, ich dachte jedoch die ganze Zeit, dass es Hoffenheim wäre. Von daher bin ich davon ausgegangen, dass Hoffenheim zwar keine Metropole ist, aber eine größere Stadt mit einem belebten Zentrum. Erst als ich hierhergezogen bin, wurde mir bewusst, wie klein Hoffenheim tatsächlich ist.
SPOX: Ein Problem?
Sigurdsson: Überhaupt nicht. Ich wurde zwar in Reykjavik geboren, aber aufgewachsen bin ich einige Kilometer entfernt in einem Dorf. Ich mag das Beschauliche, in Island wie in Deutschland.
SPOX: Inwieweit ist Ihre Heimat mit Deutschland vergleichbar? Island wirkt für viele Deutsche mit seiner einzigartigen Szenerie aus Vulkanen, Geysiren und Eis-Wüsten fast schon unwirklich und mystisch. Und dass auf der deutschen Wikipedia-Seite wörtlich steht, dass "viele Isländer an die Existenz von Elfen glauben", sorgt ebenfalls für eine gewisse Faszination.
Sigurdsson: Im Ernst? Wirklich? Das zeigt wieder, dass man nicht alles glauben soll, was auf Wikipedia zu lesen ist. Auf Island leben bestimmt abergläubische Menschen, das ist aber wohl überall auf der Welt so. Die Landschaft ist in der Tat atemberaubend, davon abgesehen ist das Leben auf Island aber nicht so mystisch oder außergewöhnlich, wie es sich viele vorstellen. Der Alltag ähnelt sehr dem in Westeuropa, selbst die Temperaturen sind von wenigen Tagen im Jahr abgesehen sehr erträglich und unterscheiden sich nicht groß von England oder Deutschland. Und um das klarzustellen: Ich persönlich kenne keinen Isländer, der an Elfen glaubt. (lacht)
SPOX: Immerhin bedienen Sie ein Klischee über Isländer: Neben Fußball spielten Sie früher den Volkssport Handball. Träumten Sie von einer Karriere beim THW Kiel?
Sigurdsson: Nein, nein. Ich bin zwar nach wie vor ein großer Handball-Fan, verfolge alle großen Turniere wie im Januar die WM in Schweden und gehe in meiner Freizeit gerne zu den Rhein-Neckar Löwen. Ich und die Löwen-Spieler Olafur Stefansson, Robert Gunnarsson und Gudmundur Gudmundsson laden uns gegenseitig zu den Heimspielen ein, zuletzt war ich zur Handball-Champions-League gegen den FC Barcelona vor Ort. Aber an eine Handball-Karriere habe ich nie gedacht. Ich betrieb nie leistungsmäßig die Sportart, es war eher ein Hobby mit den Freunden. Fußball war und ist meine einzige Liebe.
SPOX: Sie spielten in der Jugend für die international unbedeutenden isländischen Klubs Hafnarfjördur und Köpavogur. Wie wurde Reading dennoch auf Sie aufmerksam?
Sigurdsson: So richtig weiß ich es heute noch nicht. Irgendwie bin ich jemandem wohl bei einem Spiel der Junioren-Nationalmannschaft aufgefallen. Ich wurde daraufhin mehrmals zu Probetrainings nach England eingeladen und bekam mit 15 einen Vertrag angeboten.
SPOX: Wie verliefen die fünf Jahre in Reading?
Sigrudsson: Es soll nicht so klingen, als ob ich dort gelitten hätte. Aber für einen 15-Jährigen war es anfangs hart, über 1000 Kilometer von den Eltern und Freunden entfernt ein neues Leben zu beginnen. Ich habe in der U 16 angefangen und erst nach zwei Ausleihgeschäften bekam ich in der ersten Mannschaft eine Chance. Ab dem Sommer 2009 ging es jedoch nur noch aufwärts. Nach meiner Rückkehr von Crewe Alexandra wurde ich Stammspieler, erzielte viele Tore und wurde von den Fans gefeiert. Plötzlich sangen sie sogar Lieder für mich.
SPOX: Das kultige: "Sig! Sig! The Sig's on fire!"
Sigurdsson: Genau. Wie sehr ich wirklich geschätzt wurde, habe ich jedoch erst im Nachhinein begriffen, als mein Weggang nach Hoffenheim feststand und ich in Internet-Foren las, dass mich die Fans sehr vermissen. Deswegen war es mir auch so wichtig, auf der offiziellen Reading-Homepage einen offenen Brief zu veröffentlichen, um meine Dankbarkeit auszudrücken.
Gylfi Sigurdsson im Porträt: Raubzug in Reading
SPOX: Sie sind Hoffenheim beim 4:1-Erfolg der isländischen über der deutschen U 21 nachhaltig aufgefallen. Aber stimmt die Geschichte, dass Sie womöglich noch in Reading spielen würden, wenn Sie nicht von Ralf Rangnicks Sohn entdeckt worden wären?
Sigurdsson: Ralf hat mir erzählt, dass sein Sohn in Reading auf die Schule ging, deswegen häufig in unserem Stadion war und ich ihn beeindruckt habe. Leider habe ich noch nicht die Chance gehabt, mich bei seinem Sohn zu bedanken.
SPOX: Was hat den Ausschlag für Hoffenheim gegeben? Es heißt, dass auch Arsenal interessiert war.
Sigurdsson: Von Arsenal weiß ich nichts. Es war nur so, dass mir Eyjölfur Sverrisson, der ehemalige Bundesliga-Profi und mein Trainer bei der isländischen U 21, bei der Entscheidung sehr geholfen hat. Er informierte sich über Hoffenheims Ambitionen und erzählte mir, wie toll das Stadion und das Trainingslände des Klubs seien. Außerdem nahm er direkten Kontakt zu Ralf auf, um über seine Pläne zu sprechen.
SPOX: Unter Rangnick wurden Sie behutsam herangeführt und waren zum Ende der Hinrunde Stammspieler, nach dem Trainerwechsel zu Marco Pezzaiuoli standen Sie jedoch nur einmal in der Startelf, obwohl Sie mit sieben Treffern erfolgreichster Torschütze sind. Enttäuscht?
Sigurdsson: Natürlich, ich will wie jeder andere so oft wie möglich spielen. Wenn man bedenkt, dass ich in der Regel eingewechselt werde, sind sieben Tore eine sehr gute Bilanz. Andererseits verstehe ich, dass der Trainer die Verantwortung trägt und er über eine große Auswahl verfügt. Boris Vukcevic zum Beispiel ist ein klasse Fußballer, er spielt in der deutschen U 21, das alleine ist schon ein Qualitätsmerkmal. Wenn der Trainer zu Beginn eher auf einen Spielertyp wie ihn setzt und mich später als Joker bringen will, verstehe ich das und ich versuche das Beste daraus zu machen.
SPOX: Sie haben erst 19 Bundesliga-Partien bestritten, dennoch gelten Sie bereits als einer der besten Freistoßschützen. Ist ein solches Talent angeboren?
Sigurdsson: So banal es klingt: Ich habe mir die Technik antrainiert. Es geht nichts über Wiederholungen, immer und immer wieder die gleichen Übungen. Zuhause habe ich außerdem sehr genau die Freistöße von meinem Idol David Beckham analysiert und mir offensichtlich etwas abgeschaut.
SPOX: Mit Sejad Salihovic verfügt Hoffenheim über einen weiteren gefährlichen Freistoßschützen. Ein Problem für Sie?
Sigurdsson: Ganz im Gegenteil: Er ist Linksfuß, ich bin Rechtsfuß, dementsprechend sprechen wir uns je nach Spielsituation ab, welche Variante erfolgversprechender ist. So kann sich der Gegner nur sehr schwer einstellen. Davon profitieren wir beide gleichermaßen.
SPOX: Bei 1899 sind Sie noch nicht gesetzt, in Island hingegen gehören Sie zu den Sport-Stars und wurden zum Fußballer des Jahres 2010 gewählt. Werden Sie in Reykjavik häufiger erkannt als in Heidelberg?
Sigurdsson: Mittlerweile habe ich zwar einen gewissen Bekanntheitsgrad, weil uns mit der isländischen U 21 die erstmalige Qualifikation für die EM gelungen ist und auch dank der jungen Spieler bei der A-Nationalmannschaft eine neue Ära eingeläutet wurde - aber ich und Star? Nein, das passt nicht. Manchmal werde ich in Reykjavik wie auch in Heidelberg nach einem Autogramm gefragt, mehr aber auch nicht.
Das Juwel aus Island: Gylfi Sigurdsson im Steckbrief