Die Europameisterschaft in Polen und der Ukraine ist in diesem Sommer das große Highlight des Fußball-Jahres. SPOX befasst sich im Vorfeld der Endrunde intensiv mit den Teilnehmern und liefert zu den Top-Nationen eine umfassende Analyse. In Teil zwei der Serie steht die Niederlande im Fokus. Bondscoach Bert van Marwijk vertraut auf eine Achse, zwei "falsche" Stürmer und ein Defensivkonzept, das keine Fehler verzeiht. Auf einen bestimmten Spieler kann die Elftal nicht verzichten.
Die Grundsätze
Keine andere Nation hat ein spezielles Spielsystem derart geprägt wie die Niederlande. Das 4-3-3 schien quasi im Grundgesetz verankert und wurde von allen Top-Teams des Landes und insbesondere von der eigenen Nationalmannschaft teilweise nahe der Perfektion praktiziert.
Unter Bondscoach Bert van Marwijk ist die Elftal von dieser Ausrichtung nun ein Stück abgerückt. Der ehemalige Dortmund-Coach hat das niederländische System modifiziert und es den Veränderungen im Weltfußball angepasst. Aus dem 4-3-3 ist auf der Taktiktafel nun eher ein 4-2-3-1 geworden. Schon bei der WM 2010 schaffte man es damit bis ins Endspiel.
Die aktuelle Mannschaft hat dieses System nun weiter verfeinert, viele Abläufe sind inzwischen automatisiert - auch, weil die zentralen Positionen innerhalb der Mannschaft fest besetzt sind. Zur EM bildet im Normalfall das Duo Joris Mathijsen/Johnny Heitinga die Innenverteidigung. Im defensiven Mittelfeld ist Mark van Bommel gesetzt, davor Wesley Sneijder. Auch an Arjen Robben (anders als bei den Bayern spielt er auf links) und Robin van Persie führt - sofern beide fit sind - kein Weg vorbei.
Um diese Schlüsselspieler hat van Marwijk seine Mannschaft zusammengebaut, die sich an gewissen Vorgaben und Mechanismen zu orientieren hat. So legt van Marwijk großen Wert darauf, dass der Ball in der Spieleröffnung aus der Abwehr immer von einer zur einfachsten nächstmöglichen Station gepasst wird.
Auf schnellen Raumgewinn oder einen Überraschungsmoment verzichten die Niederländer - zumindest, wenn ein Abwehr- oder defensiver Mittelfeldspieler den Ball hat. Stattdessen gilt: Ruhe am und Sicherheit für den Ball und schauen, wo sich ein einfacher Passweg ergibt.
So kommt der niederländische Spielaufbau durchaus etwas schwerfällig und behäbig rüber. Die Innenverteidiger sind in erster Linie eine Art Ballübergeber an einen der Sechser, der sich tief fallen lässt und den Ball hinten abholt.
Die Rollen innerhalb der Doppelsechs sind dabei recht klar verteilt. Van Bommel gibt den Anker, der aus der Zentrale dirigiert und organisiert, ohne dabei bevorzugte Anspielstation zu sein.
Viel häufiger wandert der Ball aus der Abwehr an den zweiten Sechser (Nigel de Jong, Kevin Strootman, bisweilen auch Rafael van der Vaart), der dann gerne auch mal ein paar Meter mit dem Ball am Fuß anläuft.
Ein Offensivsechser, der sich regelmäßig nach vorne mit einschaltet und auch den Weg in die Tiefe sucht, ist aber weder de Jong, Strootman noch van Bommel. Dieses Trio hat seinen Offensivauftrag in der Regel dann erfüllt, wenn der Ball bei Wesley Sneijder oder auf dem Flügel angekommen ist.
Teil 3: Die "falschen" Stürmer
Teil 4: Die Mehr-Ebenen-Verteidigung
Der Schlüsselspieler
Vor allem in der Offensive besitzen die Niederlande ein riesiges Reservoir an talentierten und hochklassigen Akteuren. Die Folge: Selbst wenn Weltklasse-Spieler wie Arjen Robben oder Robin van Persie fehlen, kann die aktuelle Elftal ihren Stil scheinbar unverändert durchziehen.
Ist allerdings Wesley Sneijder nicht dabei, sind Qualität und Art des niederländischen Spiels eine andere als wenn der Inter-Star mit auf dem Platz steht. Daran kann auch Rafael van der Vaart, erste Alternative zu Sneijder, nichts ändern. Kein anderer Akteur prägt das Auftreten der Elf von van Marwijk so wie Sneijder, vor allem natürlich in der Offensive.
Im Spiel ohne Ball hingegen ist die Aufgabenstellung an den 27-Jährigen denkbar einfach. Bei gegnerischem Spielaufbau tief in der eigenen Hälfte rückt Sneijder von der Zehnerposition zunächst meist auf eine Höhe mit dem eigenen Mittelstürmer. Dort ist er angehalten, Passwege ins Zentrum zuzustellen, leichten Druck gegen den Ball auszuüben und sich zurück ins Mittelfeld fallen zu lassen, sobald der Gegner tiefer in die niederländische Hälfte kommt. Alles allerdings, ohne dabei zu viel Kraft aufzuwenden.
Auf aggressives Anlaufen des Gegners oder das Führen von echten Defensivzweikämpfen verzichtet Sneijder dagegen. Dafür sind im niederländischen Team andere zuständig. Sein Spiel beginnt, wenn die Niederlande in Ballbesitz ist. Und dann ist Sneijder plötzlich mittendrin. Denn: ein normaler niederländischer Spielzug ohne Beteiligung Sneijders findet nur selten statt.
In der Praxis sieht das dann so aus: Mit kurzen, einfachen Pässen wandert der Ball aus der Abwehr zu einem Sechser. Sneijder pendelt derweil durchs Mittelfeld, mal halblinks oder - rechts, mal zentral, immer den Ball im Blick und auf der Suche nach Raum und Moment, in dem er angespielt werden kann.
Häufig lässt er sich dabei tief in die eigene Hälfte fallen und nimmt dem Sechser den Ball gelegentlich auch direkt vom Fuß, auch wenn das niederländische Spiel dadurch an Tempo und Bewegung verliert.
Wird Sneijder per Pass von einem Mitspieler gesucht, fallen zwei Dinge auf: Zum einen versucht er den Ball in einer offenen Körperstellung - im Idealfall sogar mit dem ballferneren Fuß - anzunehmen, um dadurch die Möglichkeit zu haben, schon mit dem ersten Kontakt einen offensiven Impuls zu setzen. Ist die offene Körperstellung bei der Annahme nicht möglich, versucht Sneijder mit dem Ball schnellstmöglich aufzudrehen, um so das Spielfeld vor sich zu haben.
Zum anderen orientiert sich Sneijder schon vor einem Anspiel so, dass ihm nach seinem Ballkontakt Räume zur Verfügung stehen, in denen er direkt wieder am Spielgeschehen teilnehmen kann. Heißt einfach ausgedrückt: Sneijder bekommt den Ball, passt ihn weiter, ist einige Meter weiter sofort wieder als neue Anspielstation verfügbar und arbeitet sich so in einen Bereich vor, in dem jede weitere Aktion Torgefahr erzeugen kann.
Kein anderer Spieler in der niederländischen Nationalmannschaft ist derart prägend für das Offensivspiel, weil kein anderer gestalterischen Fähigkeiten mit Torgefahr vereint. Alle Fäden führen bei Sneijder zusammen - für die Gegner der Elftal bedeutet das allerdings auch: Wer es schafft, Sneijder aus dem Spiel zu nehmen, beschneidet das niederländische Offensivspiel in erheblichem Maße.
Teil 3: Die "falschen" Stürmer
Teil 4: Die Mehr-Ebenen-Verteidigung
Die "falschen" Stürmer
Eines ist klar: In Sachen Mittelstürmer hat Bert van Marwijk das Beste zur Verfügung, was der europäische Fußball derzeit zu bieten hat. Klaas-Jan Huntelaar war Europas Top-Torjäger in der EM-Qualifikation und hat in seinen 41 Bundesliga- und EL-Partien in dieser Saison 38 Treffer erzielt. Robin van Persie steht dem Schalker in nichts nach und führt aktuell die Torjägerliste der Premier League an - mit bereits 27 Toren. Getty
Wer solches Personal zur Verfügung hat, der kann es sich auch leisten, einem Ruud van Nistelrooy frühzeitig für die EM abzusagen. Der Torjäger des FC Malaga wird bei der Endrunde im Sommer nicht dabei sein, teilte ihm van Marwijk vor kurzem mit.
Auf wen er allerdings in seiner Startelf im Sturmzentrum setzen wird, daraus macht van Marwijk noch ein Geheimnis. Vor allem zwei Varianten sind derzeit denkbar. Option eins: Huntelaar beginnt vorne drin, van Persie rückt auf die rechte Offensivseite und bildet dort eine Dreierreihe mit Sneijder (zentral) und Robben (links).
Option zwei: Huntelaar bleibt zunächst auf der Bank, van Persie gibt den Stoßstürmer und Dirk Kuyt übernimmt den Part als rechter Flügelstürmer. In den Niederlanden gibt es nicht wenige, die diese Variante bevorzugen. Im letzten Test in England ließ van Marwijk seine Offensivabteilung in dieser Zusammensetzung starten und sah eine starke niederländische Mannschaft.
Was auffällt: Der nominelle Rechtsaußen ist, vor allem wenn Kuyt diese Position übernimmt, kein richtiger Flügelstürmer. Während sein Gegenüber (Robben) viel mehr an der Außenlinie klebt und versucht, sich für Eins-gegen-eins-Situationen zu isolieren, taucht der Rechtsaußen häufig andernorts auf und ist mehr ins "normale" Spielgeschehen" integriert.
Heißt: Er lässt sich regelmäßig auch als Anspielstation zurückfallen, rückt recht früh ins Halbfeld ein und dient auch als Wandspieler, der den Ball einfach nur mal prallen lässt. Gibt van Persie den Rechtsaußen, schleppt er den Ball ab und an auch mal Richtung Zentrum und öffnet dadurch in seinem Rücken Räume. Kuyt hingegen verzichtet in der Regel auf lange Ballbesitzzeiten.
Die unterschiedliche Interpretation des Flügelspiels auf links und rechts erzeugen in der gegnerischen Defensive ein Ungleichgewicht und machen es vor allem der Abwehrkette schwer, kompakt und geordnet zu verteidigen.
Zumal das niederländische Angriffsspiel häufig um eine weitere Facette ergänzt wird. Der Mittelstürmer gibt immer wieder seine Position im Sturmzentrum auf, lässt sich tief zurückfallen oder verschiebt nach außen und entzieht sich so dem Zugriff der Innenverteidiger, die dadurch für einen Moment blank und ohne direkten Bezugspunkt stehen.
Um das gleiche Spiel mit dem Außenverteidiger zu betreiben, macht sich der Rechtsaußen (v.a. Kuyt) auf den Weg in die Sturmmitte und besetzt das Zentrum. Die Folge/das Ziel: In der Abwehrreihe des Gegners muss in wenigen Momenten und auf mehreren Positionen entschieden werden: Wie weit folge ich dem niederländischen Stürmer? Wann übergebe ich an einen Mitspieler? Und was machen die restlichen Teile der Viererkette: hinterherschieben oder tief fallen lassen?
Trifft ein Glied der Viererkette die falsche Entscheidung, entstehen für die Elftal möglicherweise Räume zum Einlaufen und Lücken für das Passspiel.
Teil 4: Die Mehr-Ebenen-Verteidigung
Die Mehr-Ebenen-Verteidigung
Die Niederländer werden von vielen Kontrahenten vor allem aufgrund ihrer herausragenden Offensivqualitäten gefürchtet - und das seit Jahrzehnten. Das erfolgreiche Abschneiden unter van Marwijk hängt allerdings auch damit zusammen, dass der Bondscoach seiner Mannschaft ein passendes Defensivkonzept eingeimpft hat.
Maßgebend dafür sind die beiden Sechser und einige Grundsätze, die gelten, wenn der Gegner den Ball hat.
Nummer eins: Von der Qualität des Gegners und der Spielsituation hängt ab, ab welchem Abschnitt des Platzes der Gegner unter Druck gesetzt wird - mit einer Einschränkung: Spätestens 40 Meter vor dem eigenen Tor soll aktiv gestört werden.
Nummer zwei: Sobald der Gegner dort ist, wo man ihn bearbeiten will und kann, wird der ballführende Spieler von einem niederländischen Akteur sofort gestellt und so unter Druck gesetzt, dass er vom Tor weggetrieben wird.
Nummer drei: Jeder Niederländer, der gegen den ballführenden Spieler arbeitet und sich nach Abspiel teilweise für ein paar Sekunden auf Balljagd begibt, wird abgesichert, für den Fall, dass er überspielt wird. Das Motto lautet: Nicht wer einen Zweikampf verliert, macht den Fehler. Sondern derjenige, der den Zweikämpfer nicht absichert.
Ziel des Ganzen ist im Idealfall natürlich die Balleroberung. Klappt es damit nicht, soll der Gegner durch das niederländische Defensivverhalten gezwungen werden, die eigene Spieleröffnung immer wieder abzubrechen, damit dieser immer wieder neu anlaufen muss.
Im Spiel sieht das niederländische Defensivverhalten dann so aus: Aus dem 4-2-3-1 wird bei gegnerischem Ballbesitz schnell eine Art 4-1-3-1-1. Der ballnahe Sechser schiebt nach vorne und pendelt zwischen dem zweiten Sechser und der offensiven Mittelfeldreihe. Der andere Sechser hält den Platz vor der Abwehr und sichert ab.
Bewegt sich nun ein gegnerischer Stürmer in die Lücke, die der aufrückende niederländische Sechser hinterlassen hat, schiebt ein Abwehrspieler sofort hinterher, um dem Angreifer Druck zu machen, ihn weit vom Tor wegzuhalten und ihm nicht die Möglichkeit zum Aufdrehen zu geben. Wenn man so will, entsteht dann für einen Moment ein 3-2-4-1, ehe der niederländische Abwehrspieler wieder seinen Platz in der Viererkette einnimmt.
Durch dieses Verhalten kontrolliert die Elftal bei gegnerischem Ballbesitz viel mehr Ebenen, als wenn sich die Abwehrlinien geschlossen verschieben würden und macht es dem Gegner so extrem schwer, in den Raum zwischen Viererkette und defensivem Mittelfeld zu kommen.
Allerdings: Die Abläufe müssen bei diesem Verteidigungsverhalten gut aufeinander abgestimmt sein und die Automatismen greifen, sonst drohen vor allem im Abwehrzentrum gefährliche Lücken zu entstehen.
Die deutsche Nationalmannschaft nutzte diese Räume beim Testspielsieg im November 2011 vor allem beim 1:0 durch Thomas Müller perfekt aus (siehe Bilder).