"Wegen mir die Zeitlupe erfunden"

Benjamin Wahlen
15. September 201518:02
Kastenmaier (2 v.l.) 1990 auf der Wiesn mit den Bayern Brian Laudrup, Augenthaler und Aumannimago
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Er war Teil der legendären Gladbacher Pokalsieger von 1995 und einer der torgefährlichsten Außenverteidiger der Bundesliga-Geschichte. Thomas Kastenmaier über den Anschiss seines Lebens, Disko-Abende nach Auswärtssiegen und Superstars, die den Fohlen durch die Lappen gingen.

SPOX: Herr Kastenmaier, Sie wurden '90 Meister mit Bayern und '95 Pokalsieger mit Gladbach. Auf welche Momente Ihrer Karriere blicken Sie besonders gerne zurück?

Thomas Kastenmaier: Da gibt es viele. Ich muss allerdings sagen, dass es für mich eine große Ehre war, unter Jupp Heynckes spielen zu können, der mit Abstand beste Trainer meiner Karriere. Er wusste, wie er mit den Leuten umgehen muss, auch wenn das bei mir nicht immer ganz leicht war.

SPOX: Wie darf man das verstehen?

Kastenmaier: Ich war kein Spieler, der nah am Trainer gebaut war, sondern ein richtiger Münchner Stadtbursche. Je mehr man mich angeschrieen hat, desto mehr ist es auf der anderen Seite wieder herausgekommen. Jupp habe ich immer zugehört, auch wenn er mich angeschissen hat, was oft der Fall war. Ich erinnere mich an eine entscheidende Situation meiner Karriere. Ich spielte damals für die Bayern, bei denen es mir nicht leicht fiel, mich in die erste Elf zu kämpfen. In einem Testspiel habe ich dann in der ersten Hälfte zwei Tore geschossen und einen Elfmeter herausgeholt. Stolz wie Oscar saß ich in der Kabine, als Heynckes zusammen mit Uli Hoeneß reinkam, beide hatten einen feuerroten Kopf. Statt mich zu loben, hat Jupp mich so dermaßen zusammengefaltet, dass Klaus Augenthaler rechts und Hans Pflügler links mich zurückhalten mussten, damit ich nicht aus der Haut fahre.

SPOX: Bewahrten Sie die Beherrschung?

Kastenmaier: Ich habe tatsächlich nichts gesagt und Jupp nur angeschaut. Auge hat dann anschließend zu mir gesagt: 'Sei froh, dass er dich anschreit. Solange hat er noch Interesse, dich zu verbessern. Wenn er dich irgendwann mal nicht mehr anschreit, kannst du den Verein wechseln.' Den Satz habe ich mir mein ganzes Leben lang gemerkt.

SPOX: Heute betreiben Sie eine mobile Fußballschule für Kinder. Was kann man sich darunter vorstellen und was erwartet die Kids?

Kastenmaier: Ich reise zu den Vereinen, die meine Schule buchen. Das Training findet dann auf dem Vereinsgelände statt. Dort verbringen wir dann meist mehrere Tage zusammen, an denen wir an unterschiedlichsten Dingen arbeiten. Am Ende steht die Leistung aber nicht im Vordergrund.

SPOX: Sondern?

Kastenmaier: Auf jeden Fall der Spaß. Mir ist wichtig, dass die Kinder rauskommen und fit sind. Wir sind zu 99 Prozent bei ganz kleinen Vereinen, die die Schule als Highlight für die Kids buchen. Es ist einfach eine tolle Zeit. Wir trainieren zusammen, anschließend wird gemeinsam gegrillt oder gegessen, manchmal bleiben wir auch über Nacht. Wenn ich dann nach drei oder vier Tagen die Medaillen, Bälle und Trikots verteile und die Kinder lachen und sagen, es hat ihnen Spaß gemacht... Das ist das Entscheidende für mich. Und für die Eltern ist es auch besser, als den vierten oder fünften Gameboy zu kaufen.

SPOX: Ihr Trainerteam besteht aus ihren ehemaligen Mannschaftskollegen in Gladbach. Wie entstand die Idee dazu?

Kastenmaier: Das gehörte von Anfang an zum Konzept der Schule. Ich fand es immer schade, dass es bei Gladbach nicht üblich ist, die ehemaligen Profis im Verein weiter einzubinden. In meiner Schule ist das anders.

SPOX: Was glauben Sie, woran das liegt?

Kastenmaier: Das weiß ich nicht genau. Natürlich ist nicht jeder Ex-Profi dafür geeignet, nach seiner Karriere einen Job im Klub auszuführen. Aber dem Geist des Vereins würde es sicher gut tun, noch ein paar von den Jungs dabei zu haben. Ich warte ja auch immer noch darauf, dass die Borussia sich bei mir meldet. Ich hätte nichts dagegen. (lacht)

SPOX: Kennen die jungen Talente, die Sie trainieren, Sie eigentlich noch? Die Idole der Kids sind heute eher Messi, Ronaldo und Co.

Kastenmaier: Das stimmt schon, oft sind wir bei den Vätern bekannter. Aber ich sage dann immer zu den Kids, dass sie mal ihr Smartphone rausholen und meinen Namen bei Youtube eingeben sollen. Dann sehen sie mein Tor des Jahres und sind immer ganz baff. Wegen mir haben sie die Zeitlupe erfunden, ergänze ich meistens scherzhaft. (lacht)

SPOX: Haben Sie auch regelmäßig Kontakt zu den ehemaligen Mannschaftskollegen, die nicht für Sie als Trainer tätig sind?

Kastenmaier: Natürlich. Karlheinz Pflipsen, Peter Wynhoff und Stefan Passlack haben zum Beispiel eine Spieleragentur und sind gleichzeitig Geschäftsführer der Weisweiler Elf. Von Mai bis September haben wir da eigentlich jedes Wochenende einen Termin. Da sind dann zum Beispiel auch Bachirou Salou, Chiquinho, Ali Albertz und viele andere dabei.

SPOX: Die Weisweiler Elf gilt als die beste Traditions-Mannschaft Deutschlands und zieht immer viele Zuschauer in die Hallen. Wie läuft das ab, wenn Sie zu einem Turnier fahren? Werden Sie richtig gebucht?

Kastenmaier: Ganz genau. Wir bekommen Anfragen, dann sprechen unsere Geschäftsführer mit den Veranstaltern und es werden Verträge aufgesetzt. Da steht dann zum Beispiel drin, dass wir mit den Stars und nicht mit irgendeiner No-Name-Truppe kommen. Und dass wir vor Ort nicht auf Teams mit lauter 20-Jährigen treffen. Mittlerweile sind acht Pokalsieger in der Weisweiler Elf und für jeden ist es eine Ehre mitzufahren.

SPOX: Und anschließend gibt es das eine oder andere Bierchen?

Kastenmaier: Nach den Turnieren gemeinsam zu essen, über alte Geschichten zu reden und auch ein, zwei Bierchen zu trinken, gehört dazu. Die Vereine buchen uns ja nicht nur, damit wir gegen sie spielen.

SPOX: Im Tor der Weisweiler Elf steht meist Claus Reitmaier. Erinnern sich noch daran, dass er mal mit dem VfL Wolfsburg im Borussia-Park gespielt hat und unter seinem eigentlichen Trikot eines der Borussia trug?

Kastenmaier: Über diese Geschichte haben wir erst vor kurzem gesprochen. Claus war nicht nur ein bisschen Fan, Gladbach war immer sein Verein Nummer eins. Er wollte damals auch unbedingt vom Karlsruher SC zur Borussia wechseln, durfte aber nicht und musste nach Wolfsburg. Der Transfer ist an 100.000 Euro gescheitert. Für Claus war das damals ein halber Weltuntergang. Aktuell überlegt er, nach Gladbach zu ziehen, was mich sehr freuen würde. Er ist ein guter Freund von mir und wir haben eine gemeinsame Geschichte.

SPOX: Die da wäre?

Kastenmaier: Er ist einfach ein ganz feiner Kerl, mit dem ich mich immer super verstanden habe. Auch wenn er ganz schön viele Tore von mir gefangen hat. In Karlsruhe hat er mal drei Stück kassiert, zwei Freistöße und einen Elfmeter. Oder '92, als er bei den Stuttgarter Kickers war. Wir lagen zur Halbzeit 0:1 zurück, dann haben Hans-Jörg Criens und ich noch getroffen und die Kickers mussten in die zweite Liga. SPOX

SPOX: Sie haben die Rolle des Außenverteidigers immer sehr offensiv interpretiert. Wie haben sich die Aufgaben dieser Position inzwischen verändert?

Kastenmaier: Eigentlich gar nicht so viel. Die Jungs müssen heute auch nicht mehr laufen, Platz ist ebenfalls genug da. Oft fehlt es aber am Mut, sich mit in die Offensive einzuschalten, obwohl dies dringend nötig ist. Das Zentrum ist fast immer dicht, da bleibt nur der Weg über die Außen. Lange Bälle will kein Trainer mehr sehen, deshalb muss man als Außenverteidiger immer anspielbereit sein.

SPOX: Was halten Sie von den derzeitigen Außenverteidigern der Borussia?

Kastenmaier: Tony Jantschke und Julian Korb machen ihre Sache gut, vor allem in der Defensive. Im Spiel nach vorne müssten beide aber eine gesündere Mischung finden. Da kommt mir etwas zu wenig. Das ist aber alles eine Qualitätsfrage. Welche Möglichkeiten hast du? Kann man auch mal nach innen ziehen und mit dem schwächeren Fuß ein Tor schießen? Das fehlt den meisten, deshalb bin ich mir ziemlich sicher, dass es so schnell keinen Spieler mehr geben wird, der in 190 Spielen 40 Tore macht.

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SPOX: Viele Ihrer Treffer fielen per Standard, wofür Sie in der Liga gefürchtet waren. Denken Sie, mit den heutigen Bällen wäre da noch mehr drin gewesen?

Kastenmaier: Wenn ich heute mit den neumodischen Bällen spiele, gelingen mir manchmal Schüsse, die mich selber überraschen. Die Bälle flattern viel mehr. Das kann ein Vorteil für die Angreifer sein, aber auch ein Nachteil. Es ist unheimlich schwer geworden, Flanken mit viel Druck zu berechnen. Ich habe schon gestandene Spieler von früher gesehen, die das Ding dann einfach wegknüppeln.

SPOX: In Gladbach erzählt man sich noch immer eine Geschichte, nach der Sie mal vom Bökelberg aus die Fensterscheibe eines der umliegenden Häuser kaputt geschossen haben.

Kastenmaier: Ganz so war es zwar nicht, aber ich bin der einzige, der es mal fertig gebracht hat, den Ball im Spiel aus dem Stadion zu schießen. (lacht)

SPOX: Sie galten auch als "harter Hund". Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie heute hören, dass Spieler aufgrund einer Erkältung fehlen?

Kastenmaier: Die Krankheit gab es damals noch gar nicht. Wegen eines eingewachsenen Zehennagels hat da keiner blau gemacht. Aber das waren andere Zeiten. Heute musst du keine 30 Spiele plus X machen, damit du auf dein Geld kommst. Damals haben wir uns fitspritzen lassen, auch wenn wir gar nicht genau wussten, was wir da bekommen. Das würde ich heute nicht mehr machen.

SPOX: Waurm nicht?

Kastenmaier: Weil es dir im Nachhinein keiner dankt. Ich habe nur ans Spielen gedacht, spielen, spielen, spielen - und wenn es mal eng wurde, hat man sich durchgebissen. Heute stehe ich deswegen mit meinem kaputten Knie da.

SPOX: Während es heute nach dem Spiel also Kühl-Akkus gibt, ging es in Ihrer aktiven Zeit nach einem Sieg vermutlich eher in die Disko...

Kastenmaier: Ja, das gab es natürlich auch. Da hatte noch nicht jeder ein Handy und man musste keine Angst haben, überall fotografiert zu werden. Wir konnten uns viel freier bewegen. Es gab mal eine Zeit, in der Saison '95, da reden unsere Frauen heute noch drüber. Wir hatten eine Serie von fünf oder sechs Auswärtssiegen in Folge, von denen wir immer sehr gut gelaunt nach Hause gekommen sind. (lacht)

SPOX: Das klingt nach wilden Abenden.

Kastenmaier: Da konnte es schon mal hoch hergehen. Wir waren da schon eine andere Truppe. Wir haben es auch mal krachen lassen. Gleichzeitig gab es aber auch Kollegen, die zwar nichts getrunken haben, aber trotzdem immer mitgegangen sind.

SPOX: Probleme mit dem Trainer gab das nicht?

Kastenmaier: Nein, Bernd Krauss hat meist ein Auge zugedrückt, weil er wusste, dass wir am nächsten Morgen immer alle fit waren und im Training voll durchgezogen haben.

SPOX: Heiko Herrlich verließ den Verein dann jedoch etwas unrühmlich. Wie haben Sie die Umstände erlebt?

Kastenmaier: Das war nach unserem Pokalsieg '95. Heiko bestand darauf, dass Rolf Rüssmann ihm versprochen hatte, gehen zu dürfen, wenn sich bestimmte Vereine melden würden. Wir Spieler haben uns dann eingeklinkt, konnten seinen Abgang aber auch nicht verhindern.

SPOX: Wie war die Stimmung im Team?

Kastenmaier: Schlecht - und sie wurde immer schlechter. Wir dachten, wir spielen im nächsten Jahr um den Titel, wenn wir zusammenbleiben. Aber dann ging erst Heiko und zwei Monate später sind auch Max und Salou gewechselt. Als Ersatz wurden Andrzej Juskowiak und Michael Sternkopf verpflichtet, die nicht die gleiche Qualität hatten. Unser Kader war besser besetzt als der der Bayern und dann ging plötzlich alles, was wir uns in sechs Monaten aufgebaut hatten, den Bach runter.

SPOX: Mit der Borussia ging es fortan Stück für Stück bergab. Wie haben Sie die Zeiten mitverfolgt, als Altstars wie Marek Heinz oder Wesley Sonck für viel Geld geholt wurden?

Kastenmaier: Da fing das Chaos an. Dick Advocaat kam aus Glasgow und hat dann nur noch irgendwelche Spieler aus dem Ostblock geholt, die überhaupt keiner kannte. Wenn du nicht mehr weißt, wer da im Gladbach-Trikot auf dem Platz steht, hast du einiges verkehrt gemacht. Gott sei Dank kam dann Hans Meyer.

SPOX: Aber Meyer holte ebenfalls viele Spieler...

Kastenmaier: Richtig, aber der hatte wenigstens einen Plan und die Spieler haben kein Geld gekostet. Mit Hans hatte man immer eine riesen Gaudi, ich habe ihn im Trainingslager miterleben dürfen, als ich ein Praktikum bei der Borussia gemacht habe. Wie er die Mannschaft geführt hat, das war schon einmalig. Auch wenn es nicht immer leicht mit ihm war. (lacht)

SPOX: Worauf spielen Sie an?

Kastenmaier: Als ich für die Borussia als Scout tätig war, hat er mich mal in die Kabine gerufen, um mir zu erklären, was mein nächster Auftrag ist. Er ist aber ständig von a zu b gesprungen, dass ich am Ende aus der Kabine gegangen bin und die Co-Trainer Michael Frontzeck und Manfred Stefes gefragt habe, wo ich denn jetzt überhaupt hin soll und wen ich da beobachten soll. Man war nie sicher, ob Hans das jetzt gerade ironisch gemeint hat oder nicht.

SPOX: Wie war Ihre Zeit als Scout?

Kastenmaier: Da habe ich schon ein paar abenteuerliche Touren erlebt. Ich kann mich noch an eine Tour in den Niederlanden erinnern, wo ich ich einen Torwart von Willem II Tilburg beobachten sollte. Da war nur ein ganz kleines Stadion, immer ausverkauft und es war schon ein Heidenaufwand, überhaupt da rein zu kommen. Dazu musste man vorher Mark gegen Gulden tauschen.

SPOX: War der Torwart wenigstens gut?

Kastenmaier: Im Gegenteil, das Team hat 1:4 verloren und der Keeper war an drei Gegentreffern schuld. Dafür war mir aber ein Innenverteidiger aufgefallen - Sami Hyypiä. Nach meiner Rückkehr habe ich von ihm berichtet, da haben mich alle ausgelacht und gesagt, dass ich nicht alle Tassen im Schrank hätte. Als er in der folgenden Saison für acht Millionen Euro zu Liverpool gewechselt ist, hat keiner mehr gelacht. SPOX

SPOX: Blieb das wenigstens ein Einzelfall?

Kastenmaier: Tatsächlich gab es noch einen zweiten, da war ich allerdings Trainer der U17 mit Jungs wie Marcell Jansen und Eugen Polanski. Gegner von uns war der SVV Ulm, von dem ich schon Andreas Spann an den Niederrhein geholt hatte. Aber da war auch ein großer, schneller Stürmer, der sich sehr gut bewegt hat. Auf dem Spielbogen habe ich dann gelesen, dass er Mario Gomez heißt. Als ich dann wieder in Gladbach war, bin ich zu Uli Sude, dem Trainer der U19, gegangen und habe von Gomez erzählt. Sude war dann drei Wochen später da, hat ihn sich angeschaut und gesagt: 'Den Gomez brauchen wir nicht, von dem Typ haben wir in Gladbach selber schon genug.' Darüber lachen wir heute noch.

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