Rotsünder, Fan-Ausschreitungen, Auf- oder Abstieg: Hans E. Lorenz ist Vorsitzender des DFB-Sportgerichts und somit Entscheider in den wichtigen Fällen des deutschen Profifußballs. Mit SPOX spricht er über die Unanfechtbarkeit von Tatsachenentscheidungen, Für und Wider der Dreifachbestrafung und die Gewaltentwicklung in deutschen Stadien.
SPOX: Herr Lorenz, haben Sie eigentlich selbst einmal Fußball gespielt und sind dabei vom Platz gestellt worden?
Hans E. Lorenz: Ich habe in der Jugend einmal eine Zeitstrafe erhalten, weil ich mich in einem Auswärtsspiel geweigert habe, den Ball aus dem Kornfeld zu holen - mit der Begründung, das müsse der gastgebende Verein machen. Da wurde ich wegen Nichtbefolgung der Schiedsrichter-Anordnung für zehn Minuten des Feldes verwiesen. Das war natürlich eine völlig falsche Schiedsrichterentscheidung (lacht).
SPOX: Können Sie diese Entscheidung heute aus juristischer Sicht nachvollziehen?
Lorenz: Ich kann sie nachvollziehen, gleichwohl an meinem Argument sicher etwas dran war.
SPOX: Hauptamtlich sind Sie Vorsitzender Richter am Mainzer Landgericht. Sie leiteten unter anderem zwei der drei Hauptverfahren der Wormser Prozesse in den 90er Jahren. Wie schwer fällt Ihnen dieser Kontrast zwischen skrupelloser Kriminalität in der Gesellschaft und vergleichsweise lapidaren Sportvergehen im Profifußball?
Lorenz: Das fällt mir überhaupt nicht schwer. Es sind zwei unterschiedliche Gebiete. In beiden geht es darum, Sachverhalte zu erfassen, zu bewerten und in einem Urteil darzustellen. Die Verfahren einer großen Strafkammer sind in aller Regel deutlich aufwendiger als die der Sportgerichtsbarkeit. Ich habe in meinem Beruf mit Leuten zu tun, die sich auf irgendeinem Gebiet kriminell verhalten haben. Im Sport dagegen habe ich nicht mit Kriminellen zu tun, sondern mit Menschen, die in einer bestimmten Situation einmal eine Spielregel verletzt haben.
SPOX: Bedeutet die ehrenamtliche Arbeit beim DFB für Sie aber nicht auch zusätzlichen Stress in Ihrer eigentlichen Freizeit?
Lorenz: Es ist zunächst einmal ein Ausgleich. Meine Arbeit als Sportrichter ist eine gute Zusammenführung meiner Interessengebiete. Sie macht gelegentlich Spaß, jedoch gibt es natürlich auch oft sehr unangenehme Situationen, schließlich sind wir meistens die Überbringer negativer Botschaften. Wenn wir ein Urteil sprechen, klatscht keiner - egal, ob es mild oder hart ist.
SPOX: Wie 2013 beim Phantomtor von Stefan Kießling. Sie erkannten das Tor an und verweigerten so ein Wiederholungsspiel. Warum?
Lorenz: Weil die Tatsachenentscheidung des Schiedsrichters gilt, auch wenn sie falsch ist. Generell sage ich immer: Die Richter des Fußballs sind die Schiedsrichter und nicht wir. Sie treffen die Grundentscheidung, wir reagieren darauf und sind sozusagen die Richter der zweiten Reihe.
Stefan Kießling im SPOX-Interview: "Ich habe es einfach nicht gesehen"
SPOX: Sind diese Tatsachenentscheidungen beim DFB grundsätzlich nicht annullierbar?
Lorenz: Würde die Sportgerichtsbarkeit, im Bemühen um objektive Gerechtigkeit, jede Schiedsrichterentscheidung annullieren, korrigieren oder verbessern, ginge das an unserer Aufgabe vorbei. Wir sind kein Reparaturbetrieb für falsche Schiedsrichterentscheidungen. In jedem Spiel trifft ein Schiedsrichter Fehlentscheidungen - wenn er gut war, zwei bis drei unmaßgebliche, wenn er einen schlechten Tag hat, vier bis fünf maßgebliche. Wir alle müssen damit leben, dass der Schiedsrichter auch einmal eine falsche Tatsachenentscheidung trifft, bis auf wenige Ausnahmen.
SPOX: Welche sind das?
Lorenz: Wir machen dann eine Ausnahme, wenn der Schiedsrichter einem offensichtlichen Irrtum unterlegen ist, der für jedermann sofort erkennbar war. Beispiel: Die Nummer Sechs begeht im Strafraum ein Foulspiel. Im Tumult stellt der Schiedsrichter aber fälschlicherweise die Nummer Acht vom Platz, die gar nicht beteiligt war. Bei einem so groben Unrecht wird auch einmal eine Rote Karte annulliert und keine Sperre verhängt.
SPOX: Im Fall Kießling war es doch aber auch offensichtlich, dass der Ball von außen ins Netz fiel.
Lorenz: Nein, das war es nicht. Alle Beteiligten in diesem Spiel waren zunächst völlig unsicher, ob der Ball drin war oder nicht - Stefan Kießling, die Hoffenheimer Spieler und auch der Schiedsrichter Felix Brych. Einer der Assistenten sagte sogar aus, dass der Ball für ihn ganz klar drin war und er das auch dem Schiedsrichter kommuniziert habe. Der andere Linienrichter hatte es nicht genau gesehen. Es brauchte später die Zeitlupe im Fernsehen, um zu erkennen, dass es tatsächlich kein Tor war. Also lag nicht der Fall des offensichtlichen Irrtums vor. Den hätte es gegeben, wenn Kießling den Ball an die Eckfahne geschossen und Brych dann ein Tor gegeben hätte.
SPOX: Freuen Sie sich, in Anbetracht dieser Problematik, auf den Einsatz der Torlinientechnik?
Lorenz: Die haben wir in diesem Zusammenhang auch gefordert. Mit der Torlinientechnik hätte es den Fall damals mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht gegeben. Man stelle sich nur einmal vor, ein solches Tor würde die Meisterschaft oder den Einzug in den internationalen Wettbewerb entscheiden. Da hängen Millionen von Euro dran. Aus diesem Grund halte ich die Torlinientechnik für absolut zeitgemäß und notwendig.
SPOX: Ebenfalls ein aktuelles Thema ist die Dreifachbestrafung. Wie stehen Sie als Richter dazu? Ein überarbeiteter Passus würde Ihnen doch sicherlich einige Diskussionen ersparen.
Lorenz: Ich bin mit der sogenannten Dreifachbestrafung nicht verheiratet. Wenn irgendjemand sagen würde, dass es für Notbremsen keine Roten Karten mehr gäbe, könnten wir sehr gut damit leben, schließlich würde es weniger Arbeit bedeuten. Andererseits muss man sehen, weshalb sie in den 80ern überhaupt eingeführt wurde: In dieser Zeit wurde jeder Stürmer, der sich dem Strafraum näherte, gnadenlos umgetreten. Um das Spiel wieder fairer zu gestalten und dem Stürmer mehr Chancen zu ermöglichen, hat die Vereitelung einer klaren Chance seitdem den Platzverweis zur Folge. Man erreichte dadurch eine Reduzierung der groben Fouls.
SPOX: Befürchten Sie bei einer Abkehr von der Dreifachbestrafung also eine Rückkehr zum überharten Fußball?
Lorenz: Es würde kein Jahr dauern, bis die alten Verhaltensweisen der Abwehrspieler wieder praktiziert würden. Insofern halte ich die sogenannte Dreifachbestrafung, die in meinen Augen keine solche ist, nicht für grob unfair.
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SPOX: Sie erklärten im Fall Jerome Boateng zuletzt, dass dieser nach dem Schalke-Spiel für zwei Partien gesperrt wurde, da der Elfmeter nach seiner Notbremse nicht zum Tor führte. Hätte Eric Maxim Choupo-Moting aber getroffen, wäre Boateng nur für ein Spiel gesperrt worden. Warum wird hier mit zweierlei Maß gemessen?
Lorenz: Die Rote Karte wird wegen des Eingriffs in den Wettbewerb gegeben. Wenn der Elfmeter verwandelt wird, ist dieser Eingriff kompensiert. Dann ist das passiert, was passiert wäre, wenn Boateng den Stürmer nicht festgehalten hätte.
SPOX: Es ist doch nicht definitiv gesagt, dass der Stürmer die Torchance vorher auch wirklich verwertet hätte?
Lorenz: Das nicht, aber der Eingriff in den Wettbewerb bleibt aufrechterhalten, wenn der Elfmeter nicht verwandelt wird. Demnach erhält der Spieler zwei Spiele Sperre. Geht der Ball rein, findet eine Kompensation statt, die den Wettbewerbsnachteil beseitigt. Dann greift die FIFA-Vorgabe, dass ein Spieler, der eine Rote Karte sieht, mindestens für ein Spiel gesperrt werden muss. Diese Regel können wir nicht aushebeln.
SPOX: Haben Sie manchmal das Gefühl, dass Paragraphen über den gesunden Menschenverstand gewinnen?
Lorenz: Der Richter ist grundsätzlich an Paragraphen gebunden und nicht vogelfrei. Er ist zwar einem Gewissen unterworfen, aber immer im Rahmen der geltenden Gesetze.
SPOX: Als endgültiger Entscheider urteilen Sie im schlimmsten Fall über Abstieg oder Klassenerhalt, wie 2012 bei den Ausschreitungen im Relegationsspiel zwischen Düsseldorf und Hertha BSC. Welche Auswirkungen hat das Bewusstsein von weitreichenden Konsequenzen auf die Urteilsfindung?
Lorenz: Es ist uns klar, dass dies sehr schwierige Urteile sind, mit all ihren Folgen und Konsequenzen. Sie haben existenzielle Bedeutung für die betroffenen Vereine, jedoch muss man sich davon frei machen. Wir beurteilen einen Sachverhalt, den es zuerst einmal festzustellen gilt. Dabei hat es keine Rolle zu spielen, ob es ein Relegationsspiel war, in dem es um Auf- und Abstieg ging, oder ein relativ belangloses Meisterschaftsspiel, in dem es nur darum geht, ob ein Verein Neunter oder Zehnter wird.
SPOX: Verständnis wurde Ihnen vonseiten der Hertha damals nur bedingt entgegengebracht.
Lorenz: Jeder Verein hat seinen Anhang. Natürlich treffen wir mit unseren Entscheidungen nicht nur den Verein und seine Funktionsträger, sondern auch die Anhängerschaft. Dazu zählen auch die Journalisten, die den Verein die ganze Saison über begleiten. Wir haben natürlich Verständnis, dass sie mitunter eine subjektive Sicht der Dinge haben. Aber das ist das Schicksal eines Richters, und wer damit nicht leben kann, muss sich einen anderen Job suchen.
SPOX: Kommentator Marcel Reif klagte zuletzt gegen den Fan-Hass, der ihm persönlich entgegengebracht wurde. Haben Sie schon einmal ähnliche Szenen erlebt oder aufgrund einer Entscheidung gar Drohungen erhalten?
Lorenz: Ich persönlich habe aufgrund von Entscheidungen noch keine Drohungen erhalten, dafür aber natürlich viele Beschwerden durch E-Mails oder Briefe. Früher, als ich selbst noch als Journalist tätig war, habe ich durchaus das Gewaltpotenzial von Fangruppen erlebt. Da war man oftmals froh, wenn man unbeschadet an diesen vorbeikam und das Auto keine Beulen davontrug.
SPOX: Wie beurteilen Sie da generell die Entwicklung von Gewalt in deutschen Fußballstadien? Sie sagten einmal, Tote seien nur eine Frage der Zeit.
Lorenz: Das habe ich in einer Hochphase vor einigen Jahren gesagt. In der Zwischenzeit hat sich eine Menge getan. Das würde ich heute nicht mehr so sagen. Alleine schon, weil die Rahmenbedingungen in den Stadien und um die Stadien herum besser geworden sind. Die Vereine sind organisierter und betreiben sehr viel intensive Fanbetreuung. Außerdem gibt es stark verbesserte Überwachungsanlagen.
SPOX: Wobei es dennoch immer wieder zu Ausschreitungen kommt. Jüngstes Beispiel war der 1. FC Köln.
Lorenz: Für Köln war nach den gravierenden Vorkommnissen beim Pokalspiel in Düsseldorf und der Partie in Mönchengladbach eigentlich ein Geisterspiel fällig. Im Endeffekt haben sie aber nur drei reduzierte Teilausschlüsse und eine Geldstrafe erhalten, weil sie den problematischen Fanclub rausgeschmissen haben. Der Verein hat eine Selbstreinigungsmaßnahme durchgeführt. Dadurch muss die Sportgerichtsbarkeit nicht mehr so massiv gegen den Verein vorgehen.
SPOX: Aktuell dreht sich im deutschen Profifußball aber alles um das sogenannte Teilzeitbefristungsgesetz. Ist das vorläufige Urteil im Fall Müller, der sich erfolgreich einen unbefristeten Vertrag eingeklagt hat, nachvollziehbar?
Lorenz: Es ist ein Urteil, gegen das Rechtsmittel eingelegt worden ist. Ganz allgemein kann man sagen: Dieses Urteil ist mit den Realitäten im Profifußball nur schwer vereinbar, aber es kann aufzeigen, dass der Gesetzgeber bei der Abfassung von Gesetzen möglicherweise nicht alle denkbaren Fälle im Auge hatte. So ein Urteil könnte dazu führen, dass das Gesetz an der einen oder anderen Stelle modifiziert wird.
SPOX: Bei allem Ernst und der Objektivität Ihres Jobs sind Sie für Ihren Humor bekannt. Hat Ihnen Stefan Kießling Ihre Anmerkung zur Einladung des DFB damals aber übel genommen?
Lorenz: Jeder hat seinen Stil, und so habe ich meinen. Ab und zu streue ich sicher einmal eine Bemerkung ein, die dazu dient, die Atmosphäre ein wenig aufzulockern. Es gibt keine Gerichtsverhandlung, bei der es nicht für alle Beteiligten gut ist, dass sie zwischendurch auch einmal lachen können - auch, wenn es um ganz schwierige und ernsthafte Dinge geht.
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