Erik ten Hag ist seit Sommer U-23-Trainer des FC Bayern München. Der Nachfolger von Mehmet Scholl hat eine Mammutaufgabe zu bewältigen: Er soll den Aufstieg in die 3. Liga meistern, neue Talente zu den Profis führen und die Leitlinien des Konzepts implementieren. Im SPOX-Interview erzählt der Niederländer, wie das funktioniert. Zudem spricht der 43-Jährige über niederländische Problemkinder der Bundesliga, Joystick-Trainer Louis van Gaal und seine Zukunft beim FCB.
SPOX: Chelseas Eden Hazard hat mal erzählt, dass er schwer Livestreams aus Belgien findet, wenn er seinen Bruder Thorgan sehen will, der bei Zulte-Waregem spielt. Wie ist es bei Ihnen? Bekommen Sie Livestreams aus Holland, um Ihren Ex-Klub Deventer zu sehen?
Erik ten Hag: Ich kann Deventer jede Woche sehen. Ich habe zuhause "Fox", das ist so ähnlich wie "Sky" in Deutschland. Wenn ich will, kann ich alle Spiele aus Holland sehen. Auch aus der zweiten Liga.
SPOX: Sind Sie überrascht, wie gut Deventer in der Eredivisie mithält?
Ten Hag: Nein. Ich habe ja einen guten Kader zusammengestellt.
SPOX: Steckt also noch viel Erik ten Hag in den Go Ahead Eagles?
Ten Hag: Ich denke schon. Ich war ja nicht nur Trainer, sondern auch Sportdirektor. Ich war zuständig für die Zusammenstellung des Kaders. 90 Prozent der Mannschaft haben wir mit meinem Stab zusammengestellt. Ich bin nicht überrascht, weil die Mannschaft vorher schon Substanz hatte und wir dann noch drei, vier Spieler dazugekauft haben. Natürlich wird es mal Rückschläge geben, aber die Mannschaft ist zuhause schwer zu schlagen und auch auswärts schwer zu bespielen.
SPOX: In der Eredivisie geht es relativ eng zu. Eindhoven hat richtig Probleme in dieser Saison. Woher kommt diese Leistungsdichte?
Ten Hag: Ich habe in den letzten zwei Jahren festgestellt, dass das Niveau in der holländischen Liga gesunken ist. Viele junge talentierte Spieler haben zu schnell den Schritt ins Ausland gemacht. Das hat natürlich alles mit wirtschaftlichen Aspekten zu tun. Finanziell ergibt das Sinn, aber sportlich sind viele noch nicht so weit, um in besseren Ligen zu bestehen. In England, Spanien oder Deutschland ist das Tempo ungemein höher als in Holland.
SPOX: Deswegen hat wohl auch Luuk de Jong in Mönchengladbach diese Probleme.
Ten Hag: Ich wollte keine Namen nennen, aber es stimmt schon, dass er oder Bas Dost gute Beispiele sind: Sie sind sehr gute Spieler, große Talente, aber sie schaffen es momentan noch nicht, sich zu behaupten. Für ihre Entwicklung wäre es besser gewesen, in Holland zwei, drei Jahre weiter zu machen und dann erst zu wechseln, wenn sie soweit sind.
SPOX: Dienen diese Spieler als gutes Vorbild für Ihre U-23-Spieler bei Bayern, die lieber heute als morgen in der Bundesliga-Mannschaft spielen wollen?
Ten Hag: Ja. Junge Spieler sind oft gedanklich schon in der Bundesliga. Aber da ist ein anderes Niveau. Wenn du von Eins nach Zehn willst, kannst du die Schritte drei, vier, fünf, sechs nicht einfach weglassen. Du musst deine Karriere aufbauen. Wenn du alles zu schnell forcierst, kann das deine Karriere beeinflussen oder sogar beenden, bevor sie überhaupt angefangen hat.
SPOX: Welche Rolle spielen die Berater?
Ten Hag: Es gibt sehr gute Berater, aber es gibt auch solche, die so schnell wie möglich Geld verdienen wollen. Natürlich gibt es Toptalente, die einen schnellen Weg in die Bundesliga machen können. Julian Draxler ist so einer. Aber das ist eine Ausnahme. Ansonsten muss erst einmal eine Entwicklung stattfinden: Im Kopf, beim Tempo, in der Mentalität. Ich bin als Trainer auch ungeduldig, ich will heute schon Fortschritte sehen, aber man muss erst einmal einen Weg zurücklegen.
SPOX: Versteht das denn ein Spieler, dass er Schritt für Schritt gehen muss? Versteht ein Mitchell Weiser, der schon beim DFB für Furore gesorgt hat, dass er sich erst in der U 23 durchsetzen muss, um ganz oben landen zu können?
Ten Hag: Wir versuchen es. Es ist unsere Aufgabe, es den Spielern so zu verkaufen. Junge Spieler werden von so vielen Menschen aus ihrer Umgebung beeinflusst. Jeden Tag hören sie, wie gut sie sind. Dann kommt mal ein Trainer, der ein paar kritische Worte findet und das wird nicht immer angenommen. Wenn ein Spieler fertig ist, sollte er so schnell wie möglich ins Profigeschäft. Aber meine Erfahrung sagt, dass viele Geduld brauchen. Es gibt da ein gutes Beispiel...
SPOX: Wer?
Ten Hag: Memphis Depay von Eindhoven. Er hat schon vor drei Jahren geglaubt, dass er ein fertiger Spieler ist. Ich mag das auch, wenn ein Spieler wie er viel Selbstvertrauen hat und psychisch stark ist. Aber - um das nochmal zu wiederholen - man kann tief fallen. Memphis hatte Geduld und hat kürzlich für Hollands A-Nationalmannschaft debütiert.
SPOX: Sie haben beim FC Bayern nicht nur die Aufgabe, wieder Spieler an die erste Mannschaft heran-, sondern auch die U 23 in die 3. Liga zurückzuführen. Dazu kommen die Leitlinien des gesamten Jugendkonzepts. Wie kriegen Sie die drei Säulen unter einen Hut?
Ten Hag: Diese Dinge sind miteinander verbunden. So kann man die Konzentration auch auf diverse Schwerpunkte legen. Die Leitlinien sind vor allem strategischer Natur: Es geht um Spielsysteme, um die Philosophie, um Coaching und Begleitung. Das mache ich ja auch mit meiner Mannschaft und es ist die Aufgabe jedes Trainers im Klub, jeden Einzelnen besser zu machen. Wird der Einzelne besser, wird auch die Mannschaft besser. Wichtig ist aber auch, dass die Spieler schon von ganz unten die Bayern-Spielphilosophie kennenlernen und verinnerlichen, aber auch das, für was dieser Klub steht: Das Mia-san-mia.
SPOX: Was macht diese Spielphilosophie aus?
Ten Hag: Da geht es in erster Linie ums Agieren und Bestimmen. Es geht darum, der Chef auf dem Platz zu sein. Wir wollen gegen jeden Gegner das Spiel bestimmen. Wenn wir das integrieren, implementieren und kontrollieren, dann werden die Spieler besser. Wir brauchen ein Leistungsklima, damit die Spieler ihre Leistung abrufen können.
SPOX: Welche Schwerpunkte werden bei der Förderung gelegt? Ist es mehr Persönlichkeitsentwicklung oder mehr technische Ausbildung?
Ten Hag: Ich verwende immer wieder gerne einen Begriff: Bewusstsein. Die Talente des FC Bayern müssen einen Plan haben, wie man zum Sieg kommt. Sie müssen selbstständig diesen Plan ausführen können. Natürlich brauchen sie Spezialisten, Hilfesteller. Das sind wir Trainer, die mit den Spielern gemeinsam den Weg bestimmen und ihnen auch mal einen Spiegel vorhalten. Wo stehe ich? Wie ist mein Passspiel? Wie ist mein Kopfballspiel? Kann ich in 1-gegen-1-Situationen gehen? Kenne ich meine Aufgaben? Kann ich eine Mannschaft steuern? Wie kann ich das verbessern? Wenn sie das mal nicht wissen, sind wir Trainer da. Das machen wir täglich.
SPOX: Wie sehen Ihre bisherigen Beobachtungen aus?
Ten Hag: Nicht alle Spieler können bei den Bayern-Profis unterkommen. Aber viele meiner Spieler werden in der Bundesliga ankommen.
SPOX: Matthias Sammer ist ein großer Befürworter von Persönlichkeitskategorisierungen: Für ihn hat jede Mannschaft Teamspieler, Individualisten und Führungsspieler. Demnach kann beispielsweise ein Individualist keine Führungsspieleraufgaben übernehmen. Hat diese Kategorisierung auch schon bei Ihrer Mannschaft stattgefunden?
Ten Hag: Natürlich.
SPOX: Heißt, dass diese Spiele entsprechend "erzogen" werden?
Ten Hag: Ja, wobei ein Spieler, der in der Jugend Führungsspieler ist und zu den Profis aufsteigt, dort erst einmal eine andere Rolle annehmen muss. Da bist du erstmal ein Teamspieler.
SPOX: Die Persönlichkeitsentwicklung ist sehr in Mode. Kommt die Athletik manchmal nicht zu kurz? Von Ihnen stammt die These: Nur ein Top-Athlet kann sich behaupten.
Ten Hag: Ich mache nicht die Gesetze der Bundesliga. Das Niveau dort ist sehr eindeutig: Wer dort spielen will, muss Kriterien erfüllen und eine gewisse Substanz im körperlichen Bereich haben. Daher ist es auch ein Schwerpunkt unserer Ausbildung. Allerdings muss man da auch zwischen den Positionen unterscheiden.
SPOX: Das heißt, ein Außenbahnspieler wird anders angefasst als ein Innenverteidiger?
Ten Hag: Richtig. Ein Außenbahnspieler braucht Schnelligkeit, auch auf kurzen Strecken. Ein Sechser braucht weniger Schnelligkeit, sein Schwerpunkt ist mehr die Intelligenz, auch wenn er die körperlichen Voraussetzungen genauso erfüllen muss. Sonst wird er es nie schaffen.
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SPOX: Wie kann man sich das vorstellen, wenn Sie einen Spieler für tauglich erachten, um in die Profimannschaft aufsteigen? Rufen Sie Pep Guardiola an und empfehlen den Spieler?
Ten Hag: Natürlich schlage ich Spieler vor, die das Talent haben und Fortschritte machen. Aber das ist ein Rat, ich bestimme das nicht. Ich habe täglich Kontakt zu Herrmann Gerland, zu Michael Tarnat und zu Matthias Sammer und über Gerland oder Sammer zu Pep Guardiola und Domenec Torrent. Wir trainieren oft zusammen, Gerland, Sammer oder Tarnat sehen oft unsere Spiele und der Test ist immer das Spiel. Wir haben jede Woche ein Spiel, in dem die Spieler ihren Beitrag leisten können. Letztlich entscheidet aber der Profi-Stab, wer hochgezogen wird zu den Profis.
SPOX: Ein nicht unwichtiger Aspekt ist auch der Wille der Spieler: Gibt es mündige Spieler, die auch mal zu Ihnen kommen und sagen: "Trainer, was muss ich besser machen, um in die Bundesliga zu kommen?"
Ten Hag: Das kommt vor, aber ich erwarte noch mehr. Ich will noch mehr proaktive Spieler. Ich will Spieler, die sich Gedanken über Fußball machen, über Lösungen im Fußball. Über die eigene Position, aber auch über die Mannschaft. Das Problem hat immer die ganze Mannschaft. Der Spieler muss sich Gedanken machen, wie es die ganze Mannschaft lösen kann.
SPOX: Kurz gesagt: Ein Spieler soll mehr Entscheidungen treffen.
Ten Hag: Absolut. Die Entscheidung kann auch mal falsch sein, aber eine falsche Entscheidung ist besser als keine Entscheidung. Der Effekt einer falschen Entscheidung kann auch positiv sein. Die Spieler müssen Lösungen auf dem Platz finden und ich freue mich, wenn dann kreative Lösungen zusammen gefunden und ausgeführt werden.
SPOX: Shota Arveladze, langjähriger Stürmer, ehemaliger Co-Trainer von Louis van Gaal und inzwischen erfolgreicher Klub-Trainer in der Türkei, sagte neulich in einer TV-Sendung, van Gaal sei ein Joystick-Trainer gewesen. Also ein Trainer, der alles bestimmen will, was seine Spieler tun. Sie sind demnach kein Joystick-Trainer?
Ten Hag: Ich verstehe, was Arveladze meint. Das ist die Vision eines Trainers, wie er seinen Job macht. Dazu muss man sagen, dass Louis van Gaal überall auf der Welt damit Erfolg hatte. Ich weiß nicht, ob das als Kritik gemeint ist...
SPOX: Ein bisschen von beidem.
Ten Hag: Man kann von Louis van Gaal viel mitnehmen. Nochmal: Ich als Trainer will meinen Spielern etwas mehr Freiräume geben. Freiräume bedeuten aber auch, Verantwortung zu übernehmen. Beides kann man nie auseinanderhalten. Wenn ein Spieler keine Verantwortung übernimmt, bekommt er Probleme mit mir.
SPOX: Ihre Mannschaft hat wenige Probleme in der Regionalliga. Sie haben vor der Saison gesagt, dass es länger dauern könnte, bis sich der Erfolg einstellt. Der FC Bayern ist aber trotz der drei Niederlagen zuletzt immer noch Tabellenführer. Sind Sie überrascht?
Ten Hag: Das Ergebnis ist positiv, der Prozess ist auf einem guten Weg, aber wir haben noch viele Defizite. Wir hatten vor der Saison viele Verletzte oder Spieler, die keinen Urlaub hatten und schlecht belastbar waren. Es freut mich, dass Spieler, die ein Jahr durchgespielt haben, immer noch fit wirken oder sind. Aber es ist noch mehr drin.
SPOX: Wo genau sehen Sie Entwicklungspotenzial?
Ten Hag: Wir mussten anfangs das Entwicklungsklima verbessern. Damit ist das Bewusstsein gemeint, das ich angesprochen habe. Da kommen wir voran. Wir haben die Grundlage. Was es zu verbessern gilt, ist die Handlungsschnelligkeit.
SPOX: Die Winterpause rückt näher. Im Sommer hat Pep Guardiola viele Spieler ins Trainingslager nach Italien mitgenommen. Dürfen Sie Ihre Spieler jetzt behalten?
Ten Hag: Ich hoffe nicht. Ich hoffe, dass wieder viele mitfahren. Das ist auch die Philosophie des FC Bayern, dass Spieler die Möglichkeit bekommen, um an die Tür zur ersten Mannschaft zu klopfen. Ich glaube aber nicht, dass es so viele werden wie im Sommer. Damals haben bei den Profis viele Spieler gefehlt, die beim Confed Cup oder verletzt waren. Hoffentlich sind im Wintertrainingslager bei den Profis alle gesund. Der eine oder andere von meinen Spielern wird aber wohl dabei sein.
SPOX: Auch in Länderspielpausen trainieren Ihre Spieler gemeinsam mit Profis. Von Ihnen gibt es das Zitat: "Die Jungs können schön sehen, wie ein Contento den Ball spielt, mit welcher Wucht ein Kirchhoff aus der Distanz aufs Tor schießt." Das sind jetzt keine Spieler, die regelmäßig beim FC Bayern von Anfang an spielen. Sehen Sie in diesen Einheiten, die Sie oft mit Pep Guardiola gemeinsam leiten, wie groß die Unterschiede sind oder sehen Sie da eine gute Entwicklung?
Ten Hag: Die Rede ist von Bayern-Spielern, die in der Bundesliga gespielt haben. Jeder Verein in der Bundesliga würde sich wünschen, diese Spieler in seinem Kader zu haben. In jedem anderen Kader würden sie wahrscheinlich Stamm spielen. Aber es stimmt schon, dass ich dann auch mal sagen kann: Hier, dieses Defizit hast du noch im Unterschied zu den Profis und hier kannst du dich noch verbessern. Noch wichtiger ist aber, dass die Spieler das vor allem selbst sehen. Das ist die beste Kommunikation.
SPOX: Ein Spieler holt sich sein Feedback beim Trainer. Von wem holt sich ein Trainer das Feedback?
Ten Hag: Da gibt es viele Wege. Wir sprechen im Trainerstab, mit dem Vorstand. Vor allem aber ist es wichtig zu sehen, wie die Spieler auf dich als Trainer reagieren. Wenn man die Augen offen hält, bekommt man vom Spieler die Reaktion: gut oder schlecht.
SPOX: Sie sind mit 43 Jahren auch noch ein relativ junger Trainer. Wie sieht Ihr Karriereplan aus?
Ten Hag: Ich bin nicht auf der Jagd. Ich will jeden Tag mein Bestes geben. Ich muss mich jeden Tag verbessern und mich reflektieren: Was mache ich gut, was mache ich nicht gut? Aber ich will nichts forcieren: Was kommt, das kommt. Und momentan bin ich mit meiner Arbeit beim FC Bayern sehr zufrieden. Es macht mir sehr viel Spaß.
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